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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 397 Wien, Freitag den 6. October 1865

[1]

Hofoperntheater.

(„Flick und Flock“, Ballet von P. Taglioni.)


0003Ed. H. Unter den Namen „Flick“ und „Flock“ haben
0004gestern bei uns zwei muntere Abenteurer debutirt, welche sich
0005seit mehreren Jahren der größten Ehrenbezeigungen von
0006Seiten der Berliner Bevölkerung rühmen können. Ihre kurz
0007angebundenen, mit flohartiger Elasticität aufschnellenden Namen
0008bilden die Firma eines komischen Zauberballets, das — am
000920. September 1858 zum erstenmal gegeben — in Berlin 
0010bereits über hundert Wiederholungen erlebt hat. Ballet-Novi-
0011täten von einigem Werth und Erfolg stehen an Seltenheit
0012guten neuen Opern kaum mehr nach, was konnte man somit
0013hier Besseres thun, als „Flick und Flock“ endlich nach Wien zu
0014berufen und ihren würdigen Urheber, Herrn Taglioni, dazu?
0015Paul Taglioni, jener illustren Familie angehörig, die ein
0016förmliches Erblehen von Terpsichore selbst besitzt, ist übrigens
0017für seine Person der angesehenste Balletmeister in Deutsch-
0018land und der Autor des reizendsten modernen Ballets: „Sa-
0019tanella“. Taglioniʼs Talent für choreographische Erfindung
0020und Combination wird durch die Gewandtheit noch über-
0021troffen, mit welcher er diese Fußdichtungen praktisch in Scene
0022setzt. Stramm und kaltblütig, die Hände in den Hosen-
0023taschen, stand er, ein alter Feldherr, einige Wochen lang in
0024dem wirbelnden Gedränge der Balletproben, bis auf sein
0025Commando die Lebensschicksale Flockʼs sowol, als Flickʼs auf
0026unserer Bühne plastische Rundung angenommen hatten. Diese
0027Schicksale selbst sind allerwunderbarster Natur. Wenn man
0028aber die Eine Voraussetzung zugibt, nämlich die Aufhebung
0029sämmtlicher Naturgesetze, so kann es wieder nichts Einfacheres
0030und Pragmatischeres geben, als die Erlebnisse von Flick und Flock.


0031Mynheer van der Straaten, nicht der ästhetische
0032Kauf- und Lebemann aus „Uriel Akosta“, sondern ein zau-
0033berkundiger Landsmann desselben, hinterläßt seiner Familie 
0034Schulden und leere Wände. Was noch von den Möbeln an diesen
0035Wänden lehnt, wird bereits in den ersten Scenen auf Geheiß
0036eines bösgearteten Bürgermeisters von Gerichtsdienern gepfän-
0037det und fortgetragen. Eben will diese militia vagans der
0038Gerechtigkeit auch an das Bildniß des verewigten Alchymisten
0039Hand anlegen, als dieses herabstürzt und einen geheimniß-
0040vollen Gang in der Wand sichtbar werden läßt. Flick (der
0041Enkel van der Straatenʼs) und sein Freund Flock kriechen
0042in diesen Tunnel und gerathen forttastend endlich in eine
0043unterirdische Gnomenhöhle.


