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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 92. Wien, Donnerstag den 1. December 1864

[1]

Musik.

(Concerte. Liedertafel. Fräulein Artôt als Margarethe.)


0003Ed. H. Ein schönes Fest möchten wir das „Gesellschafts-
0004Concert“ vom letzten Sonntag nennen. Nicht blos in dem
0005allgemeinen Sinn, der jeden Ort, wo Schönes in schöner
0006Weise vorgeführt wird, zum Festsaal erhebt, sondern in dem
0007specielleren der festlichen Begrüßung eines verehrten Gastes.


0008Franz Lachner war von München eigens hieherge-
0009kommen, um seine „zweite Orchester-Suite in E-moll“ zu
0010dirigiren; mit lang anhaltendem Beifall begrüßte das Publi-
0011cum sein Erscheinen. Dieser Willkomm — Lachner hätte ihn
0012überall verdient und gefunden — hatte in Wien doch noch
0013eine intimere Färbung und Bedeutung. Nicht allzu viele von
0014den Zuhörern mochten aus eigener Erinnerung der Zeit ge-
0015denken, wo Lachner in Wien thätig war, aber der Beifall
0016klang, als wüßten sie’s Alle und fühlten es lebhaft durch.


0017Vor 40 Jahren war Lachner als junger Musiker, unbe-
0018mittelt und unbekannt, aus Baiern nach Wien gewandert. Ein
0019günstiger Stern hat ihn geleitet, und in Lachner’s schneller
0020Carriere uns doch endlich wieder einmal sehen lassen, „wie
0021sich Verdienst und Glück verketten“.


0022Nicht lange nach seiner Einwanderung ward Lachner 
0023Capellmeister am Kärntnerthor-Theater (1826), das er erst
00241834 verließ, um einem Ruf nach Mannheim und bald dar-
0025auf nach München zu folgen.


0026Während des Decenniums 18241834 war Lachner 
0027einer der thätigsten und beliebtesten Musiker in Wien. Meh-
0028rere Akademien veranstaltete Lachner selbst (im kleinen Redou-
0029tensaal), um seinen Compositionen Bahn zu brechen. Bald
0030bedurfte es aber nicht mehr der eigenen Initiative: Lachner’sche
0031Lieder erklangen fast in allen Akademien und die „Preis-Sym-
0032phonie“ (1835) erhob ihn vollends zum Hausheiligen der
0033„Spiritual-Concerte“. Was Lachner seither in München für
0034die Pflege classischer Musik gewirkt hat, durch seine eminente
0035Dirigenten-Thätigkeit wie durch das Ansehen seines Namens,
0036ist bekannt. Seine eigene Schöpferkraft jedoch schien versiegt,
0037wenigstens lag sie in jahrelangem festen Schlummer. Da
0038sehen wir sie plötzlich in neuer, ungeahnter Frische sich
0039erheben und die Welt mit einer Nachblüthe überraschen, welche
0040die Ernte seiner jüngeren Jahre in Schatten stellt. Diese
0041Nachblüthe sind Lachner’s zwei Orchester-Suiten, die ganz
0042Deutschland mit aufrichtiger Freude begrüßt hat. Wenn man
0043erwägt, wie viel schwieriger, begehrlicher und verwöhnter das
0044musikalische Publicum seit 30 Jahren geworden ist, so darf
0045man die Aufnahme der zwei Lachner’schen Suiten wol als den
0046bedeutendsten Erfolg bezeichnen, welchen der Componist über-
0047haupt errungen.


