Geschichte von „Hanslick im Kontext“

Alexander Wilfing, 2023

„Hanslick im Kontext“ ist ein Langzeitprojekt, das Christoph Landerer und Alexander Wilfing seit 2014 im Rahmen von mehreren einzelnen Projekten an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften durchführen, ursprünglich am Institut für kunst- und musikhistorische Forschungen (2014–2019), seit 2020 am Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage, Department of Musicology (ACDH-CH). Im Zentrum unserer Forschung stehen hierbei Hanslicks geschichtlich bedeutender Ästhetiktraktat Vom Musikalisch-Schönen: Ein Beitrag zur Revision der Aesthetik der Tonkunst (Leipzig: Rudolph Weigel, 1854) – der bis 1902 in 10 von Hanslick edierten Auflagen erschien –, Hanslicks Tätigkeit als Musikkritiker, sowie seine Professur für „Geschichte und Aesthetik der Tonkunst“ in Wien, die früheste derartige Position im deutschen Sprachraum. Landerer befasst sich seit etwa 1990 immer wieder mit Hanslicks Ästhetik: Seine erste diesbezügliche Untersuchung „Bernard Bolzano, Eduard Hanslick und die Geschichte des musikästhetischen Objektivismus“ wurde bereits 1993 in Kriterion (Nr. 5 und Nr. 6) veröffentlicht und ein Schrödinger-Stipendium (J-1995 / J2161) hat ihn 2001–2003 mit dem Projekt „Eduard Hanslick’s Musical Aesthetics in the Context of Austrian Intellectual History“ an die University of Toronto zu Geoffrey Payzant gebracht, der Vom Musikalisch-Schönen im Jahr 1986 als On the Musically Beautiful ins Englische übersetzt hatte. Wilfing forscht seit seiner Dissertation Eduard Hanslicks Rezeption im englischen Sprachraum (2016), die 2019 als Re-Reading Hanslick’s Aesthetics erschien, zu Hanslick sowie dessen Wirkung auf diverseste disziplinäre Diskurse von der Musikwissenschaft und Musikphilosophie bis zur Musikpsychologie, Literaturtheorie, Kunstgeschichte und Musikkritik. Von 2021 bis 2023 leitete er zudem das Projekt Creating an Academic Discipline: Eduard Hanslick, Guido Adler, and the Establishment of Musicological Methodology in 19th-Century Vienna (Erwin-Schrödinger-Fellowship des FWF, J4529) – durchgeführt am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik (Frankfurt a.M.), der Masarykova Univerzita (Brno) und dem ACDH-CH –, das sich auch Hanslicks Professur widmete, und analysiert neuerdings verstärkt Hanslicks kritische Schriften. „Hanslick im Kontext“, das die historischen Hintergründe von Hanslicks Tätigkeit als Musikästhetiker, Musikrezensent und Musikwissenschaftler zum Thema hat, besteht – Stand 2023 – aus den folgenden zeitlich befristeten Projekten, die Landerer und Wilfing bei verschiedenen Fördergebern eingeworben haben:

Programm der Tagung „Hanslick im Kontext“, Foto von Franz Pflügl; mit Genehmigung
                     der Universität Wien Programm der Tagung „Hanslick im Kontext“, Foto von Franz Pflügl; mit Genehmigung der Universität Wien
Collage von Bildern von Bolzano, Hegel, Herbart und Kant (Wikipedia Creative Commons) Collage von Bildern von Bolzano, Hegel, Herbart und Kant (Wikipedia Creative Commons)

