0003Ed H. Sie haben sich mehr als einmal mit mir der Fort-
0004schritte erfreut, welche das öffentliche Musikleben Oesterreichs in den
0005letzten zehn Jahren gemacht hat. Auch weiß ich Sie einverstanden,
0006wenn mein Essay über die Geschichte des Wiener Concertlebens (in
0007den drei letzten Bänden der „Oesterreichischen Revue“) das Jahr
0008Achtundvierzig als den Punkt bezeichnet, von welchem bei uns auch
0009im musikalischen Gemeinwesen eine neue Aera datirt. Wien hatte bei
0010all’ seinem Tonreichthum doch auch auf diesem Gebiet „vormärzliche“
0011Zustände, die zum großen Theil in dem allgemeinen Charakter unserer
0012damaligen Bildung, namentlich in der Isolirtheit derselben ihre Er-
0013klärung finden. Der Gedanke des geistigen Zusammengehens Oester-
0014eichs mit Deutschland, welcher in Wien die ganze Märzbewegung
0015durchdrang, machte sich sofort auch auf musikalischem Gebiete geltend.
0016Man wandte sich mit Heftigkeit von der allzulang bevorzugten ita-
0017lienischen Musik ab und der deutschen zu; man brach mit dem ein-
0018seitigen Cultus der Vergangenheit und öffnete den Fahnenträgern
0019der modernen Ideen die Pforten. Nachträglich beeilte man sich, von
0020den geistigen Processen Kenntniß zu nehmen, welche sich in Deutsch-
0021land auch in musikalischen Dingen vollzogen hatten. Auf Grund
0022dieser Anschauungen trachtete man, endlich das Concertwesen, welches
0023bei uns doch nur die zweite Rolle neben dem Theater gespielt, in
0024größerem Styl zu organisiren, zu befestigen und nach allen Dimen-
0025sionen zu erweitern. Die Keime von 1848 gingen allerdings nicht
0026so schnell auf, sehr allmälig folgte den revolutionirenden Ideen die
0027reformirende That. Die nächsten Jahre waren eine Periode mühsam
0028vorbereitenden, mitunter lästig zögernden Uebergangs. Allein in
0029stetigem Fortschritt traten nach einander die Errungenschaften unsers
0030Musiklebens hervor, auf deren Besitz wir jetzt stolz sind: die Reorga-
0031nisation des Conservatoriums und die glänzende Reform der „Ge-
0032sellschaftsconcerte,“ Hellmesberger’s Quartettsoiréen, die Wieder-
0033aufnahme der „Philharmonischen Concerte“, die neuen Pflegestätten
0034des Chorgesangs und der geistlichen Musik „Singverein“ und „Sing-
0035akademie“ etc. etc. Das sind Resultate, die nicht nur offen vorliegen,
0036sondern sich alljährlich immer wieder neu in Scene setzen.
0037Neben und nach diesen Errungenschaften ist auch die allerneueste
0038Zeit nicht unthätig stehen geblieben. Seit Kurzem sind wir im Be-
0039sitz einiger Einrichtungen, die allerdings nicht so augenfällig, sondern
0040mehr aus dem Hintergrund, aus zweiter Hand wirken, die aber trotz-
0041dem volle Beachtung verdienen. Der musikalische Geschichtschreiber
0042der Jahre 1862, 1863 und 1864 wird namentlich drei bleibende In-
0043stitutionen hervorheben, welche, verschieden in ihrer Tendenz und
0044Tragweite, doch Merksteine unserer künstlerischen Entwicklung bilden:
0045die Gründung einer kaiserlichen Opernschule, die Einführung der
0046Normalstimmung und die Systemisirung jährlicher Künstler-
0047stipendien. Eine vierte neue Einrichtung pädagogischer Tendenz
0048dürfte in Kurzem hinzutreten: die Einführung musikalischer
0049Prüfungscommissionen für Inhaber öffentlicher Musikschulen
0050und Musiklehrer an Staatslehranstalten.
