Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 73. Wien, Samstag den 12. November 1864
[1]Hofoperntheater.
(„Der schwarze Domino.“ — Fräulein Artôt.)
0003Ed. H. Ein zweifaches Dankvotum vor allem Andern an Fräu-
0004lein Artôt, zunächst für sie selbst und ihr Wiedererscheinen in
0005Wien, dann für den „Schwarzen Domino,“ dessen Erweckung ihr
0006Verdienst ist. Auf die Gefahr hin, von wirklichen und affectirten
0007Musikpietisten sträflicher Neigungen angeklagt zu werden, bekenne ich
0008mich zu dem Vergnügen, das mir Auber’s bessere Opern jederzeit be-
0009reiten. Der „Domino“ steht zwar nicht ganz oben auf dem Plateau
0010von Auber’s Schöpfungen, er blüht nicht mehr in der vollen
0011Frische und Ursprünglichkeit des „Maurer,“ „Fra Diavolo“ und der
0012„Stummen,“ allein zu den anziehendsten und charakteristischesten Pro-
0013ductionen des geistreichen Componisten müssen wir ihn doch noch un-
0014bedingt zählen. Der „Domino“ beschließt gewissermaßen die bessere
0015Hälfte von Auber’s Thätigkeit, macht also einen Einschnitt in diese
0016Carrière, deren rasches, gleichmäßiges Fortströmen so wenig Anhalts-
0017punkte zur Periodisirung gibt. Eigentliche Entwicklungs-Perioden,
0018durchgreifende Wandlungen des Styls hat Auber nicht aufzuweisen,
0019und die chronologische Folge seiner Opern spottet mitunter jedes Ver-
0020suchs, das Wachsthum seines Talentes daran zu messen. Neben und
0021zwischen seinen besten Werken stehen oft die allerschwächsten. Auch
0022seine musikalische Herkunft war anfangs nicht so rein und un-
0023gemischt, als man jetzt leicht annehmen könnte. Im Großen
0024und Ganzen genommen erkennt man allerdings Auber sofort
0025als die directe Fortsetzung Boyeldieu’s. Gibt es doch we-
0026nig große Kunstgebiete, in welchen eine so merkwürdige Ein-
0027heit und Stetigkeit der Entwicklung herrschte wie in der fran-
0028zösischen Opéra comique, wie sie von Grétry, Philidor und
0029Monsigny begründet, von Isouard und Boyeldieu auf eine
0030größere poetische und musikalische Höhe gehoben, endlich von Auber,
0031Adam, Thomas etc. weitergeführt wurde. Auber’s erste, nicht durch-
0032gefallene Oper „La bergère châtelaine“ (1820) ist ein schwacher,
0033verwässerter Boyeldieu, mit einigen aufleuchtenden Momenten von
0034Eigenthümlichkeit. Als Auber nach zwei durchgefallenen einactigen
0035Opern diesen ersten Erfolg genoß, zählte er bereits 38 Jahre, war
0036also das gerade Gegentheil eines frühreifen Genies. Um diese Zeit
0037begann Rossini Europa zu beherrschen. Die Manier desselben
0038nahm plötzlich einen erstaunlichen Einfluß auf Auber, sei es, daß
0039dieser wirklich davon widerstandslos bezaubert war, sei es, daß er
0040eine weitere Carrière in anderer Weise nicht mehr für möglich hielt.