Das Projekt „Hanslick im Kontext“, das den Grundstein für spätere Arbeiten bildete, zielte auf die kritische Analyse der „eklektischen“ intellektuellen Hintergründe von Hanslicks Ästhetik, deren genetische Faktoren übergreifend erschlossen wurden. Im Zentrum stand dabei für uns die Erfassung von Hanslicks Methodik der punktuellen Vermischung verschiedenster philosophischer Diskurse und die Identifikation der von ihm benutzten Textquellen, wodurch eine stabilere Grundlage für die moderne Hanslick-Forschung geschaffen werden sollte, die die historischen Hintergründe von Vom Musikalisch-Schönen äußerst disparat beurteilt. In einem ersten Schritt haben wir uns mit den zahlreichen ästhetischen Positionen des neunzehnten Jahrhunderts genauer befasst, deren jeweilige Relevanz für Hanslicks Theoreme bisher separat erforscht wurde. Angesichts unserer Hypothese, dass Hanslick im Grunde keiner einheitlichen Hauptströmung zuzuordnen ist und sein Werk einen quasi hybriden Charakter hat, wurden die Quellen seiner Thesen und Methode breit gefächert analysiert. Neben den in der Hanslick-Forschung prominenten Philosophen – z.B. Bolzano, Hegel, Herbart, Kant, Vischer und Zimmermann – wurden deshalb auch weniger bekannte Gestalten wie Gutt, Hand, Michaelis, Nägeli und Weisse in die diskursive Formation integriert. Es wurden zudem die Parameter der Habsburgischen Bildungspolitik sowie deren Einfluss auf Hanslicks Methodik erschlossen, der Vom Musikalisch-Schönen in engem Kontakt mit dem Unterrichtsministerium von Graf von Thun und Hohenstein verfasste sowie von dessen empirisch-formaler Ausrichtung geprägt wurde. Neben Hanslicks Kontakten mit tragenden Personen der Thun’schen Reformen wurde zudem die genetische Dimension seiner Abhandlung untersucht. Dies betraf neben inhaltlichen Elementen auch methodologische Themenkomplexe, z.B. Hanslicks juristische Ausbildung und die wissenschaftstheoretische Ausrichtung Österreichs. Hiermit konnten wir geistesgeschichtliche Forschungsansätze mit aktuellen Strömungen bezüglich einer generelleren historischen Kontextualisierung von Hanslicks Vom Musikalisch-Schönen koppeln und zeigen, wie der Genesekontext dessen intellektuelle Hintergründe erhellt. Unser Projekt machte deutlich, wie die Verbindung von philosophischer Orientierung, ästhetischen Traditionen, institutionell-politischen Faktoren und persönlichen Beziehungen auf Hanslicks ästhetische Annahmen wirkten, welche nicht zufällig im Wien nach 1848 reifen sollten. Nur vor diesem Hintergrund können die Eigenheiten einer Methodologie gefasst werden, die die eindeutige Zuordnung ihrer Grundlagen verweigert und die im heterogenen Spannungsfeld von philosophischen, szientifischen, ästhetischen, politischen und juristischen Diskursen heranreifte.

