Ed. H.*) Meyerbeer’s „Dinorah“ hat endlich ihren stark
0010verspäteten Einzug in Wien gehalten. Fünf volle Jahre sind
0011es beinahe, seit „Le Pardon de Ploërmel“ am 4. April
00121859 in der Pariser Opéra Comique zuerst das Lampenlicht
0013erblickte. Die rührende Ammensorgfalt, mit welcher Meyerbeer
0014jedes seiner Kinder persönlich in die Welt einführte, konnte sich
0015damals mit dem Personale des Kärntnerthor-Theaters nicht zu-
0016friedengeben, und er hat zeitlebens „Dinorah“ dieser Bühne
0017ängstlich vorenthalten. Seither sind die beiden Coloratur-Sän-
0018gerinnen, welche sich hier um die Ziege stritten, aus dem Ver-
0019band des Hofoperntheaters getreten, und Meyerbeer selbst ist die-
0020sem Jammerthal irdischer Befürchtungen für immer entrückt
0021worden. Die Bahn war nach allen Seiten frei, und so zögerte
0022denn auch die Direction nicht mit der verbotenen Frucht, die
0023sie jahrelang mit Schmerz an den Repertoires unserer Provinz-
0024bühnen hatte hangen sehen.
0025Die Handlung der Oper ist in Kurzem folgende: Di-
0026norah und ihr Bräutigam Hoël, beide ihres Zeichens Zie-
0027genhirten in der Bretagne, wollen eben in der Wallfahrtskirche
0028zu Ploërmel ihre Vermälung vollziehen lassen, als ein furcht-
0029barer Orcan losbricht. Das Ungewitter treibt nicht nur den
0030zum Altar der Madonna schreitenden Hochzeitszug auseinander,
0031sondern trifft auch mit einem Blitzstrahl die Maierei von
0032Dinorah’s Vater. Die Aussicht auf eine an Mühsal und Ent-
0033behrungen reiche Zukunft bestimmt Hoël, wenigstens vorderhand
0034die Verbindung aufzugeben, umsomehr, als ihm durch einen
0035Hexenmeister des Dorfes die Möglichkeit, einen großen, von
0036Kobolden und Zwergen bewachten Schatz zu heben, so plausibel
0037als möglich gemacht wird. Um für diese That gefeit zu sein,
0038muß er zuvor, fern von jeder menschlichen Berührung, ein
0039volles Jahr in einer unbekannten Schlucht zubringen! Darob
0040wird die treulos verlassene Dinorah wahnsinnig und irrt Tag
0041und Nacht mit ihrer Ziege Bella durch die Wälder, um den
0042Bräutigam zu suchen. Dieser kehrt nach abgelaufenem Probe-
0043jahr zurück, und zwar, da jener Hexenmeister bereits gestorben,
0044als alleiniger Besitzer des Schatzgeheimnisses. Dies Alles er-
0045fahren wir durch — die Ouverture, oder vielmehr durch das
0046ihr vorgedruckte Programm, welches die Vorhandlung des
0047Stückes erzählt.
0048Die Oper selbst (welche in drei Acte, „der Abend,“ „die
0049Nacht“ und „der Morgen“, zerfällt) führt uns gleich anfangs
0050die wahnsinnige Dinorah vor. Die Situationen, in welche die
0051umherschweifende Braut mit ihrem Schatten, mit Bella, dann
0052mit Hoël selbst und dem Sackpfeifer Corentin geräth, bil-
0053den die größere Hälfte der äußerst dürftigen Handlung. Coren-
0054tin ist es, der dem schatzgierigen Hoël die Kastanien aus dem
0055Feuer holen soll. Mit der Hebung des Schatzes hat es näm-
0056lich eine eigene Bewandtniß: derjenige, der das Gold zuerst
0057berührt, stirbt noch im selben Jahre. Deshalb trachtet Hoël,
0058den Dudelsackpfeifer durch die Aussicht auf großen Reichthum
0059zu bewegen, um Mitternacht die gespenstische Schlucht zu be-
0060suchen, um ihm bei Hebung des Schatzes, natürlich in erster
0061Reihe, behilflich zu sein. Eben als sie die Einöde betreten,
0062erscheint Dinorah und macht, halb unbewußt, Corentin von
0063dem am Schatze haftenden Zauber, zufolge dessen die erste
0064unmittelbare Berührung auch den sicheren Tod mit sich bringt,
0065bekannt. Begreiflicherweise will nun der ohnehin äußerst furcht-
0066same Sackpfeifer nichts von einer Priorität bei dem bevorstehen-
0067den Unternehmen wissen. Er möchte Dinorah vorschieben und
0068beredet sie vorläufig, den Baumstamm, der als einzige Brücke
0069über die Schlucht zu dem Schatze führt, zuerst zu überschreiten.