0041Thatsache ist, daß seine nächste Oper „Der Schnee“ (1823) nicht Au-
0042ber’s eigene Sprache, sondern ein verdorbenes Rossinisch spricht. Die
0043Arien sind — dem Gebrauch der französischen Oper ganz zuwider —
0044mit Coloratur überhäuft; diese Coloratur ist die specifisch Rossinische,
0045daneben die Triolenketten, Orchester-Crescendos und Felicità-Schlüsse,
0046wie man sie frischweg aus dem „Tankred“ abschreiben kann. Einzelne
0047Nummern von anmuthigstem, echt französischem Reiz blühten inzwi-
0048schen, recht eigentlich Blümchen im Schnee. Große scenische Ge-
0049wandtheit und dankbarste Ausstattung der Rollen thaten das
0050Uebrige, um der Oper glänzende Erfolge zu verschaffen. Die
0051Sonntag nahm damit Wien und Berlin im Sturm. Heutzutage
0052erscheint uns dieser Erfolg aus der Partitur allein kaum mehr erklär-
0053lich. Auber lebt darin wie ein Amphibium, seine musikalische Indivi-
0054dualität und jene Rossini’s sind eigentlich so verschieden, wie Land
0055und Wasser. Nun, sollte man glauben, würde Auber in dieser für
0056ihn so erfolgreichen Rossini’schen Manier fortarbeiten. Das gerade
0057Gegentheil geschah. Gleich die Oper des folgenden Jahres, „Leocadia“,
0058enthält sich aller Coloraturen, und die nächstfolgende — Auber schrieb
0059jährlich eine, auch zwei Opern — „Der Maurer“, läßt von
0060Rossini’scher Manier kaum eine Spur mehr finden. Im „Maurer“
0061(1825) haben wir im besten Sinne echt französische Musik und zum
0062erstenmal den echten Auber, wie wir ihn seither kennen und lieben
0063gelernt. Der „Maurer“ ist das Ideal von einem musikalischen Genre-
0064bild; leider nur noch einmal, und nicht mit gleichem Gelingen, hat
0065uns Auber (in der „Braut“) das gemüthliche Kleinleben des Bürger-
0066thums geschildert. Der „Maurer“ darf neben dem idealen „Fra Dia-
0067volo“ als die schönste Blüthe des Auber’schen Talentes betrachtet
0068werden, beide behaupten jederzeit einen Ehrenplatz in der Geschichte
0069der komischen Oper.
0070Drei Jahre nach dem „Maurer und Schlosser“ erschien Auber’s
0071Meisterwerk im ernsten Style: „Die Stumme von Portici.“ Und
0072was finden wir zwischen diesen Beiden? Die flache, wieder von
0073Rossini’schen Anklängen wimmelnde „Fiorella“, welche die Ueberra-
0074schung nicht ahnen läßt, welche gleich darauf das erstaunlich gewach-
0075sene Talent ihres Componisten in der „Stummen“ der Welt bereiten
0076würde. Die in der ganzen Welt epochemachende „Stumme“ (1828)
0077war Auber’s erster Versuch in der „großen Oper“! Ein merkwürdig
0078Beispiel, wie ein doch immerhin begrenztes Talent mit der Größe
0079seiner Aufgabe zu wachsen vermag. Niemand würde dem leichten
0080Chansonier der komischen Oper einen so fortreißenden dramatischen
0081Zug, so glänzenden Pathos und solche Beherrschung großer Situatio-
0082nen zugetraut haben. Sogar Leidenschaft und Innigkeit, die beiden
0083schwächsten, oft auch ganz mangelnden Elemente Auber’scher Musik,
0084leuchten manchmal in der „Stummen“ mit überzeugender Kraft em-
0085por, am schönsten in den Melodramen Fenella’s.
0086Die „Stumme von Portici,“ welche über ihrem Lorbeer noch
0087die Krone einer großen geschichtlichen Bedeutung trägt, stand an der [2]
0088Spitze der nun folgenden Richtung. „Tell“ und „Die Hugenotten“
0089verdanken ihr mächtige Anregung selbst im rein musikalischen Theil. In
0090Auber’s Laufbahn nimmt die „Stumme“ eine ähnliche Stelle ein, wie
0091„Wilhelm Tell“ unter den Werken Rossini’s. Nur daß Rossini mit
0092dieser überraschenden, mächtigen Wendung seine Carrière beschloß,
0093während die analoge Erscheinung bei Auber in dessen erste Periode
0094fällt. Noch eine zweite bedeutsame Aehnlichkeit verbindet diese beiden
0095exceptionellen Schöpfungen: weder „Tell,“ noch die „Stumme,“ obgleich
0096sie den höchsten Aufschwung, die äußerste Anstrengung darstellen,
0097deren Auber’s und Rossini’s Talent fähig war, können als die voll-
0098kommenste, eigenthümlichste Blüthe derselben gelten. Beide Compo-
0099nisten leisteten hier ihr relativ Höchstes auf einem Gebiete, das nicht
0100ihre eigenthümliche Domäne war. Der „Barbier“ und „Fra Diavolo“
0101sind in sich abgerundeter und eigenthümlicher, sie sind vollkommenere
0102Kunstwerke auf ihrem Gebiet, als „Tell" und die „Stumme.“ „Du
0103weißt, lieber Gott,“ schrieb Rossini auf das Manuscript seiner neuen
0104Messe, „daß ich für die opera buffa geschaffen wurde.“ Rossini selbst
0105weiß das auch, und Auber besitzt die gleiche Selbstkenntniß. Trotz des
0106fabelhaften Erfolges der „Stummen“ kehrte Auber sogleich zur komi-
0107schen Oper zurück. In der langen Reihe seiner 42 Opern begegnen
0108uns nur noch zwei ernste: die „Ballnacht“ (Gustave) und der
0109„Verlorene Sohn“ (L’enfant prodigue). Ein drittes für die
0110große Oper geschriebenes Werk gehört eigentlich nur wegen der über-
0111wiegenden Betheiligung des Ballets dahin, es ist die halb panto-
0112mimische Oper „Der Gott und die Bayadere,“ deren Heldin Zoloé
0113gerade wie Fenella nicht zu singen hat.