0048Die neue „Suite“ in E-moll ist der ersten in D-moll 
0049(die im vorigen Jahre Dessoff zur Aufführung brachte) sehr
0050nahe verwandt. An Kraft und Originalität der Erfindung,
0051an Schwung der Durchführung erreicht sie, unseres Erachtens,
0052ihre Vorgängerin nicht, an Wohlgestalt der Form und glän-
0053zender Technik ist sie ihr ebenbürtig. Der erste von den fünf
0054Sätzen bringt nach einer bedeutsam vorbereitenden, langsamen
0055„Introduction“ eine Fuge, und zwar eine Doppelfuge, deren
0056erstes Thema erst für sich durchgeführt wird, worauf das
0057zweite Thema auftritt und das erste als Gegenthema mit
0058durchführt. Der wuchtige Charakter der Themen und die con-
0059sequente contrapunktische Ausführung des ganzen Satzes erin-
0060nert (abgesehen von der modernen Verwendung der Chroma-
0061tik) an die typischen Vorbilder aus älterer Zeit. Diesem ersten
0062Satz, der uns der werthvollste von allen dünkt, folgt als
0063zweiter ein romanzenartiges Andante in E-dur, edel und ge-
0064sangvoll, wenn auch nicht gerade bedeutend. „Menuet“ lautet
0065die nicht ganz zutreffende Ueberschrift des dritten Satzes in
0066H-moll, dessen Rhythmus und Tempo ihn eigentlich unserer
0067„Polka-Mazur“ vindiciren. Wenn der Componist sich des
0068Namens schämte, der Sache hat er sich nicht zu schämen. Die
0069Erfüllung der alten Suitenform mit modernem Inhalt ist ja
0070das entscheidende Verdienst der beiden Lachner’schen Orchester-
0071stücke. Wenn Bach’s und Händel’s Suiten die Tanzformen
0072ihrer Zeit (Allemande, Sarabande, Gavotte ec.) in reineren,
0073idealisirten Linien vorführten, warum soll ein Componist von
0074heute nicht das Gleiche thun, wenn er es eben mit feinem
0075Schönheitssinn vermag? Schon Beethoven konnte die alte
0076Menuetform, wie sie Haydn benützte, nicht mehr brauchen;
0077Lachner geht in der Modernisirung derselben noch einen starken
0078Schritt weiter. Der Satz ist schlank gebaut, von anmuthiger,
0079etwas tändelnder Melodie. Das „Intermezzo“ ist ein Alla
0080Marcia mit gefälligem, interessant harmonisirtem Hauptmotiv
0081und einem Trio in C-dur, dessen theatralisches Marschthema
0082unter den fortlaufenden Trillerketten der Geigen von unfehl-
0083barem, aber etwas allzu populärem Effect ist. Der letzte Satz
0084lenkte wieder in strengere Bahnen ein; an den gedrungenen
0085polyphonen Styl des ersten Satzes anknüpfend, wirkt er sehr
0086günstig durch seine contrapunktische Lebendigkeit. Das ganze
0087Werk offenbart, zumal in der contrapunktlichen Arbeit, die
0088feste und leichte Hand des Meisters; die Instrumentirung
0089glänzt durch Wohlklang, Schattirung und unübertreffliche
0090Durchsichtigkeit: man hört jedes Instrument heraus. So [2]
0091empfangen wir in Lachner’s Suite einen anmuthigen Inhalt
0092in meisterhaft gefügter Form und geziert mit allen Reizen
0093moderner und doch solider Orchestertechnik. Das Werk rührt
0094nicht an die tiefsten Tiefen der Musik, nicht an ihre letzten
0095dämonischen Kräfte, es entzündet weder unsere Leidenschaften,
0096noch verklärt und sänftigt es deren heißglimmende Asche. Was
0097Lachner’s Suiten uns bieten, ist ein freundliches, wechselvolles
0098Bild reiner Musik, einer Musik, die, gegen jede poetische und
0099philosophische „Bedeutung“ protestirend, in anspruchslosem Be-
0100hagen sich selbst zuzuhören scheint.


