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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 192. Wien, Sonntag den 12. März 1865

[1]

Dinorah“ oder „Die Wallfahrt nach Ploërmel.“

Komische Oper in drei Acten von M. Carré und J. Barbier. Musik von Meyerbeer. I.

(Im Hofoperntheater zum erstenmal aufgeführt am 11. März 1865.)

*)
0010Ed. H. Meyerbeer’s „Dinorah“ hat endlich ihren stark
0011verspäteten Einzug in Wien gehalten. Fünf volle Jahre sind
0012es beinahe, seit „Le Pardon de Ploërmel“ am 4. April
00131859 in der Pariser Opéra Comique zuerst das Lampenlicht
0014erblickte. Die rührende Ammensorgfalt, mit welcher Meyerbeer 
0015jedes seiner Kinder persönlich in die Welt einführte, konnte sich
0016damals mit dem Personale des Kärntnerthor-Theaters nicht zu-
0017friedengeben, und er hat zeitlebens „Dinorah“ dieser Bühne
0018ängstlich vorenthalten. Seither sind die beiden Coloratur-Sän-
0019gerinnen, welche sich hier um die Ziege stritten, aus dem Ver-
0020band des Hofoperntheaters getreten, und Meyerbeer selbst ist die-
0021sem Jammerthal irdischer Befürchtungen für immer entrückt
0022worden. Die Bahn war nach allen Seiten frei, und so zögerte
0023denn auch die Direction nicht mit der verbotenen Frucht, die
0024sie jahrelang mit Schmerz an den Repertoires unserer Provinz-
0025bühnen hatte hangen sehen.


0026Die Handlung der Oper ist in Kurzem folgende: Di-
0027norah
und ihr Bräutigam Hoël, beide ihres Zeichens Zie-
0028genhirten in der Bretagne, wollen eben in der Wallfahrtskirche
0029zu Ploërmel ihre Vermälung vollziehen lassen, als ein furcht-
0030barer Orcan losbricht. Das Ungewitter treibt nicht nur den
0031zum Altar der Madonna schreitenden Hochzeitszug auseinander,
0032sondern trifft auch mit einem Blitzstrahl die Maierei von
0033Dinorah’s Vater. Die Aussicht auf eine an Mühsal und Ent-
0034behrungen reiche Zukunft bestimmt Hoël, wenigstens vorderhand
0035die Verbindung aufzugeben, umsomehr, als ihm durch einen 
0036Hexenmeister des Dorfes die Möglichkeit, einen großen, von
0037Kobolden und Zwergen bewachten Schatz zu heben, so plausibel
0038als möglich gemacht wird. Um für diese That gefeit zu sein,
0039muß er zuvor, fern von jeder menschlichen Berührung, ein
0040volles Jahr in einer unbekannten Schlucht zubringen! Darob
0041wird die treulos verlassene Dinorah wahnsinnig und irrt Tag
0042und Nacht mit ihrer Ziege Bella durch die Wälder, um den
0043Bräutigam zu suchen. Dieser kehrt nach abgelaufenem Probe-
0044jahr zurück, und zwar, da jener Hexenmeister bereits gestorben,
0045als alleiniger Besitzer des Schatzgeheimnisses. Dies Alles er-
0046fahren wir durch — die Ouverture, oder vielmehr durch das
0047ihr vorgedruckte Programm, welches die Vorhandlung des
0048Stückes erzählt.