0044Es ist eine prachtvolle Höhle! Von magischem Licht allmälig
0045erhellt, glänzen die Wände (Herr Brioschi hat nichts gespart)
0046von Gold, Krystall und Edelsteinen. In den Nischen der
0047Hauptpfeiler sitzen Kobolde mit colossalen Charakterköpfen;
0048ein Heer von winzigen Gnomen und Gnominnen in schwarz-
0049roth-goldenen Röckchen und spitzen Hüten kommt hereinge-
0050hüpft, dazu liebliche Bergwerks-Nymphen, in silberschillernde
0051Stoffe nicht allzu dicht gekleidet, schmucke Glockenspiel-Vir-
0052tuosen und schwarzbärtige, keulenschwingende Athleten — sie
0053Alle vereinigen sich zu einem „Ballabile“, dessen kunstvolle
0054Rhythmik und malerische Gruppirung zu dem Gefälligsten
0055und Ueberraschendsten gehört, was wir in diesem Genre ken-
0056nen. In nicht ganz klarer Weise wendet sich nun plötzlich
0057die Handlung zum Tragischen. Dem Textbuch zufolgte ist es
0058Flockʼs Erklärung der Gefühle seines leicht entzündlichen
0059Herzens“, was ihn und seinen Gefährten ins Unglück stürzt.
0060Beide Fremdlinge sollen auf Befehl des Gnomenkönigs und
0061Vaters der von ihnen bewunderten Tänzerin „Topaze“ sofort
0062geköpft werden, welcher betrübende Zwischenfall nur durch
0063den wunderbaren Orakelspruch der „Göttin der Wahrheit“
0064abgewendet wird: „Zu finden suche für den Heil des Talis-
0065mans anderen Theil.“ Wir bitten den geehrten Leser instän-
0066dig, uns durch Fragen über den Sinn dieses Orakels nicht
0067allzusehr zu beschämen.


0068Genug, daß die beiden Freunde pardonnirt und an die
0069Oberfläche der Erde zurückgebracht werden. Sie sollen aber 
0070bald nur desto tiefer sinken. In einem Seesturm zerschellt
0071nämlich ihr Kahn, sie setzen sich rittlings auf das unterseeische
0072Telegraphen-Kabel, aus dem aber einige durchreisende Depe-
0073schen Funken sprühen, und erreichen so den Meeresgrund.
0074Die „Bewohner des Meeres“ beeilen sich, unsere Kabelreiter
0075zu bewirthen und mit Tänzen zu unterhalten. Allein selbst
0076hier in demokratischester Meerestiefe soll es nicht ohne
0077bureaukratische Vexation ablaufen. Ein See-Polizei-Commissär 
0078erscheint in Gestalt eines riesigen gesottenen Krebses und
0079chicanirt die Reisenden auf das empfindlichste ob ihrer Passe,
0080wobei ihm seine beiden Zwickscheren die ersprießlichsten Dienste
0081leisten. Die Scene ist überaus drollig und wird noch durch
0082den lebhaften Antheil hinzutretender Häringe, Frösche und
0083anderer Meerbummler effectvoll gesteigert. Nach solchem Realis-
0084mus kommt natürlich die Reihe wieder an das Ideale, das
0085— mit gewohnter Eleganz von Frau Telle repräsentirt —
0086als „Meerkönigin Amphytrite“ in die Handlung eintritt.
0087Um Flock zu zeigen, wo er den „Gegenstand seines Suchens“
0088finden könne (wir Andern wissen nicht einmal, was er sucht),
0089führt ihm Amphytrite fünf Städtebilder vor: Berlin, Lon-
0090don, Paris, Petersburg und Wien. Das allmälige Auftau-
0091chen dieser von Brioschi reizend gemalten Beduten ist von
0092blendender Wirkung. Der Charakter dieser Städte soll uns
0093aber nicht blos malerisch, sondern zugleich musikalisch und
0094choreographisch versinnlicht werden; National-Melodien und
0095Nationaltänze umrahmen zierend und erläuternd das Land-
0096schaftsbild. Die Idee ist recht glücklich, in einigen Theilen
0097hätte sie allerdings noch treffender ausgeführt werden können.
0098Das ästhetisch dürftige England wird schicklich durch „Rule
0099Britannia
“ angekündigt und durch einen Matrosentanz illu-
0100strirt. Zu letzterem liefert das Boxen einige glückliche
0101Motive, hingegen scheint uns das weiße Pierrot-Costüm der
0102Matrosen ein Mißgriff.