0101Die Aufführung der neuen Suite erreichte zwar nicht die
0102Feinheit und Egalität, mit der die „Philharmoniker“ uns
0103deren ältere Schwester vorgeführt, doch ward die schwierige
0104Aufgabe mit ungemeinem Eifer angefaßt und anständig gelöst.
0105Das Intermezzo mußte wiederholt werden. Von Instrumental-
0106werken hörten wir in demselben Concert noch Franz Schu-
0107bert’s
 Clavierphantasie in C (op. 15) in der reizenden Or-
0108chester-Bearbeitung von Liszt und eine Liszt’sche „Phantasie
0109über ungarische National-Melodien“. An pikanten Einfällen und
0110blendender Klangfarbe fehlt es dieser Composition nicht; allein die
0111unverhüllte Barbarei, die in den Themen, und die Frivolität,
0112die in der ganzen Behandlung steckt, lassen eine wahrhafte Be-
0113friedigung nicht aufkommen. Vielleicht waren wir doppelt
0114empfindlich dadurch, daß die schmutzige Romantik dieses Zigeuner-
0115bivonacs unmittelbar auf zwei alte Chorlieder folgte, die mit ihrer
0116himmlischen Reinheit und Einfachheit alle Herzen ergriffen hatten.
0117Wir meinen Haßler’sLied vom Rosengarten" (1596) und
0118das von Herbeck trefflich harmonisirte alte „Jägerlied“. Ne-
0119ben diesen Gesängen wußte sich Herbeck’sWeihnachtslied“,
0120ein sechsstimmiger Chor von würdigem Ausdruck und schöner
0121Klangwirkung, ehrenvoll zu behaupten. Die drei Chöre wurden 
0122von Herbeck’s „Singverein“ mit einer Vollendung vorge-
0123tragen, für welche kein Lob zu groß ist. Solche Weichheit und
0124Fülle des Klangs, solch’ zartes Anschwellen und Absterben, so
0125musterhafte Behandlung des Wortes ist uns kaum bei irgend
0126welcher Chorproduction je vorgekommen. Das Publicum schien
0127förmlich zu schwelgen. Die beiden Clavierstücke spielte Herr
0128Tausig mit jener blendenden Virtuosität, die alle seine Vor-
0129träge zunächst kennzeichnet. Gegen unsre Gewohnheit wollen wir
0130bei diesem Anlaß des trefflichen Instruments erwähnen, dessen
0131sich Tausig bediente; ist es doch erfreulich, wenn ein so her-
0132vorragender Meister der Clavier-Fabrication wie Ehrbar end-
0133lich auch in den monopolverschanzten Concertsälen seiner Hei-
0134mat zu den gebührenden Ehren gelangt.


0135In Hellmesberger’s zweiter Quartett-Soirée debütirte
0136eine fremde Pianistin, Fräulein Louise Hauffe aus Leipzig,
0137mit äußerst günstigem Erfolg. Sie spielte Schubert’s Es-
0138dur-Trio mit so viel Kraft und Zartheit, so correct zugleich
0139und belebt, daß sie das Publicum rasch und entschieden für
0140sich gewann. Das „Frauenzimmerliche" ist in ihrem Spiel
0141auf ein Minimum beschränkt und äußert sich mehr in äußer-
0142licher Unruhe als in inneren musikalischen Mängeln.


0143Das dritte „Philharmonische Concert“ verschaffte uns die
0144Bekanntschaft von Bargiel’sOuverture zu einem Trauer-
0145spiel.“ Der Componist, ein geistiger Stiefbruder Robert
0146Schumann’s
und ein leiblicher Clara’s, verleugnet sein
0147Vorbild in keinem Tacte. Die „Ouverture“ ist von würdigem
0148Ausdruck und einheitlicher Haltung, formell unanfechtbar (bis
0149auf den unnöthig angehängten lang hinsiechenden Schluß), im
0150Detail fein und anziehend, verletzend nirgends, wenn man
0151allenfalls von den unmotivirten Wolfsschluchtsharmonien im
0152Durchführungssatz absieht. Im Ganzen ein sehr achtbares 
0153Werk, aber mit größeren Intentionen angelegt, als der Com-
0154ponist zu verwirklichen vermochte. Bargiel hat seither zwei
0155neue Ouverturen geschrieben, die bedeutender sein sollen; sein
0156echtes und redlich strebendes Talent verdient, in seiner Weiter-
0157entwicklung nicht ignorirt zu werden. — Haydn’s B-dur-
0158Symphonie mit ihrer liebenswürdigen Frische und Anmuth
0159machte uns das aufrichtigste Vergnügen; sie erscheint im ersten
0160Satz und Andante ohne Zopf und Puder, mit Rosen in dem
0161wallend blonden Haar. Die philharmonische Hörerschaft wurde
0162trotzdem erst warm — und das bis zum Enthusiasmus —
0163bei Mendelssohn’s A-moll-Symphonie. Dessoff und sein
0164Orchester feierten hier einen Triumph, den wir durch die be-
0165scheidene Bemerkung keineswegs stören wollen, daß künftig die
0166unmittelbare Aufeinanderfolge von zwei Symphonien besser
0167unterbleiben würde.