0049Die Oper selbst (welche in drei Acte, „der Abend,“ „die
0050Nacht“ und „der Morgen“, zerfällt) führt uns gleich anfangs
0051die wahnsinnige Dinorah vor. Die Situationen, in welche die
0052umherschweifende Braut mit ihrem Schatten, mit Bella, dann
0053mit Hoël selbst und dem Sackpfeifer Corentin geräth, bil-
0054den die größere Hälfte der äußerst dürftigen Handlung. Coren-
0055tin ist es, der dem schatzgierigen Hoël die Kastanien aus dem
0056Feuer holen soll. Mit der Hebung des Schatzes hat es näm-
0057lich eine eigene Bewandtniß: derjenige, der das Gold zuerst
0058berührt, stirbt noch im selben Jahre. Deshalb trachtet Hoël,
0059den Dudelsackpfeifer durch die Aussicht auf großen Reichthum
0060zu bewegen, um Mitternacht die gespenstische Schlucht zu be-
0061suchen, um ihm bei Hebung des Schatzes, natürlich in erster
0062Reihe, behilflich zu sein. Eben als sie die Einöde betreten,
0063erscheint Dinorah und macht, halb unbewußt, Corentin von
0064dem am Schatze haftenden Zauber, zufolge dessen die erste
0065unmittelbare Berührung auch den sicheren Tod mit sich bringt,
0066bekannt. Begreiflicherweise will nun der ohnehin äußerst furcht-
0067same Sackpfeifer nichts von einer Priorität bei dem bevorstehen-
0068den Unternehmen wissen. Er möchte Dinorah vorschieben und
0069beredet sie vorläufig, den Baumstamm, der als einzige Brücke
0070über die Schlucht zu dem Schatze führt, zuerst zu überschreiten.
0071Es schlägt gerade Mitternacht. Dinorah hört das Glöckchen
0072ihrer Ziege und will ihr nacheilen. Eben als sie sich auf dem
0073schwanken Steg in vollem Lauf befindet, schlägt ein Blitz in
0074denselben, die Schleußen der Schlucht werden von dem plötzlich
0075entfesselten Wogenschwall durchbrochen und die irre Heldin von 
0076Ploërmel stürzt hinab in die Fluth. Dieser scheinbar tödtliche
0077Sturz erweist sich aber im dritten Act als ein absolut glück-
0078licher. Nicht nur wird Dinorah von Hoël den Wellen ent-
0079rissen und ein Leben gerettet, der außerordentliche Schreck
0080bringt ihr auch wieder die Besinnung. Sie denkt, einen schwe-
0081ren Traum überstanden zu haben, und sieht ihre vor Jahres-
0082frist so plötzlich gestörten Wünsche aufs neue erfüllt. Hoël,
0083der schon früher seine Ersparnisse geopfert, um die zerstörte
0084Maierei Dinorah’s wieder herzustellen, verzichtet nun auf das
0085zweifelhafte Glück, durch Zauberei noch reicher zu werden, als
0086er es schon an ihrer Seite ist. „Und der Schatz?“ fragt drin-
0087gend Corentin. „Ist dahin! doch ihr Herz ersetzt mir ihn!“
0088Gerade als die Procession am Tage des feierlichen Ablasses zu
0089Ploërmel wieder nach der Marienkapelle zieht, feiern nun
0090Dinorah und Hoël ihre wirkliche Vermälung.


0091Diese kurze, aber vollständige Erzählung dürfte Jedermann
0092ohneweiters mit den gerechtesten Bedenken gegen das Libretto,
0093zugleich mit dem lebhaftesten Bedauern erfüllen, daß ein Künst-
0094ler von der eminenten Begabung und dem unberechenbaren
0095Einfluß Meyerbeer’s sich zur Verherrlichung solchen Machwerks
0096verstehen konnte. Vergebens suchen wir in diesen Charakteren
0097und Begebenheiten nach der Spur einer sittlichen Idee. Nicht
0098blos jeder ethische, auch der logische Zusammenhang fehlt der
0099Handlung und wird durch die rohe Maschinerie des Zufalls
0100ersetzt. Die Heldin des Stückes ist eine arme, geisteskranke