0070Es schlägt gerade Mitternacht. Dinorah hört das Glöckchen
0071ihrer Ziege und will ihr nacheilen. Eben als sie sich auf dem
0072schwanken Steg in vollem Lauf befindet, schlägt ein Blitz in
0073denselben, die Schleußen der Schlucht werden von dem plötzlich
0074entfesselten Wogenschwall durchbrochen und die irre Heldin von
0075Ploërmel stürzt hinab in die Fluth. Dieser scheinbar tödtliche
0076Sturz erweist sich aber im dritten Act als ein absolut glück-
0077licher. Nicht nur wird Dinorah von Hoël den Wellen ent-
0078rissen und ein Leben gerettet, der außerordentliche Schreck
0079bringt ihr auch wieder die Besinnung. Sie denkt, einen schwe-
0080ren Traum überstanden zu haben, und sieht ihre vor Jahres-
0081frist so plötzlich gestörten Wünsche aufs neue erfüllt. Hoël,
0082der schon früher seine Ersparnisse geopfert, um die zerstörte
0083Maierei Dinorah’s wieder herzustellen, verzichtet nun auf das
0084zweifelhafte Glück, durch Zauberei noch reicher zu werden, als
0085er es schon an ihrer Seite ist. „Und der Schatz?“ fragt drin-
0086gend Corentin. „Ist dahin! doch ihr Herz ersetzt mir ihn!“
0087Gerade als die Procession am Tage des feierlichen Ablasses zu
0088Ploërmel wieder nach der Marienkapelle zieht, feiern nun
0089Dinorah und Hoël ihre wirkliche Vermälung.
0090Diese kurze, aber vollständige Erzählung dürfte Jedermann
0091ohneweiters mit den gerechtesten Bedenken gegen das Libretto,
0092zugleich mit dem lebhaftesten Bedauern erfüllen, daß ein Künst-
0093ler von der eminenten Begabung und dem unberechenbaren
0094Einfluß Meyerbeer’s sich zur Verherrlichung solchen Machwerks
0095verstehen konnte. Vergebens suchen wir in diesen Charakteren
0096und Begebenheiten nach der Spur einer sittlichen Idee. Nicht
0097blos jeder ethische, auch der logische Zusammenhang fehlt der
0098Handlung und wird durch die rohe Maschinerie des Zufalls
0099ersetzt. Die Heldin des Stückes ist eine arme, geisteskranke
0100Person, die uns höchstens ein widerwilliges Mitleid einflößt.
0101Wer kann tieferes Interesse an einer verrückten Hirtin nehmen,
0102die, von jedem geistigen Zusammenhang mit der Außenwelt ab-
0103geschnitten kein anderes Pathos hat, als ihrer Ziege nachzu-
0104laufen, mit ihrem Schatten zu spielen und sich beim Dudel-
0105sack halbtodt zu walzen? Der Wahnsinn, sonst oft der leidige
0106Nothhelfer im letzten Acte tragischer Opern, erscheint hier in
0107gemüthlicher Permanenz und tritt gleich anfangs als regelmä-
0108ßiger Zustand auf. Welch tiefe Verirrung eines Künstlers ge-
0109hört dazu, den Wahnsinn, diesen schlimmeren Wandnachbar
0110des Todes, blos als effectvollen Aufputz einer Viehmagd, als
0111ein neues Reizmittel für die komische Oper zu verwenden?
0112Gerade wie ein Flügelhorn oder eine Baß-Clarinette, die Meyer-
0113beer einer an sich alltäglichen Melodie beifügt, um sie pikanter
0114zu machen, gebraucht er hier die Geistesstörung als psychologi[2]-
0115schen Klangeffect. Der Wahnsinn und — die Ziege, das sind
0116die beiden saubern Attribute, durch welche „Dinorah“ dem Pu-
0117blicum pikant und originell erscheinen soll. Droht die Hand-
0118lung zu stocken, so läßt Meyerbeer die Ziege über die Bühne
0119laufen und ihr Glöcklein erklingen — man kann es nach Be-
0120lieben das Ziegen- oder das Zügenglöckchen der dramatischen
0121Musik heißen. Die beiden Männer, welche neben Dinorah das
0122ganze Personal der Handlung bilden, befinden sich gleichfalls
0123in der tiefsten Diätenclasse der Menschheit. Der herzlose Hoël
0124verläßt seine Braut am Hochzeitstage, um auf eine abergläu-
0125bische Vorspiegelung hin für ein volles Jahr zu verschwinden.