0103Zu dem russischen Bild muß Polen den Tanz vor-
0104strecken — immerhin, die Mazurka bleibt einer der köstlichsten
0105Tänze und wird von Frln. Couqui allerliebst ausgeführt. [2]
0106Für Paris hätte die Marseillaise oder Parisienne 
0107das populärste musikalische Citat abgegeben; es scheint, daß
0108man politische Anspielungen scheute. Der Cancan als ge-
0109tanzte Charakteristik der französischen Nation ist nicht un-
0110passend, wol aber ist das Marketenderinnen-Costüm unpassend
0111für diesen Tanz und unkleidsam obendrein.


0112Das Berliner Bild hätte bei uns einem ästhetisch
0113ergiebigeren Platz (Neapel, Rom, Madrid) weichen sollen.
0114Wie spärlich verfügt Preußen über ästhetische Lebensformen
0115von charakteristischer oder rein sinnlicher Schönheit! Welche
0116Musik, welche Tracht, welchen Tanz sollen wir als specifisch
0117preußisch oder gar berlinerisch erkennen? Der Tanz, den
0118man die Preußen ausführen ließ, war — spaßhaft genug —
0119eine Polka Française! Wien taucht unter den süßlich
0120faden Klängen des Klesheimʼschen „Mailüfterls“ aus den
0121Wellen. Zu unserem modernen Wien, dessen neue Phy-
0122siognomie in Brioschiʼs Bild mit dem vollen Zauber der
0123Gegenwart hervortritt, paßt jener sentimentale Bänkelsang
0124wahrhaftig nicht. Aus der Zahl der wahrhaft gemüthvollen
0125und wahrhaft nationalen Melodien Oesterreichs, selbst aus
0126den „fidelen“ specifisch wienerischen Volksliedern wäre
0127eine bessere Wahl leicht und lohnend gewesen. Zum Glück
0128nimmt bei der Aufführung selbst das blendende Zusammen-
0129wirken des Bildes und des trefflich arrangirten, lebensvollen
0130Jägertanzes den Zuseher völlig gefangen. Das Publicum
0131brach hier in so anhaltenden Jubel aus, daß der Erfolg die-
0132ses „Wiener Tableaus“, allein schon die Zukunft des ganzen
0133Ballets garantiren dürfte.


0134Der dritte Act — er fällt leider gegen die früheren
0135merklich ab — führt uns wieder in die vom Anfang her
0136wohlbekannte Stube der Straatens.


0137Die Großmutter Flockʼs und deren Pathenkind, die hübsche
0138Nella, trauern eben um die todt geglaubten Reisenden, als
0139diese mit freudigem Ungestüm wohlbehalten hereinstürzen. Daß
0140Nella für Flick aufbewahrt sei, unterlag keinem Zweifel.
0141Was istʼs aber mit Flock? Dieser, offenbar schwärmerischer 
0142angelegt als sein Freund, hat sich — in das Porträt der
0143Großmutter vergafft. Um die runzlige Dame wieder so jung
0144zu machen, wie sie auf dem alten Bildniß aussieht, hatte
0145Flock der himmlischen Gesellschaft im zweiten Act eine Bou-
0146teille Verjüngungsbier entwendet. Großmütterchen trinkt und
0147entpuppt sich wirklich zu einem schönen, jungen Mädchen. Lei-
0148der erlaubt sie sich auch in diesem Stadium noch einen kräf-
0149tigen Zug aus der Zauberflasche, trinkt sich damit 12 bis 15
0150Jahre vom Leibe und bleibt als kleines Kind, mit Händchen
0151und Füßchen strampfend, auf dem Fußboden liegen.


0152Nun wäre wieder Alles verloren, wenn nicht der groß-
0153müthige Herr Taglioni abermals ein Einsehen hätte und
0154schnell einen „Abgesandten des Glücks“ auf die Scene schickte,
0155welcher dann die beiden Liebespaare im „Tempel der Fortuna“
0156ohne weitere Ceremonien frischweg copulirt.