0168An Virtuosen war in letzter Woche keine Noth, eher
0169an Abnehmern ihrer Concertbillets. Fräulein Pauline Ficht-
0170ner
, eine junge, zarte Pianistin aus Pirkhert’s Schule, fand
0171so freundlich aufmunternden Beifall, daß sie sich zu einem
0172zweiten Concert veranlaßt sieht. Herr Joseph Derffel hat
0173sich durch ein exquisites Programm und seinen stets anregen-
0174den Vortrag sehr in den Sympathien unseres Publicums be-
0175festigt. Ganz besonders erwärmte er die Zuhörer mit Schu-
0176bert’s
herrlicher A-moll-Sonate. Herrn Hölzl’s Akademie
0177mußten wir dem gleichzeitigen Gesellschafts-Concert opfern;
0178zahlreicher Besuch und lebhafter Applaus sollen dem Concert-
0179geber bewiesen haben, daß der lustige „Bruder Tuck“ keines-
0180wegs vergessen sei.


0181Nun schließlich ein kleiner Abstecher aus dem Musikverein
0182in den Sophienbad-Saal! Ein zahlreicheres und dankbareres
0183Publicum, animirtere Sänger und Spieler kann man nirgends [3]
0184finden, als bei einer „Festliedertafel." Diesmal war der
0185Akademische Gesangverein“ an der Reihe, dessen tüch-
0186tiger und beliebter Chormeister Herr Weinwurm das Pro-
0187gramm sehr anziehend zusammengestellt hatte. Chöre von Abt,
0188Rietz, Herbeck, Engelsberg und Lachner folgten einan-
0189der. Lachner war anwesend und äußerst befriedigt. Das
0190eigentliche Tafelstück, nach welchem dem ganzen Publicum der
0191Mund wässerte, war ein „Musikalisches Lustspiel in drei Sce-
0192nen" von Engelsberg, betitelt „Doctor Heine oder Ein
0193Rigorosum im Sommer.“ Die echt komische Idee, welche die-
0194sem Scherz zu Grunde liegt, ist mit glücklichster Laune und
0195äußerst geschickter Hand durchgeführt. Namentlich die erste
0196Scene — in welcher Herr Schultner als Candidat und Herr
0197Edlbacher als Pedell sich auszeichneten — ist von unwider-
0198stehlicher Wirkung. Trotz der vorgerückten Stunde mußte das
0199ganze „Lustspiel“ wiederholt werden. Man rief stürmisch nach
0200dem Componisten, der jedoch aus dem Schatten eines großen
0201Bierglases und seines Incognitos nicht herauszulocken war.
0202Ein Comité-Mitglied dankte für den anwesenden Autor.