0114Unmittelbar auf die „Stumme“ folgte die einst hochbeliebte, heute
0115bereits sehr verblaßte „Braut" und nach dieser der köstliche „Fra
0116Diavolo“ (1830). Was nun die nächsten 7 Jahre bringen („La Baya-
0117dère,“ „Le philtre,“ „Le serment,“ „Gustave,“ „Lestoq,“ „Le cheval
0118de bronze,“ „Le chaperons blancs,“ „L’Ambassadrice,“ „Le Domino
0119noir“) bewegt sich wieder bergauf, bergab. Auber’s Erfindung zeigt sich noch
0120stellenweise von unversehrter Anmuth und Frische, allein sie ermüdet
0121schon häufiger und beginnt ihre Zuflucht zu oberflächlichem Geplauder
0122oder raffinirten Effecten zu nehmen. Der „Schwarze Domino“ (1837),
0123wol das Beste, was Auber seit dem „Fra Diavolo“ geschrieben, dünkt
0124uns ein Abschnitt, ein Uebergangspunkt, wenngleich kein scharf mar-
0125kirter. Auber’s Liebenswürdigkeit und Esprit zeigt sich hier noch in
0126vollem Glanze, aber bereits mit entscheidender Bevorzugung des Pi-
0127kanten und Frivolen. Die Epoche vom „Maurer“ bis zum „Domino“
0128in Bausch und Bogen betrachtet, oder noch besser in ihren Spitzen,
0129bildet die wahre Blüthen- und Erntezeit von Auber’s Talent. So reizende
0130Partien sich auch in den folgenden Opern noch finden, besonders in den
0131„Krondiamanten,“ „Teufels Antheil“ und „Haydée,“ das Versiegen der
0132Erfindung, das Fabriksmäßige der Technik, die Herrschaft lockerer Tanz-
0133rhythmen ist nicht mehr zu bemänteln. Der kläglichste Sturz findet eigent-
0134lich schon unmittelbar nach dem „Domino“ statt, in dem „Feensee,“ einem
0135unbegreiflichen Machwerk, worin der Componist sich zum bloßen Hand-
0136langer des Maschinisten und Balletmeisters hergibt. Auch Scribe’s Texte
0137nehmen nun entscheidenden Einfluß auf die neue Wendung. Seine
0138Opernbücher werden ausgearbeitete Lustspiele von so complicirter In-
0139trigue, daß die Musik sich nirgends mehr lyrisch auszubreiten vermag,
0140sondern, von der Handlung gehetzt, nur nebenherlaufend oder sprung-
0141weise sich geltend machen kann. Wir erinnern an die „Sirene,“ die
0142„Barcarole,“ den „Duc d’Olonnes“ und Aehnliches. Die Besseren die-
0143ser Werke, welche, wie gesagt, noch immer viel Anmuthiges und Geist-
0144reiches enthalten, errangen in Paris noch reellen Erfolg und drangen
0145selbst nach Deutschland. Die letzte Auber’sche Oper, welche dies von
0146sich rühmen konnte, allerdings mehr in Folge des fremdartigen Rei-
0147zes ihrer Ausstattung, als durch die Macht ihrer Melodien, war
0148„der verlorene Sohn“ (1850). Seither spinnt Auber nur noch die
0149dünnen weißen Fäden eines musikalischen Altweibersommers. Nichts
0150von diesem Gespinnst der letzten 14 Jahre fand mehr aufrichtigen
0151Beifall, noch weniger drang es über die Grenzen Frankreichs. Nur
0152die Bewunderung für solche noch im höchsten Alter rege Schaffens-
0153lust, und die Pietät für eine so blüthenreiche Vergangenheit breiten
0154ihren verklärenden Schimmer darüber.