0051Ich sehe Sie bedenklich lächeln, indem ich mit unserer „Opern-
0052schule“ anhebe und diese geheimnißvolle Sphynx in die Reihe unserer
0053„Errungenschaften“ rücke. In Wahrheit kann ich mich so wenig als
0054Sie rühmen, Resultate der „Opernschule“ gesehen zu haben. Die
0055gegenwärtige Einrichtung und Leitung derselben flößt mir wenig Ver-
0056trauen ein. Dies Institut wird unter den obwaltenden Verhältnissen
0057vielleicht für lange Zeit nicht dasjenige leisten, was man davon
0058gewünscht und gehofft. Allein die Thatsache, daß wir eine von
0059Privatinteressen unabhängige kaiserliche Opernschule besitzen, bleibt bei
0060alledem erheblich genug. Sie ganz zu würdigen, muß man sich erin-
0061nern, wie lange wir ein Institut der Art herbeigesehnt und wie drin-
0062gend die ersten Dramaturgen Deutschlands für die Errichtung von
0063Theaterschulen geschrieben und — vergebens geschrieben haben.
0064Als Eduard Devrient im Jahre 1839 das Pariser
0065Conservatorium besichtigte, hatte er Gelegenheit, auch dem Unterricht
0066der obersten Classe „für dramatischen Gesang“ beizuwohnen. Er fand
0067in einem großen Saal ein allerliebstes Theater hergerichtet, auf wel-
0068chem die Eleven unter der Leitung der berühmten Sänger Nourrit
0069und Derivis ihre Uebungen hielten. „Wie glücklich“, ruft er aus,
0070„sind diese jungen Talente in Frankreich, daß ihnen eine solche Gele-
0071genheit zur Vorbereitung für die schwere Kunst der Bühne geboten
0072wird! In ganz Deutschland müssen die jungen Leute durch Errathen,
0073Versuche und gelegentliches Ablernen bei erfahrenen Künstlern das in
0074vielen Jahren zu erlernen suchen, was dem Begünstigten hier in
0075einem Halbjahre beizubringen ist.“ Dieser Klageruf des berühmten
0076Dramaturgen fiel uns lebhaft ein, als die erste Kunde von unserer
0077„Opernschule“ wie eine rettende Verheißung auftauchte. Allerdings
0078nur für die Oper. In einem vollständigen Institut soll die Opern-
0079schule nur eine eigene Classe bilden; diese Stellung ist ihr auch in
0080Paris angewiesen, wo die Theaterschule mit dem Conservatorium ver-
0081bunden ist. An die Großartigkeit des Pariser Instituts darf man
0082nicht denken, wenn von der Wiener Opernschule die Rede ist.
0083Das Pariser Conservatorium, bekanntlich eine großartige Schö-
0084pfung der Revolution, besitzt ein weitläufiges, für 500 Zöglinge ein-
0085gerichtetes Gebäude. Bis zur Juli-Revolution, nach welcher erhebliche
0086Einschränkungen eintraten, ertheilten 72 Professoren den Unterricht
0087in ebenso viel Classen, deren keine mehr als 8 Zöglinge enthalten
0088durfte. Die Eleven für die Bühne werden in 4 Classen unterrichtet,
0089nur eine davon ist der Ausbildung der Operisten gewidmet. Jeder
0090der 3 Professoren für das recitirende Drama hat wöchentlich zweimal
0091eine zweistündige Lection zu ertheilen, daher findet an jedem Tag
0092Unterricht statt und sämmtliche Schauspiel-Eleven (auch die [2]
0093Operisten) müssen täglich dem Unterricht beiwohnen, um so auch von
0094denjenigen Professoren zu lernen, denen sie nicht zur eigentlichen
0095Unterweisung zugetheilt sind. Diese Professoren sind (oder waren) die
0096erprobtesten, gebildetsten Künstler vom Théâtre français und der
0097Großen Oper. Eine Theaterschule von solcher Vollständigkeit war in
0098Wien durchaus nicht beabsichtigt. Ja, man schien jeder Rücksicht auf
0099das recitirende Drama absichtlich aus dem Wege zu gehen, wie schon
0100aus der Thatsache hervorleuchtet, daß eine dramaturgische Autorität,
0101wie Laube, die Errichtung der Hofopernschule erst durch die Zeitun-
0102gen erfahren haben soll. Die Entbehrung des vollständigen Ganzen
0103soll uns deshalb nicht ungerecht machen gegen das nützliche Fragment.