Das Projekt „Studies in the Genesis of Hanslick’s Vom Musikalisch-Schönen” setzte diese Arbeiten fort und erweiterte die früheren Analysen um die Dimension der historischen Entwicklung des Texts, die nun systematisch aufgeschlüsselt wurden. Vom Musikalisch-Schönen wurde nun als dynamisches Textkorpus betrachtet, das Aussagen über „die“ Ästhetik Eduard Hanslicks nur auf Grundlage von genetischen Detailstudien ermöglicht. Diese historisch-genetische Dimension des Texts ist mit Blick auf die Entwicklung der Abhandlung aus Vorveröffentlichungen der Jahre 1853 und 1854 (Kapitel 4, 5 und 6), die chronologische Entstehungsfolge und logische Ordnung der sieben Kapitel, und die wesentlichen Änderungen bei den auch rezeptiv wichtigen Neuauflagen von 1858 (2. Auflage) und 1865 (3. Auflage) eingehend analysiert worden. Vom Musikalisch-Schönen erscheint somit weder als „aphoristische“ Textsammlung, noch als eine gezielt lineare Abhandlung, sondern als Text mit komplizierter argumentativer Tiefenstruktur, die nur mit genetischen Spezialanalysen erschlossen werden konnte. Die chronologische und logische Prüfung ergab dabei eine überraschende Kapitelabfolge, die dem eigentlichen Textaufbau widerspricht (6, 4, 5, 1, 2, 3, 7). Diese textliche Problematik wurde mit der fortgesetzten Untersuchung von relevanten Kontexten verbunden, die die entsprechenden Textänderungen und die fortlaufende Anpassung von Hanslicks Argumenten maßbeglich beeinflussten. Unser Fokus galt hier den politischen Kontexten und der institutionellen Anbindung Hanslicks, die vor allem für dessen Karriereplanung zweifelsfrei entscheidend waren. Neben dieser textuellen und kontextuellen Untersuchung wurden ebenso empirische Dokumente einbezogen (Briefe, Akten etc.), die eine zusätzliche methodische Dimension eröffneten und die erreichten Ergebnisse abstützten. Ergänzt wurden diese spärlichen Dokumente weiters durch eine genaue Analyse der persönlichen Beziehungen zu zentralen Ästhetikern des neunzehnten Jahrhunderts (z.B. Robert Zimmermann) und der vorstehend erwähnten politischen Gesamtsituation im Wiener Kontext, wobei Hanslicks Tätigkeit am positivistisch ausgerichteten Bildungsministerium unter Graf Thun von uns als besonders relevant bestimmt wurde. Derartige Kontexte erhellten ebenfalls wesentliche Änderungen der zweiten Auflage von Vom Musikalisch-Schönen, die romantische Implikationen zurücknimmt und nun stärker formal ausfällt.

Das spätere sechste Kapitel, „Die Tonkunst in ihren Beziehungen zur Natur” Das spätere sechste Kapitel, „Die Tonkunst in ihren Beziehungen zur Natur”
Auflage 1 (1854) und Auflage 10 (1902) von Vom Musikalisch-Schönen Auflage 1 (1854) und Auflage 10 (1902) von Vom Musikalisch-Schönen

Das Projekt „Eduard Hanslick’s Vom Musikalisch-Schönen: An Analysis of the Dynamic Features of the Text and Its Contexts“ schloss an unsere Betrachtung von Hanslicks ästhetischer Abhandlung als dynamisches Textkorpus an, wobei unsere betreffende Untersuchung wesentlich ausgeweitet wurde. Der Zeitraum der Analysen erstreckte sich nun auf die Jahre 1848 bis 1902 und erfasste hiermit auch alle zehn Auflagen von Vom Musikalisch-Schönen, die zu Hanslicks Lebzeiten von ihm ediert wurden, sowie die Entwicklung seiner Argumente in Vorstudien, und Thesen zum Thema seiner ästhetischen Abhandlung in Kritiken und sonstigen Textformen. Dieser merklichen Ausweitung des Zeitrahmens unserer Untersuchung entsprach ebenfalls ein neu entwickeltes und wesentlich umfassender angelegtes Verständnis der zentralen Kontexte. Wir unterschieden nun zwischen den theoretischen Kontexten von Vom Musikalisch-Schönen sowie ihren Entwicklungsstufen (im weitesten Wortsinne wesentliche theoretische Diskurse mit den Kernbereichen Philosophie, Wissenschaft, Musiktheorie) und den praktischen Kontexten (politische Umgebung, institutionelle Einbindung, persönliche Netzwerke). Theoretische Kontextfelder wurden sowohl auf intradiskursiver Ebene (Entwicklung der jeweiligen diskursiven Einzelfelder) als auch auf interdiskursiver Ebene (Interaktion der diskursiven Felder untereinander) detailliert untersucht. Die konkreten Analysen umfassten 3 Bereiche: (a) Die historische Entwicklung von Hanslicks Argumenten von ca. 1848 bis zur ersten Auflage von 1854, (b) Aufbau und Genese der Argumente innerhalb des Texts der ersten Auflage sowie primär die textliche Evolution von zentralen Begriffen im Rahmen der Kapitel und (c) Hanslicks Variation von wesentlichen Argumenten in späteren Auflagen, bis zur 10. Auflage von 1902. Damit sollte zudem ein statisches Verständnis von Hanslicks Ästhetik durch eine dynamische Interpretation ersetzt werden, welche deutlich machen konnte, wie sich elementare Referenzen, Konzepte und Begriffe mit der spezifischen Perspektive von Hanslicks Auflagen kontinuierlich transformieren. Diese „Dynamisierung“ von Vom Musikalisch-Schönen lieferte einen wichtigen Beitrag zum genaueren Verständnis dieser wesentlichen ästhetischen Abhandlung, deren weiter anhaltende Rezeption meist nicht sieht, wie die dynamischen Eigenschaften von Text(en) und Kontext die inhaltliche Auslegung von Hanslicks Hypothesen nachhaltig beeinflusst.