0101Person, die uns höchstens ein widerwilliges Mitleid einflößt.
0102Wer kann tieferes Interesse an einer verrückten Hirtin nehmen,
0103die, von jedem geistigen Zusammenhang mit der Außenwelt ab-
0104geschnitten kein anderes Pathos hat, als ihrer Ziege nachzu-
0105laufen, mit ihrem Schatten zu spielen und sich beim Dudel-
0106sack halbtodt zu walzen? Der Wahnsinn, sonst oft der leidige
0107Nothhelfer im letzten Acte tragischer Opern, erscheint hier in
0108gemüthlicher Permanenz und tritt gleich anfangs als regelmä-
0109ßiger Zustand auf. Welch tiefe Verirrung eines Künstlers ge-
0110hört dazu, den Wahnsinn, diesen schlimmeren Wandnachbar
0111des Todes, blos als effectvollen Aufputz einer Viehmagd, als
0112ein neues Reizmittel für die komische Oper zu verwenden?
0113Gerade wie ein Flügelhorn oder eine Baß-Clarinette, die Meyer-
0114beer einer an sich alltäglichen Melodie beifügt, um sie pikanter
0115zu machen, gebraucht er hier die Geistesstörung als psychologi[2]-
0116schen Klangeffect. Der Wahnsinn und — die Ziege, das sind
0117die beiden saubern Attribute, durch welche „Dinorah“ dem Pu-
0118blicum pikant und originell erscheinen soll. Droht die Hand-
0119lung zu stocken, so läßt Meyerbeer die Ziege über die Bühne
0120laufen und ihr Glöcklein erklingen — man kann es nach Be-
0121lieben das Ziegen- oder das Zügenglöckchen der dramatischen
0122Musik heißen. Die beiden Männer, welche neben Dinorah das
0123ganze Personal der Handlung bilden, befinden sich gleichfalls
0124in der tiefsten Diätenclasse der Menschheit. Der herzlose Hoël 
0125verläßt seine Braut am Hochzeitstage, um auf eine abergläu-
0126bische Vorspiegelung hin für ein volles Jahr zu verschwinden.
0127Er denkt nur an Gold, das er aber nicht erwerben, sondern
0128finden will, und wenn er beiläufig versichert, er wolle den
0129Schatz eigentlich um Dinorah’s willen, so ist kaum Jemand
0130so gutmüthig, ihm das zu glauben. Dieser habsüchtige Pa-
0131tron, der seine Braut der Noth und Verzweiflung überläßt,
0132ist auch schlecht genug, einen schwachsinnigen armen Teufel für
0133seine Zwecke zu opfern. Corentin soll sich den Tod holen,
0134damit Hoël reich werde; als er sich dieser Zumuthung wehrt,
0135heißt ihn Hoël entrüstet einen „feigen Wicht“. Hoël ist aber-
0136gläubisch und schlecht, trotzdem wird er vom Dichter und Com-
0137ponisten im Ton unverkennbarer Werthschätzung behandelt. In
0138Corentin präsentirt sich uns ein halber Cretin, der an Dumm-
0139heit und Furchtsamkeit seinen Freund Hoël noch unendlich über-
0140trifft, während dieser hingegen ihm in der Nichtswürdigkeit
0141voraus ist. Der Sackpfeifer freut sich in einigen Couplets
0142ausnehmend, ein furchtsamer Lump zu sein. Allerdings unzu-
0143rechnungsfähiger als Hoël, versteht dieser musikalische Schlau-
0144kopf doch genug, um aus Eigennutz gleichfalls einen mittelba-
0145ren Mord zu versuchen, indem er Dinorah zur Berührung des
0146todbringenden Schatzes überredet. Das sind die Personen, deren
0147Gedanken und Gefühle uns ein ganzes Drama hindurch er-
0148freuen und bewegen sollen, das der Ideenkreis, für welchen ein
0149Meyerbeer auf der Höhe seines Ruhmes sich begeistert!
0150Und ein einziger Blitzstrahl, der zufällig in einen Baumstamm
0151schlägt, entzündet diese ganze Misère zu einer reinen, idealen
0152Flamme: er heilt den Wahnsinn und adelt die Schufte.