0104Stellen wir uns auf den praktischen Standpunkt der Hofopern-
0105direction und gestehen, daß die Sorge für die Zukunft ihrer Bühne
0106ihr vorderhand als die dringendste erscheinen mußte. Die Klage über
0107den zunehmenden Verfall des deutschen Opernwesens, namentlich der
0108Gesangskräfte, ist eine allgemeine und begründete. Und doch möchte
0109man leidenschaftlichen Tadlern oft antworten, wie jener Theaterhabitué,
0110der auf die herausfordernde Frage: „Und wie gefällt denn Ihnen un-
0111sere jetzige miserable Oper?“ erwiderte: „Besser als im nächsten
0112Jahr!“ Der Gedanke, durch eine planmäßige Vorsorge die nächste
0113Zukunft des Operntheaters dem bloßen Zufall zu entreißen, liegt nahe
0114genug. Wir sehen die Himmelsgabe schöner Stimmen selten werden,
0115und noch seltener deren vollendete Ausbildung. „Unsere heutigen
0116Sängerinnen haben meistens mit 30 Jahren keine Stimme mehr,“
0117hörte ich einmal in London Jenny Lind äußern, — „das ist die
0118Schuld mangelhafter und verkehrter Schulung. Die schönsten Stim-
0119men gehen durch Verwahrlosung zu Grunde. Ich singe noch mit
0120Leichtigkeit,“ fügte sie nach einer Pause hinzu, „und hatte doch nie-
0121mals viel Stimme.“
0122Durch ein eigenes Institut für’s Erste schöne Stimmen zur
0123Oper heranzulocken, sodann sie methodisch für die Bühne auszubilden,
0124und drittens durch die Wohlthat dieser Ausbildung ein natürliches
0125Vorrecht auf ihre dauernde Verwendung zu erwerben — das mochten
0126die leitenden Gesichtspunkte bei der Gründung der Hofopernschule
0127sein. Die innere Organisation dieses Institutes, das in Oesterreich
0128nur an dem Mailänder Conservatorium eine Analogie besaß, blieb, so
0129interessant sie jedem Theaterfreund sein mußte, in eigenthümliches
0130Halbdunkel gehüllt. Blos die Grundzüge wurden veröffentlicht, vieles
0131Andere konnte nur in der Theaterkanzlei eingesehen werden, während
0132doch in Allem und Jedem die größte Publicität angezeigt war. Die
0133Hauptbestimmungen (wenn sie nicht seither wieder verändert wurden),
0134sind, soweit sie uns hier interessiren, folgende: Die k. k. Hofopern-
0135schule ist eine „vom Theater vollständig unabhängige“ (?) Hofanstalt,
0136unter der Oberleitung des Oberstkämmerer-Amtes. Sie hat für die
0137Heranbildung eines „kräftigen Nachwuchses an Gesangskünstlern“ für
0138das Hofoperntheater zu sorgen. Die Mädchen und Jünglinge, welche
0139sich der Oper zuwenden wollen, werden (nicht über 30 an der Zahl)
0140nach einer Aufnahmsprüfung in den „niederen Curs“ eingereiht,
0141welcher drei Jahrgänge umfaßt. Diejenigen Eleven, deren Fleiß und
0142Talent nach Ablauf dieser Zeit zu höhern Erwartungen berechtigt,
0143treten ein in die eigentlichen Ausbildungsclassen, den fünf Jahre um-
0144fassenden „höhern Curs“. Für diese Zeit von acht Jahren muß
0145jeder Eintretende sich verpflichten. Er erhält unentgeltlichen Unterricht
0146im Gesang, Clavierspiel, den Anfangsgründen des Generalbaßes, in
0147Mimik und Declamation. In den ersten Jahren haben die Eleven
0148nur ihrer Ausbildung obzuliegen und beziehen keinerlei Remuneration.