Das Projekt „Eduard Hanslick’s Criticism Between Aesthetics, Journalism, and Scholarship“ verlegt den Schwerpunkt unserer Forschungen nun auf Hanslicks Musikkritk, ohne aber den Fokus auf textanalytische Fragestellungen zu vernachlässigen. Während die Literatur bisher vor allem Hanslicks Ästhetik analysiert, ausgelegt und im Kontext seines Zeitalters verortet hat, erforscht das aktuelle Projekt die Relation zwischen den unterschiedlichen Schriftgattungen, die bis heute unklar bleibt. Wenn etwa in Vom Musikalisch-Schönen der Zusammenhang von Musik und Gefühl aus ästhetischer Perspektive angezweifelt wird, sind Hanslicks kritische Arbeiten von expressiven Metaphern durchsetzt, die auf den ersten Blick mit den Maximen seines Traktats in Konflikt stehen. Andere vermeintliche Diskrepanzen können daraus erklärt werden, dass Hanslicks Tätigkeit als Kritiker ca. sechzig Jahre umfasst (1844–1904) und sich über die Dekaden dynamisch entwickelte, während seine Ästhetik – die von ihm in späteren Auflagen meistens nur geringfügig überarbeitet wurde – relativ statisch blieb. Das Projekt lotet somit die Dynamik dieser Prozesse aus und analysiert, inwiefern Hanslicks kritische Arbeiten mit Vom Musikalisch-Schönen vereinbar sind, ob man von Widersprüchen sprechen muss oder spätere Texte nicht sogar als Verfeinerung seiner Ästhetik gelesen werden können, die wesentliche Thematiken wie die Performativität von Musik nicht ausreichend theoretisiert. In diesem Kontext werden ebenso Hanslicks Kriterien für die Auswahl und Edition seiner Artikel für die (teils stark geänderten) Fassungen der Anthologien rekonstruiert und danach gefragt, was uns dies über Verschiebungen in Hanslicks Ansichten verraten könnte. Da er diese Bände als lebendige Geschichte der Wiener Musik auffasste, werden diese zudem mit Hanslicks Konzeption von Wissenschaft quergelesen. Dieser Ansatz wird dann auch auf die von Hanslick genutzte konkrete Sprache (Ausdruck, Vergleiche, Metaphern, etc.) ausgeweitet, was das Projekt für die Analyse von kulturellen, politischen und allgemeinen historischen Kontexte öffnet, welche in einem Folgeprojekt ins Zentrum der Arbeiten rücken sollen. Die textliche Analyse basiert hierbei auf der digitalen Edition von Vom Musikalisch-Schönen (2023) und der Transkription und TEI-Annotation von Hanslicks Schriften für die Neue Freie Presse (1864–1904) sowie seiner 12 Anthologien, welche in einem laufenden Verfahren online gestellt werden.

Eduard Hanslick und Richard Wagner, Schattenbild von Otto Böhler; mit Genehmigung der Österreichischen Nationalbibliothek Eduard Hanslick und Richard Wagner, Schattenbild von Otto Böhler; mit Genehmigung der Österreichischen Nationalbibliothek