0153Man nenne unsere Verurtheilung des „Dinorah“-Stoffes
0154nicht zu hart: kaum wäre sie es gegenüber einem rathlosen
0155Anfänger, geschweige denn gegen den Meister, dem jederzeit
0156Hunderte von Stoffen sammt den dazu gehörigen Poeten zu 
0157Füßen lagen. Es ist ein unverlierbarer Fortschritt und ein
0158Axiom des heutigen ästhetischen Bewußtseins, daß der Opern-
0159Componist für die von ihm gewählte Dichtung verantwortlich
0160sei; er steht ein, nicht für ihre technischen Eigenschaften, aber
0161für ihren sittlichen und künstlerischen Kern.


0162Was konnte aber Meyerbeer, den Beherrscher der Großen
0163Oper, verleiten, sich nach seinen grandiösen, historischen Schau-
0164spielen plötzlich auf die einfältigen Ziegenhirten der Bretagne 
0165zu werfen? Für dies seltsame Umschlagen bietet sich eine
0166psychologische Erklärung, sie liegt in dem Reiz des Con-
0167trastes
. Das scheinbar Naturzuständliche, Idyllische dieses
0168einfachen Stoffes mochte gerade den ruhmerdrückten Compo-
0169nisten der „Hugenotten“ und des „Propheten“ anlocken. Schon
0170in der letztgenannten Oper, dem „Propheten“, macht sich die
0171qualvolle Anstrengung des Meisters bemerkbar, die Wirkung
0172seines „Robert“ und der „Hugenotten“ zu überbieten. Das
0173dramatische und musikalische Raffinement, die innere Verzer-
0174rung wie das äußere Hör- und Schaugepränge sind darin auf
0175eine Spitze getrieben, die zu übergipfeln selbst Meyerbeer sich
0176nicht mehr zutrauen durfte. Der „Nordstern“ folgt nur in
0177seiner jetzigen, für Paris verübten Zurichtung (1854) nach 
0178dem „Propheten.“ Was in dieser Musik noch frisch und
0179würdig und auf der Höhe von Meyerbeer’s Talent ist, stammt
0180aus dem „Feldlager von Schlesien“, das bekanntlich schon im
0181Jahre 1844 in Berlin zur Aufführung kam. Aber aus die-
0182ser bescheidenen deutschen Oper sollte durchaus eine franzö-
0183sische, eine Weltoper werden. Die Umgestaltung des „Feld-
0184lagers“ in den „Nordstern“ gehört zu den merkwürdigsten und
0185traurigsten Documenten für die letzte Entwicklungsphase von
0186Meyerbeer’s Talent. Welche Carrière bergab liegt in diesen
0187zehn Jahren 18441854 ! Aus Friedrich dem Großen mußte
0188ein flötenblasender Tischlergeselle, aus dem biedern General
0189Seldorf ein besoffener Czar, aus dem volksthümlichen Dessauer-
0190marsch ein „heiliger Marsch der Russen“ werden — Trun-
0191kenheit, Mord, Wahnsinn und viel schlechte Musik mußten in
0192das nationale Genrebild hinein damit es nicht blos den
0193Deutschen, sondern der Welt gefalle. Wir dächten, der „Welt“
0194müßte selbst das specifische Preußenthum immer noch lieber
0195sein, als Unschönheit und Widersinn im Allgemeinen. Auch
0196auf der Bahn des „Nordstern“ konnte der alternde Meyer-
0197beer nicht mehr hoffen, sich ein zweitesmal einzuholen. „L’étoile -
0198du Nord“ war dem Namen nach eine „komische Oper“, näm-
0199lich ein von Heroismus, Verbrechen und Wahnsinn triefendes
0200Stück, das aber kein Ballet enthielt, gesprochenen Dialog ver-
0201wendete und auf der Bühne der Opéra Comique zur
0202Vorstellung kam. Weder dramatisch noch musikalisch — man
0203denke an die grandiösen Finale und die drei Militärbanden
0204auf der Bühne — gehörte der „Nordstern“ dem leichten ko-
0205mischen Genre an. In der „Dinorah“ beabsichtigte Meyer-
0206beer eine wirkliche komische Oper in ihrer einfachsten Gestal-
0207tung zu bringen. Decorationen und Costüm von schlichter
0208Ländlichkeit, keine großen Ensembles oder Finale, nur drei
0209handelnde Personen, und hinter diesen statt des historischen
0210Hintergrundes und der russischen Armeen — nichts als
0211eine Ziege!


0212Meyerbeer kommt uns in seiner „Dinorah“ vor, wie
0213ein verwöhnter, blasirter Großstädter, der zur Abwechslung
0214einmal für ein abgelegenes Gebirgsdorf schwärmt, wohin er
0215natürlich all seine Parfüms und Prätensionen, seine luxuriösen
0216Diners, Spielpartien und sonstigen Leidenschaften mitimmt.
0217Der Genius loci flieht vor dem eleganten Treiben, und die
0218stille waldgrüne Einsamkeit ist nicht mehr zu erkennen. Daß
0219Meyerbeer in dem Hirtenleben nicht die herbe Kraft des Natur-
0220gemäßen, sondern den Hautgoût des Ungewohnten suchen werde,
0221ließ sich am Ende gerade dieser theatralischen Laufbahn wol
0222voraussetzen. In der That haben die giftigen Stoffe, die in
0223Meyerbeer’s früheren Opern sich meist in effectvollen Aeußer-
0224lichkeiten Luft machten, sich hier ganz in den innern Orga-
0225nismus gezogen: in Melodie, Harmonie und Rhythmus. Es
0226herrscht darin eine unersättliche Künstelei und Ueberladung,
0227sentimentales Prahlen, wo wir herzliche Innigkeit, trockene
0228Spaßmacherei, wo wir behagliche Komik erwarten. Geistreiche
0229Combination und glänzende Behandlung des Effectes entfaltet
0230Meyerbeer natürlich hier wie überall, das bedarf bei diesem
0231Meister der Technik kaum der Erwähnung. Auch einzelne gra-
0232ciöse Nummern und allerliebste musikalische Einfälle fehlen
0233nicht, selbst einige schnell verhallende Anklänge von Wahrheit
0234und Innigkeit grüßen wie von ferne. Aber sobald sie sich
0235zeigen, flüchtet der Componist ängstlich, als fürchte er wie
0236Hoël durch das Ergreifen gediegenen Goldes sein Leben zu
0237verwirken.

Fußnoten
  • *)Die erste Aufführung der „Dinorah“ ging heute mit dem
    günstigsten Erfolge vor sich. Die treffliche Scenirung und die vorzüg-
    lichen Leistungen von Frl. Murska (Dinorah), Hr. Beck (Hoël) und
    Hr. Eppich (Corentin) dürfen sich wol das größte Verdienst an die-
    sem Succeß zuschreiben. Wir kommen am Schlusse unseres zweiten
    Artikels ausführlicher auf die Darstellung im Hofoperntheater zurück.