0155Wir sind vom „Schwarzen Domino“ weiter abgekommen, als
0156dem Leser vielleicht lieb ist; nicht immer kann man dem Anlaß wi-
0157derstehen, von dem einzelnen Werk aus in weitem Bogen ein ganzes
0158Künstlerleben zu überschauen, das wie eine Landschaft vor uns aus-
0159gebreitet liegt. Der „Schwarze Domino“ ist so recht, was wir „liebens-
0160würdig“ nennen: all’ seine Vorzüge erscheinen uns größer durch die
0161Anspruchslosigkeit, mit der sie auftreten. Scribe, den ein freundliches
0162Geschick eigens für Auber geschaffen zu haben scheint, gerade wie
0163diesen für jenen, hat hier mit der ihm eigenen Geschicklichkeit eine
0164anziehende Handlung erfunden und gestaltet, ohne in den Fehler sei-
0165ner spätern Opernbücher, die verwickelte Intrigue, zu verfallen.
0166Auber’s Musik dazu vereinigt alle Vorzüge, die ihn zum Meister
0167des musikalischen Conversations-Lustspiels machen. Zu seinen frü-
0168heren Opern, namentlich zum „Maurer“ und „Fra Diavolo“, verhält
0169sich der „Domino noir“ ungefähr, wie jene frühern Arbeiten sich zu
0170Boyeldieu verhielten. Das gemüthliche, idyllische Element einer-
0171seits, das chevalereske anderseits erscheint zurückgedrängt gegen das
0172Pikante, geistreich Plaudernde.
0173Der Tanzrhythmus herrscht vor, aber in so graziöser Form, daß
0174er selten den Eindruck des Trivialen macht. Das Geheimniß ruht in
0175der durchgehends waltenden Einfachheit und Mäßigung. Leichte Melo-
0176dien, welche von italienischen, mitunter auch von deutschen Compo-
0177nisten (Flotow) durch lärmende Instrumentirung und pompöse Schluß[3]-
0178cadenzen aufgedonnert werden, gaukeln bei Auber immer nur wie
0179leichte Schmetterlinge über dem Wasserspiegel. Bei aller Lebendigkeit,
0180mit der das Dramatische sich abspielt, wird doch nichts aufdringlich
0181oder plump pathetisch. Wo Töne aus tiefen, vollem Herzen erklingen
0182sollen, da behilft sich Auber allerdings stets mit Surrogaten, doch
0183verräth die Wahl derselben wenigstens eine zarte Hand. Der erste
0184Act des „Domino“ bietet der Musik am wenigsten Entfaltung und
0185dies Mißverhältniß zwischen dem gesprochenen und gesungenen Wort
0186wird in deutschen Vorstellungen ungleich lästiger als in französischen.
0187Dafür besitzt dieser erste Act in dem Eingangsterzett „Tout est pré-
0188paré“ ein allerliebstes ausgeführteres Musikstück, das den Typus Auber’-
0189schen Styls ausgezeichnet repräsentirt. Auber’s größte Virtuosität ruht
0190in jenem zwischen Gesang und Declamation schwebenden Genre, das
0191man kurz „musikalische Conversation“ nennen kann. Die Leichtigkeit
0192mit welcher er in Stücken wie jenes Terzett aus erzählendem Geplau-
0193der in gesangvolle Melodie übergeht, unmerklich wieder in raschen Dialog
0194umbiegt und so fort, ist bewunderungswürdig. Größere Ensemble-
0195sätze gerathen dem Componisten in der Regel sehr dürftig; immerhin
0196hört sich der lärmende Cavalierschor im 2. Act von der Bühne besser
0197an, als er sich Schwarz auf Weiß liest. Sehr hübsch ist das kleine
0198Duettino Angela’s mit Juliano; glänzend und dabei von feinster
0199Zierlichkeit die „Ronde Arragonaise.“ Sie wird nur von Angela’s
0200zweiter Solonummer übertroffen, der erzählenden Arie im 3. Act.
0201In den Couplets des Gil-Perez und dem schnatternden Nonnenchor
0202erhebt sich Auber’s Laune zum wirksamsten, köstlichen Humor. Am
0203Ende der Oper entläßt uns der letzte Tact so freundlich befriedigt,
0204wie der erste uns heiter angeregt und gestimmt hat.