0157Ein Ballet wie „Flick und Flock“, das, dramatisch voll-
0158kommen anspruchslos, uns in lieblicher Zauberwelt von einem
0159Wunder zum andern schaukelt, hat selbst einige Aehnlichkeit
0160mit jenem unbändigen Verjüngungsgebräu: es macht uns
0161stellenweise zu kleinen Kindern und behandelt uns demgemäß.
0162Man kann sich das gelegentlich gern gefallen lassen, wir zum
0163mindesten befinden uns noch immer besser dabei, als in so vielen
0164ernsthaften Balleten, welche mit der Prätension, zu erwach-
0165senen Leuten zu sprechen, diesen unablässig den langweiligsten
0166Widersinn zumuthen.


0167Den äußerst günstigen, für Herrn Taglioni sehr ehren-
0168vollen Erfolg der Novität haben wir bereits gemeldet. Ohne
0169Zweifel wäre dieser Succeß einige Jahre früher noch glän-
0170zender ausgefallen als jetzt, wo das Publicum von Feerien
0171und Ausstattungs-Spectakelstücken ein wenig übersättigt ist.
0172Die Aufführung und Ausstattung des neuen Ballets gehören
0173zu den gelungensten des Hofoperntheaters. Durch die be-
0174schränkten Räume unserer Bühne sehr im Nachtheil gegen die
0175Berliner Aufführung, haben trotzdem Balletmeister, Maschinist
0176und Decorations-Maler diese Ungunst mit glänzendem Erfolg
0177besiegt; sie haben Erstaunliches geleistet, und, was wir noch 
0178lieber betonen, meistens auch Sinnreiches und Geschmackvolles.
0179Hertelʼs Musik, von schwacher Originalität und nicht frei
0180von Reminiscenzen, gehört trotzdem zu den anständigsten Lei-
0181stungen in diesem Fach. Sie wird nirgends roh in der Erfin-
0182dung oder Instrumentirung und schmiegt sich mit lobens-
0183werther Sorgfalt dem Tanz wie der Scene an. Die Einlage
0184aus OffenbachʼsSchöner Helena“, hätten wir an dieser
0185Stelle gern vermißt, sie stimmt weder zum Charakter des
0186Ganzen, noch zu richtigen Begriffen vom künstlerischen Eigen-
0187thumsrecht. Die beiden Titelhelden finden in den Herren
0188Frappart und Price ein Paar prächtiger Darsteller. Der
0189feineren Laune und vornehmeren Haltung Frappartʼs kommt
0190die groteske Komik von Price hebend und ergänzend zu
0191statten, dabei ist das Zusammenspiel Beider wie aus Einem
0192Guß. Frln. Couqui entfaltete diesmal in dreifacher Rolle
0193ihre oft gerühmte Grazie und mühelose Virtuosität; das
0194Publicum zeichnete sie mit Vorliebe aus. Von den jüngeren
0195Tänzerinnen, die neben Frln. Couqui genannt zu werden
0196verdienen, hatte nur Frln. Stadelmayer Gelegenheit, sich
0197in einem Pas de deux rühmlich hervorzuthun. Die Tän-
0198zerinnen Nini und Rotter, neuere Acquisitionen, welche
0199rasch in der Gunst des Publicums steigen, sind in dem neuen
0200Ballet sehr wenig beschäftigt. Wahrhaftes Furore erregte eine
0201winzige Tänzerin, die kleine Hedwig Schräger, die ein
0202Pas de deux mit Frappart erstaunlich sicher und gewandt
0203tanzte. Mit der Bewunderung, die uns die Bravour der
0204Kleinen ablockte, verband sich noch das Ergötzen an dem un-
0205leugbar travestirenden Charakter, den ihr Tanz ganz von
0206selbst annahm, indem er in komischer Verkleinerung fast alle
0207Pas und Gesten unserer ersten Ballerina treulich photo-
0208graphirte.


0209Fanny Elsler soll sich für das Zustandekommen dieses
0210jugendlichen Debuts thätig interessirt haben. Möge ihr Name,
0211wie er dem Anfang jetzt schützend zur Seite stand, auch der
0212Zukunft des Kindes vorbedeutend werden.