0126Er denkt nur an Gold, das er aber nicht erwerben, sondern
0127finden will, und wenn er beiläufig versichert, er wolle den
0128Schatz eigentlich um Dinorah’s willen, so ist kaum Jemand
0129so gutmüthig, ihm das zu glauben. Dieser habsüchtige Pa-
0130tron, der seine Braut der Noth und Verzweiflung überläßt,
0131ist auch schlecht genug, einen schwachsinnigen armen Teufel für
0132seine Zwecke zu opfern. Corentin soll sich den Tod holen,
0133damit Hoël reich werde; als er sich dieser Zumuthung wehrt,
0134heißt ihn Hoël entrüstet einen „feigen Wicht“. Hoël ist aber-
0135gläubisch und schlecht, trotzdem wird er vom Dichter und Com-
0136ponisten im Ton unverkennbarer Werthschätzung behandelt. In
0137Corentin präsentirt sich uns ein halber Cretin, der an Dumm-
0138heit und Furchtsamkeit seinen Freund Hoël noch unendlich über-
0139trifft, während dieser hingegen ihm in der Nichtswürdigkeit
0140voraus ist. Der Sackpfeifer freut sich in einigen Couplets
0141ausnehmend, ein furchtsamer Lump zu sein. Allerdings unzu-
0142rechnungsfähiger als Hoël, versteht dieser musikalische Schlau-
0143kopf doch genug, um aus Eigennutz gleichfalls einen mittelba-
0144ren Mord zu versuchen, indem er Dinorah zur Berührung des
0145todbringenden Schatzes überredet. Das sind die Personen, deren
0146Gedanken und Gefühle uns ein ganzes Drama hindurch er-
0147freuen und bewegen sollen, das der Ideenkreis, für welchen ein
0148Meyerbeer auf der Höhe seines Ruhmes sich begeistert!
0149Und ein einziger Blitzstrahl, der zufällig in einen Baumstamm
0150schlägt, entzündet diese ganze Misère zu einer reinen, idealen
0151Flamme: er heilt den Wahnsinn und adelt die Schufte.
0152Man nenne unsere Verurtheilung des „Dinorah“-Stoffes
0153nicht zu hart: kaum wäre sie es gegenüber einem rathlosen
0154Anfänger, geschweige denn gegen den Meister, dem jederzeit
0155Hunderte von Stoffen sammt den dazu gehörigen Poeten zu
0156Füßen lagen. Es ist ein unverlierbarer Fortschritt und ein
0157Axiom des heutigen ästhetischen Bewußtseins, daß der Opern-
0158Componist für die von ihm gewählte Dichtung verantwortlich
0159sei; er steht ein, nicht für ihre technischen Eigenschaften, aber
0160für ihren sittlichen und künstlerischen Kern.
