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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 41. Wien, Dienstag den 11. October 1864

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Hofoperntheater.

(„Waldfräulein,“ Ballet von Pallerini)


0003Ed. H. Wenn man in Zedlitz’ „Waldfräulein“ sich etwa tau-
0004send Verse tief hineingelesen und mit Herrn Aechter v. Möspelbrunn
0005das erste Dutzend „Versuchungen“ bestanden hat, gelangt man an ein
0006mondbeglänztes, lauschiges Plätzchen, allwo Waldfräulein lieblich aus-
0007gestreckt liegt und schläft. Vor ihr steht in Anschauen versunken ein
0008junger „Einsiedel,“ der entzückte Betrachtungen darüber anstellt,
0009„wie zierlich doch des Herren Gnade /
0010geformt hat dieser Jungfrau Wade!“ /


0011Dieser Vers muß es gewesen sein, der mit der Kraft eines
0012Stichworts Herrn Pallerini bei der Lectüre erfaßte und ihm die
0013Idee einer Verballetirung „Waldfräuleins“ aufdrang. Denn von dem
0014Stimmungszauber, der Waldespoesie, von den sinnigen Gedanken
0015und süßen Empfindungen des Zedlitz’schen Märchens finden wir in
0016Herrn Pallerini’s Ballet gar nichts wieder; „des Herren Gnade“ hat
0017sich darin ausschließlich auf obigen Reim zurückgezogen.


0018In unserem zweifelhaften Berufe als Balletreferent wagten
0019wir einigemal die Meinung auszusprechen, es wären aus dem Schacht
0020der Volksmärchen noch köstliche Balletstoffe zu holen. Nur müßte der
0021Balletmeister mehr als ein geschulter Handwerker, er müßte ein Stück-
0022chen „Tanzpoet“ sein. Ein solcher hätte aus Zedlitz’ Waldfräulein 
0023ohne Zweifel eine Reihe anmuthigster Situationen gewonnen. Unser
0024Bearbeiter hat vielmehr das entgegengesetzte Talent, nämlich eine
0025erstaunliche Fähigkeit bewiesen, dem Gedicht allen poetischen Duft
0026vollständig auszutreiben. Die Charaktere und Situationen sind sämmt-
0027lich zur gewöhnlichsten Balletschablone verallgemeint, die eigentlich
0028choreographische Erfindung ist bettelarm, unter den Tänzen und
0029Gruppen nicht das mindeste Neue oder Malerisch-Effectvolle. Mit
0030dem dramatischen Theil hat es noch schlimmere Wege. Gleich das
0031lange „Vorspiel in zwei Bildern“ dünkt uns eine unglückliche Idee.
0032Die halbfürstliche Abkunft Waldfräuleins mag immerhin wichtig ge-
0033nug sein, um eine glänzende Ueberraschungs- und Erkennungsscene
0034am Schluß des Ballets zu motiviren. Allein mehr bedarf der Zu-
0035schauer nicht, zum wenigsten, daß er in einem eigenen Vorspiel
0036Waldfräuleins Eltern und deren ganze Liebesgeschichte persönlich ken-
0037nen lerne und bei dem kleinen Kind förmlich Gevatter stehe. Auch
0038Käthchen von Heilbronn entpuppt sich schließlich als Kaiserstochter, 
0039aber welchem Bearbeiter würde es einfallen, uns die ganze Geschichte
0040ihrer Herkunft als Vorspiel zu credenzen?


0041Ein Uebelstand, der aus dieser fatalen Doppelgeschichte fließt,
0042ist, daß dieselbe Darstellerin, welche im Vorspiel als unglückliche
0043Mutter mit dem Kind an der Hand erscheint, in den folgenden Acten
0044ihre eigene Tochter geben muß. Der Vorhang geht nach den hiezu
0045erforderlichen 15 Jahren in die Höhe, wir sollen nun das erwachsene
0046Waldfräulein“ in ihrem grünen Versteck belauschen.
0047„O Spessart, edler Forst, du bist /
0048Der Wälder Preis zu jeder Frist!“ /
0049recitiren wir, gleichsam innerlich präludirend. Welche Enttäuschung!
0050Das der Spessart? Das ein Waldfräulein? Eine gezierte „Ideal-
0051landschaft“ wie nach einem schlechten Watteau auf Porcelan gemalt,
0052flimmert in Gold und Rosa vor uns, der Ausblick auf eine heitere
0053(aber gar nicht waldmäßige) Fernsicht wird uns durch häßliche riesen-
0054große Pfauenfedern verhüllt, welche den Vordergrund bedachen.
0055Der „Spessart,“ ist förmlich parfümirt und frisirt. „Waldfräulein“
0056erscheint: bin weder Fräulein, weder Wald.