0205Die Aufführung der Oper erhielt durch das Auftreten Fräulein
0206Artôt’s eine glänzende Zierde. Es dürfte gegenwärtig kaum eine
0207virtuosere und geschmackvollere Darstellerin der „Angela“ geben, als
0208Fräulein Artôt. Wer einen Begriff von Gesangskunst und einigen
0209Sinn dafür hat, den mußte die Leistung der berühmten Sängerin
0210von Anfang bis zu Ende mit freudiger Bewunderung erfüllen. Die
0211treffliche, besonders im mezza voce reizende Tonbildung, die aus-
0212gebildete Virtuosität bei ruhiger, spielender Beherrschung aller Schwie-
0213rigkeiten, die geistreiche Feinheit des Details, endlich über dem Gan-
0214zen der wohlthuende Hauch seiner Bildung und echten Zartgefühls, —
0215eins reicht dem andern die Hand, um ein meisterhaftes Gebilde
0216fleckenlos hinzustellen. Wenn wir hin und wieder in Spiel und Ge-
0217sang (z. B. in der Arragonaise) etwas lebhaftere, kräftigere Farben
0218wünschten, so sind wir vielleicht selbst schon durch die deutsche und
0219italienische Vortragsweise etwas verwöhnt. Das Deutsche sprach
0220Fräulein Artôt mit unverkennbar fremdem Accent, doch recht
0221fließend und nicht unverständlich. Fräulein Artôt wurde vom
0222Publicum ehrenvoll ausgezeichnet. Ihre Leistung hätte noch weit leb-
0223hafter gewirkt, wäre ihre Umgebung eine bessere, im Ton der Con-
0224versations-Oper geübtere gewesen. An der schleppenden, ungefügen
0225Prosa, an dem eckigen, verlegenen Spiel der meisten Mitwir-
0226kenden war deutlich zu erkennen, wie sehr entfremdet unser Opern-
0227personal diesem Genre ist. Am besten löste noch Fräulein Bettel-
0228heim (Brigitte) ihre Aufgabe. Der prachtvolle Klang ihrer Stimme
0229elektrisirte das Publicum in den Couplets am Anfang des dritten
0230Actes. Ihr Spiel hätten wir, namentlich im dritten Act, ruhiger und
0231vornehmer gewünscht. Herr Walter sang die Partie Horazio’s recht
0232hübsch; was ein guter Schauspieler aus dieser Rolle machen kann,
0233schien er kaum zu ahnen. Ganz vergriffen war die Besetzung
0234des Grafen Juliano durch Herrn Dalfy. Die Rolle ver-
0235langt einen gewandten Darsteller von gewinnendem Aeußern
0236und freiem, vornehmen Anstand. Ein Weniges Deutsch sprechen soll
0237er auch können. Die Kehrseite von alledem den ganzen Abend
0238auf der Bühne zu sehen, war geradezu störend. Ueberhaupt wäre
0239es weit zweckmäßiger gewesen, die Rolle, wie dies in ganz Deutschland
0240der Fall ist und auch in Wien stets der Fall war, einem Bariton
0241zuzutheilen. Im französischen Original ist allerdings Juliano als
0242Tenor bezeichnet, die Partie ist aber nicht nur (etwa mit wenigen
0243ganz unwesentlichen Punctirungen) von jedem Bariton zu bewältigen,
0244sie gewinnt offenbar, wenn sie von dem Tenor Horazio’s sich durch
0245die Klangverschiedenheit abhebt. Herr Rokitansky sang den Gil-
0246Perez sehr gut und mit großem Beifall; wir bedauerten nur, daß
0247er durch eine ganz unpassende Maske das Charakteristische dieser
0248komischen Figur vernichtete. Der Klosterökonom Gil-Perez ist kein
0249Geistlicher, aber ein geistliches Geschmäckchen muß er behalten; man
0250muß ihm an Kleidung, Mienen und Haltung anmerken, daß er sein
0251Lebelang in frommer Behausung und Umgebung gelebt. Nur dann können
0252die so drollig zwischen Salbung und Lüsternheit schielenden Strophen,
0253womit der würdige Klosterökonom Gott für das in Aussicht stehende
0254Souper dankt, im rechten Licht erscheinen und volle Wirkung ma-
0255chen. Hölzl hat die Rolle seinerzeit in diesem Sinne meisterhaft ge-
0256spielt, ohne den mindesten Anstoß zu erregen. Herr Rokitansky
0257aber sah aus wie ein frisch eingefangener Räuberhauptmann, dessen
0258kindische Furcht vor dem Teufel man ebensowenig begreift, wie seine
0259lateinischen Brocken.
0260Frau Schäffer-Hoffmann gab die Haushälterin Claudia;
0261bei einiger charakteristischer Komik im Spiel hätten wir den Mangel
0262an Stimme gern verschmerzt. Sehr anständig gaben die Fräulein
0263Dillner und Kohler zwei Nebenrollen, sowie Herr Lay die kleine
0264Buffopartie des Lord Elfort. Schade nur, daß die Oper hier nicht
0265in modernem Costüm gegeben wird; ein Engländer mit Schnurr- und
0266Knebelbart, Federhut und Degen ist kein Engländer mehr, am wenig-
0267sten für die komische Oper.