0161Was konnte aber Meyerbeer, den Beherrscher der Großen
0162Oper, verleiten, sich nach seinen grandiösen, historischen Schau-
0163spielen plötzlich auf die einfältigen Ziegenhirten der Bretagne
0164zu werfen? Für dies seltsame Umschlagen bietet sich eine
0165psychologische Erklärung, sie liegt in dem Reiz des Con-
0166trastes. Das scheinbar Naturzuständliche, Idyllische dieses
0167einfachen Stoffes mochte gerade den ruhmerdrückten Compo-
0168nisten der „Hugenotten“ und des „Propheten“ anlocken. Schon
0169in der letztgenannten Oper, dem „Propheten“, macht sich die
0170qualvolle Anstrengung des Meisters bemerkbar, die Wirkung
0171seines „Robert“ und der „Hugenotten“ zu überbieten. Das
0172dramatische und musikalische Raffinement, die innere Verzer-
0173rung wie das äußere Hör- und Schaugepränge sind darin auf
0174eine Spitze getrieben, die zu übergipfeln selbst Meyerbeer sich
0175nicht mehr zutrauen durfte. Der „Nordstern“ folgt nur in
0176seiner jetzigen, für Paris verübten Zurichtung (1854) nach
0177dem „Propheten.“ Was in dieser Musik noch frisch und
0178würdig und auf der Höhe von Meyerbeer’s Talent ist, stammt
0179aus dem „Feldlager von Schlesien“, das bekanntlich schon im
0180Jahre 1844 in Berlin zur Aufführung kam. Aber aus die-
0181ser bescheidenen deutschen Oper sollte durchaus eine franzö-
0182sische, eine Weltoper werden. Die Umgestaltung des „Feld-
0183lagers“ in den „Nordstern“ gehört zu den merkwürdigsten und
0184traurigsten Documenten für die letzte Entwicklungsphase von
0185Meyerbeer’s Talent. Welche Carrière bergab liegt in diesen
0186zehn Jahren 1844—1854 ! Aus Friedrich dem Großen mußte
0187ein flötenblasender Tischlergeselle, aus dem biedern General
0188Seldorf ein besoffener Czar, aus dem volksthümlichen Dessauer-
0189marsch ein „heiliger Marsch der Russen“ werden — Trun-
0190kenheit, Mord, Wahnsinn und viel schlechte Musik mußten in
0191das nationale Genrebild hinein damit es nicht blos den
0192Deutschen, sondern der Welt gefalle. Wir dächten, der „Welt“
0193müßte selbst das specifische Preußenthum immer noch lieber
0194sein, als Unschönheit und Widersinn im Allgemeinen. Auch
0195auf der Bahn des „Nordstern“ konnte der alternde Meyer-
0196beer nicht mehr hoffen, sich ein zweitesmal einzuholen. „L’étoile -
0197du Nord“ war dem Namen nach eine „komische Oper“, näm-
0198lich ein von Heroismus, Verbrechen und Wahnsinn triefendes
0199Stück, das aber kein Ballet enthielt, gesprochenen Dialog ver-
0200wendete und auf der Bühne der Opéra Comique zur
0201Vorstellung kam. Weder dramatisch noch musikalisch — man
0202denke an die grandiösen Finale und die drei Militärbanden
0203auf der Bühne — gehörte der „Nordstern“ dem leichten ko-
0204mischen Genre an. In der „Dinorah“ beabsichtigte Meyer-
0205beer eine wirkliche komische Oper in ihrer einfachsten Gestal-
0206tung zu bringen. Decorationen und Costüm von schlichter
0207Ländlichkeit, keine großen Ensembles oder Finale, nur drei
0208handelnde Personen, und hinter diesen statt des historischen
0209Hintergrundes und der russischen Armeen — nichts als
0210eine Ziege!
0211Meyerbeer kommt uns in seiner „Dinorah“ vor, wie
0212ein verwöhnter, blasirter Großstädter, der zur Abwechslung
0213einmal für ein abgelegenes Gebirgsdorf schwärmt, wohin er
0214natürlich all seine Parfüms und Prätensionen, seine luxuriösen
0215Diners, Spielpartien und sonstigen Leidenschaften mitimmt.
0216Der Genius loci flieht vor dem eleganten Treiben, und die
0217stille waldgrüne Einsamkeit ist nicht mehr zu erkennen. Daß
0218Meyerbeer in dem Hirtenleben nicht die herbe Kraft des Natur-
0219gemäßen, sondern den Hautgoût des Ungewohnten suchen werde,
0220ließ sich am Ende gerade dieser theatralischen Laufbahn wol
0221voraussetzen. In der That haben die giftigen Stoffe, die in
0222Meyerbeer’s früheren Opern sich meist in effectvollen Aeußer-
0223lichkeiten Luft machten, sich hier ganz in den innern Orga-
0224nismus gezogen: in Melodie, Harmonie und Rhythmus. Es
0225herrscht darin eine unersättliche Künstelei und Ueberladung,
0226sentimentales Prahlen, wo wir herzliche Innigkeit, trockene
0227Spaßmacherei, wo wir behagliche Komik erwarten. Geistreiche
0228Combination und glänzende Behandlung des Effectes entfaltet
0229Meyerbeer natürlich hier wie überall, das bedarf bei diesem
0230Meister der Technik kaum der Erwähnung. Auch einzelne gra-
0231ciöse Nummern und allerliebste musikalische Einfälle fehlen
0232nicht, selbst einige schnell verhallende Anklänge von Wahrheit
0233und Innigkeit grüßen wie von ferne. Aber sobald sie sich
0234zeigen, flüchtet der Componist ängstlich, als fürchte er wie
0235Hoël durch das Ergreifen gediegenen Goldes sein Leben zu
0236verwirken.