0057Fräulein Couqui spielt diese Rolle so anmuthig, fein und
0058virtuos, wie jede andere, aber leider in keinem Punkte anders.
0059Etwas in Maske, Mimik und Tanz schärfer Individualisirendes, die
0060reizende Wildheit dieses Naturkindes besonders Charakterisirendes
0061konnten wir nicht wahrnehmen. Waldfräulein spielt mit ihren Nixen
0062„blinde Kuh,“ — was man, beiläufig gesagt, selbst sein müßte, um
0063die in gelben Tunicas, rothen Schärpen und breiten Lorbeerkränzen
0064herumspringenden Herren vom Ballet ruhig anzusehen, — mitten im
0065Spiele erscheint der langerwartete Märchenprinz, „Herr Aechter von
0066Möspelbrunn.“ Er beginnt mit „Waldfräulein“ sofort ein sehr künst-
0067liches Pas de deux, in Gegenwart des ganzen sich ringsum postiren-
0068den Balletcorps! Haben wir zu viel gesagt, wenn wir Herrn Pallerini 
0069eine specifische Poesie-Auspumpungskraft nachrühmten?


0070Der dritte Act bringt uns in Caprus’ Hütte. Wir hofften
0071viel Gutes von dem Erscheinen des wackern Ziegenhirten; allein auch
0072er vermochte keine rechte Heiterkeit zu erzeugen, sondern drehte sich
0073selbst mißvergnügt im Kreise alltäglicher Komik. Mit großer Ge-
0074müthsruhe sehen wir ihn gegen „Grauweiblein“ den Kürzern ziehen
0075und verwundern uns lediglich darüber, daß das Grauweiblein 
0076hier eine braun und hellroth gekleidete junge, hübsche Dame ist! Den
0077Schluß dieses Actes (aber noch lange nicht der Prüfungen des Zu
0078schauers) bildet Aechter’s Abenteuer mit den Rhein-Nixen. Die
0079Decoration zeigt uns, wie das gedruckte Textbuch versichert, „das 
0080Innere der Rheinfluthen.“ Wir sehen Aechter’s Schiff her-
0081absinken und den Ritter sammt Gefolge das übliche „Verfüh-
0082rungsballet“ mannhaft ausstehen. Die decorative Ausstattung
0083dieser Scene bietet jedem Theater ungemeine Schwierigkeiten, und
0084selbst der anspruchsvollste Zuseher kann hier seine Phantasie von
0085der Pflicht, ein bischen mitzuwirken, nicht ganz dispensiren.
0086Im Hofoperntheater hatten sich aber Maschinist und Maler vereinigt,
0087ein Bild von so grotesker Geschmacklosigkeit zu schaffen, daß die gut-
0088müthigste und bereitwilligste Illusion davor entsetzt zurückweicht.
0089Rechts und links „spanische Wand“ von leichtem Silberstoff, dahinter
0090scheußlich geformte Felsenriffe, welche Korallenzweige wie rothe Zungen
0091herausstrecken, oben Alles beklebt mit abgeschmackt bunten Muscheln und
0092Schnecken, unten riesige Schildkröten, um die Nixen herumkrie -
0093chend — welcher Anblick! Es wäre uns rühmlicher erschienen,
0094einer schwierigen Aufgabe ganz auszuweichen, als sie so mangelhaft
0095zu lösen.


0096Der dritte Act endete zu so vorgerückter Stunde, daß ein Theil
0097der Zuschauer sich entschloß, auf den vierten zu verzichten. Letzterer
0098beginnt ganz unmotivirt mit einem Zigeunerballet — „wo Begriffe
0099fehlen“, da stellen sich Zigeuner zu rechter Zeit stets ein. Es folgt
0100das Turnier, bei welchem Waldfräulein vom alten König erkannt
0101und mit Aechter vermält wird — hierauf Tänze, Evolutionen und
0102Wolkenschluß-Spectakel.


0103Dies also war das lang vorbereitete, mächtig ausposaunte
0104neue Ballet, dessen Libretto die k. k. Wiener Zeitung eine zwei Num-
0105mern lange andächtig vorbereitende Analyse gewidmet hatte! Ein
0106langweiliges Ungeheuer, zu nichts Anderem gut, als die Geduld des
0107Publicums zu erproben. Das Publicum war liebenswürdig genug,
0108die ausgestandene Langweile den Künstlern nicht entgelten zu las-
0109sen; insbesondere Fräulein Couqui erfreute sich schmeichelhafter Aus-
0110zeichnung.


0111Die Musik zum „Waldfräulein“ hat Herr Franz Doppler 
0112geschrieben. Der bewährte Balletcomponist hat diesmal ebensowenig
0113sein Bestes geleistet, als der tüchtige Brioschi im Decorationsfach.
0114Es ist als hätte die anhaltende Beschäftigung mit diesem Ballet alle
0115Künstler gleichsam gelähmt. Auf die Decorationen wie auf die
0116Musik, so fleißig beide ausgeführt sind, drückt die Langweile die-
0117ser ganzen Waldfräuleinwirthschaft — eine Empfindung, welcher
0118Brioschi in den gedachten Pfauenfedern, Doppler hingegen
0119in einigen längeren Harfensolos den treffendsten Ausdruck verlie-
0120hen hat.