0203Fräulein Artôt, die seit der ersten Vorstellung des
0204schwarzen Domino“ als „Angela“ immer glänzendere Er-
0205folge aneinandergereiht, trat gestern zum erstenmal als Mar-
0206garethe in Gounod’sFaust“ auf. Das Wiener Publicum
0207welches einerseits für Fräulein Artôt schwärmt, anderseits
0208aber das „Gretchen“ als eine der besten Leistungen unserer
0209Dustmann liebgewonnen hat, sah dem Abend mit neugierig-
0210ster Spannung entgegen. Der thatsächliche Erfolg Fräulein
0211Artôt’s konnte kaum glänzender sein, es gab Applaus und
0212Hervorruf in Fülle. Die Leistung unseres gefeierten Gastes
0213war auch nach allen Seiten von größter technischer Vollen-
0214dung, fein, maßvoll und abgeschliffen; in der ganzen Anlage 
0215harmonisch und reich ausgestattet mit anmuthigem Detail. Das
0216Verdienst Fräulein Artôt’s wächst noch, wenn man erwägt,
0217wie schwer eine Französin in diesen so ganz deutschen Charak-
0218ter sich einzuleben vermag, und nun vollends eine französische
0219Sängerin, welche ihre größten Triumphe in dem heitern, gra-
0220ziösen Genre des musikalischen Lustspiels feiert. Auf diesem
0221Felde hat uns Fräulein Artôt so sehr verwöhnt, daß wir ihr
0222Gretchen“ nicht in demselben Maß vortrefflich und eigen-
0223thümlich finden können, wie ihre „Rosina" oder „Angela“.
0224Eine Meisterin des Gesanges wird sich allerdings in jeder
0225Rolle als solche bewähren, und in Fräulein Artôt’s Gret-
0226chen war, wie gesagt, jede einzelne Nummer, jeder einzelne
0227Tact aufs schönste geformt und ausgeführt. Auch als Schau-
0228spielerin ist Fräulein Artôt zu gewandt und gebildet, um
0229nicht selbst die verschiedensten Charaktere in richtigen, sicheren
0230und geistreichen Contouren zu zeichnen, wie es ihre Darstellung
0231des „Gretchen“ gleichfalls vollauf bewies. Allein jeder Künst-
0232ler wird einen bestimmten Darstellungskreis haben, in dem
0233seine ganze Individualität mit der dramatischen Aufgabe voll
0234und spontan zusammentrifft, wo wir nicht blos bewundern
0235was er kann, sondern leibhaftig zu sehen glauben, was er
0236ist. Diesen Eindruck vollkommener Befriedigung empfangen
0237wir von der Artôt überall, wo ein leichter, anmuthiger Stoff
0238sich mit reich gestickter, gefällig funkelnder Musik verbindet.
0239Da glänzt sie als unübertreffliche Specialität. In Gounod’s
0240Faust“ bleibt Fräulein Artôt die meisterhaft geschulte Sän-
0241gerin, die feingebildete Darstellerin; allein sie ist dies nicht
0242mehr auf ihrem eigensten Gebiet, nicht mehr in jenem musi-
0243kalischen und dramatischen Ideenkreis, mit welchem ihre ganze
0244Persönlichkeit uns verwachsen dünkt. Mit Einem Wort, sie
0245kann als „Gretchen“ große Vorzüge, aber nicht jene Eigen-
0246schaften bethätigen, die wir gerade für ihre glänzendsten und
0247eigenthümlichsten halten. Nur Eine Nummer Gretchens ge-
0248hört vollständig dieser Sphäre an: die Bravour-Arie vor dem
0249Schmuckkästchen.


0250Der meisterhafte Vortrag dieser Arie — wie die Dia-
0251manten selbst funkelnd und glitzernd — war unseres Erach-
0252tens, auch der Glanzpunkt der ganzen Leistung. Was uns
0253an dem Totaleindruck abging, werden vielleicht nur deutsche
0254Zuschauer vermissen: die hinreißende, lebendige Realität der
0255Goethe’schen Gestalt. Frl. Artôt erinnerte mitunter in
0256ihrem durchaus edlen, aber schüchtern maßvollen, gleichsam an
0257sich haltenden Ausdruck mehr an Goethe’s „Marie Beaumar
0258chais“, als an das naive, stark und lebensvoll empfindende
0259Gretchen. In den Liebesscenen, die ein volles Ausströmen,
0260selbst Ueberströmen des Gefühls verlangen (das hier aller-
0261dings wieder mit seiner physischen Grundlage, der Kraft des
0262Organs, zusammenhängt), schlägt Frau Dustmann ohne
0263Frage tiefere und ergreifendere Accente an; ihr „Gretchen“ hat
0264bei geringerem technischen Schliff mehr warme, überzeugende
0265Beredtsamkeit. Immerhin behält die Leistung Frl. Artôt’s 
0266so viel des künstlerisch Schönen und Vortrefflichen, daß Nie-
0267mand ohne bewunderndes Interesse ihr folgen wird. Das
0268Wort behandelte Frl. Artôt mit musterhafter Reinheit und
0269Deutlichkeit; es wäre zu wünschen, die deutschen Sänger ver-
0270wendeten auf ihre eigene Sprache so viel Fleiß und Aufmerk-
0271samkeit, wie Frl. Artôt auf die fremde. Da Frl. Artôt 
0272das „Gretchen“ zum erstenmal in deutscher Sprache 
0273sang, wird sie in den nächsten Vorstellungen gewiß noch mehr
0274Freiheit und Unbefangenheit gewinnen. Ist ja selbst ihr
0275schwarzer Domino“ von einem Abend zum andern immer le-
0276bendiger und wirksamer geworden.