0149„Vom vierten Jahrgang an,“ werden sie im Chor oder in kleinen
0150Rollen nach dem Maß ihrer Eignung bei den Opernvorstellungen
0151verwendet und beziehen dafür Remunerationen, welche Anfangs zwi-
0152schen 25 und 60 fl., in den letzten Jahren zwischen 150 und 120 fl.
0153monatlich betragen. Die Zöglinge, — welche ein förmliches Decret
0154als „Eleven der k. k. Hofopernschule“ erhalten, — dürfen ohne Zu-
0155stimmung bei keinerlei öffentlichen Productionen mitwirken, sich außer
0156den (einmonatlichen) Ferien von Wien nicht entfernen und vor Ab-
0157lauf der acht Jahre kein Engagement eingehen.
0158Das wichtigste Bedenken gegen diese Bestimmungen, betrifft die
0159Verwendung der Eleven im Theaterchor. Diese Verwendung ist that-
0160sächlich noch in weit größerem als dem statutenmäßigen Umfang vor-
0161genommen worden; die Eleven wurden nicht erst im vierten, sondern
0162bereits im ersten Jahrgang der Opernschule auf das Ausgiebigste im
0163Opernchor verwendet. Offenbach’s „Rheinnixe“ und die zweimonatliche
0164italienische Saison haben die Eleven bedenklich in Athem erhalten:
0165den ganzen Winter und Frühling hindurch war das Auswendiglernen
0166nichtsnutziger Chöre fast der einzige Lehrstoff, Theaterproben und Vor-
0167stellungen die überwiegende Beschäftigung der Eleven. Am Schluß
0168der italienischen Saison habe ich mich ausführlich über diesen Punkt
0169und die falsche Richtung, in welche die Opernschule damit geräth,
0170ausgesprochen und kann nur wiederholen, daß dieses Institut zu etwas
0171ganz anderem bestimmt war und bestimmt ist, als zu einer Wind-
0172lade, welche lediglich unsern athemlosen Theaterchor mit Luft zu
0173speisen hat. Im Detail hat die Organisation ihre guten und bedenk-
0174lichen Seiten. In der Hauptsache wird — (von der oben gerügten
0175Verwendung abgesehen) — das Gedeihen der Opernschule, wie aller
0176ähnlichen Institute, wesentlich von den leitenden und lehrenden Per-
0177sönlichkeiten abhängen. Die künstlerische Richtung und wissenschaft-
0178liche Bildung des Directors der Opernschule sind hiebei um so
0179wichtigere Erfordernisse, als er statutenmäßig den Lehrgang und die
0180Methode bestimmt, so daß die einzelnen Fachlehrer pädagogisch und
0181ästhetisch nicht selbständig sind. Was wieder diese Lehrer betrifft,
0182so hat uns das Beispiel Frankreichs gezeigt, daß man sie dort für
0183wichtig genug hält, um sie aus den ersten dramatischen Künstlern
0184der Pariser Bühnen zu wählen. In welchem Maße die leitenden und
0185lehrenden Kräfte an unserer Hofopernschule ihrer Aufgabe gewachsen
0186sind, werden wol in nicht allzulanger Zeit die Resultate dieses In-
0187stitutes darthun. Wir wollen nicht verzagen, wenn gegenwärtig
0188manche Stelle mittelmäßig besetzt erscheint: die Persönlichkeiten wech-
0189seln, das Institut bleibt. Und diese, die Opernschule, wie sie sein
0190kann und soll, ist immerhin eine Thatsache, die der Musikhistoriker
0191unter den Wiener Kunst-Errungenschaften dieses Decenniums auf-
0192zählen wird.