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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 433. Wien, Mittwoch den 15. November 1865

[1]

Concerte.

(Erstes Gesellschaftconcert. S. Bachrich. R. Orsi. Quartette von Laub und Hellmesberger.)


0003Ed. H. Von den drei Musikstücken, welche das Pro-
0004gramm des ersten Gesellschaftsconcertes bildeten,
0005war kein einziges neu, jedes aber hatte eine Reihe von Jah-
0006ren unberührt gelegen, nach deren Ablauf ein Werk gleichsam
0007als Halbnovität wieder erwacht. So ist Gade’s Concert-
0008Ballade „Erlkönigs Tochter“ seit ihrer ersten Aufführung im
0009Jahre 1856 nicht wieder gegeben worden, obwol sie damals
0010entschieden gefiel. Andere Novitäten konnten sich in Wien 
0011gleichen oder noch größeren Erfolges rühmen, und sind trotz-
0012dem ebensowenig wiederholt worden. Concert-Novitäten haben
0013ein ungleich härteres Los, als die dramatischen. Erringt eine
0014Oper ihren anständigen Erfolg, so darf sie auf mehrere rasch
0015aufeinanderfolgende Reprisen zählen, deren jede den Hörern
0016einige neue, früher übersehene Vorzüge entdecken hilft, und
0017im ungünstigsten Falle wenigstens als gerechte Appellation
0018von einem unvorbereiteten zu einem „besser informirten“
0019Publicum auftritt. Fallen aber die Würfel gleich auf den
0020ersten Wurf günstig, so siedelt sich eine Novität, wie Gou-
0021nod’s „Faust“ u. dgl., vollständig im Repertoire fest und ist
0022binnen Jahresfrist den Hörern Note für Note geläufig. Was
0023geschieht hingegen mit einer neuen Symphonie, Ouverture
0024oder Kammermusik? Sie wird applaudirt und — ist nun
0025für 10 bis 15 Jahre, vielleicht für immer, todt. Es fallen
0026uns zur Noth ein bis zwei lebende Componisten ein, von
0027denen größere Concertstücke mehr als einmal aufgeführt sind.
0028Haben nicht die beiden Serenaden von Brahms bei ihrer
0029ersten und einzigen Aufführung gefallen? Hat Volkmann’s 
0030Clavierconcert, Rubinstein’sParadies“, Lachner’s erste
0031Suite, Hager’sSturm“-Ouverture und so manches an-
0032dere Orchesterstück nicht gefallen? Und von den zahlreichen
0033durch Hellmesberger neu vorgeführten und seither ver-
0034schollenen Quartetten und Trios würde keines durch eine
0035zweite Aufführung gewinnen? Manche Novität wird bei
0036Hellmesberger drei- und viermal probirt, ehe sie von den
0037Spielern ganz gefaßt, anerkannt, ja liebgewonnen wird. Und
0038das große Publicum, welches nicht das feine Ohr, nicht die 
0039musikalische Erfahrung dieser Herren besitzt, sollte das Stück
0040aufs erste Hören gleich so vollständig aufgenommen und aus-
0041gekostet haben, daß eine zweite Aufführung Thorheit wäre?
0042Könnte man doch nur mit der zweiten Aufführung an-
0043fangen
! hörten wir einmal einen jungen Componisten aus-
0044rufen, und er hatte Recht. Das jus gladii des Publicums
0045fechten wir nicht an, wol aber die Uebung, eine wohlaufge-
0046nommene Novität blos deßhalb, weil sie nun keine „Novität“
0047mehr ist, zu den Todten zu legen. Unsere Concertprogramme
0048bestehen fast ausschließlich aus zwei Classen von Compositio-
0049nen: classische, welche fortwährend, und neue, die niemals
0050wiederholt werden. Wir möchten eine dritte Kategorie hin-
0051zufügen: Wiederholung moderner Musikstücke, die nicht an
0052die classischen Ahnherren reichen und vielleicht auch nicht auf
0053die Nachwelt, deren einseitige, epigone Vorzüge aber auf
0054die Gegenwart immerhin ihren Reiz und ihre Bedeutung
0055haben. Von neueren Componisten ist nur Schumann 
0056(nach seinem Tode) durch häufigere Wiederholungen geehrt,
0057welche (hauptsächlich durch das Verdienst Dessoff’s und
0058Hellmesberger’s) jetzt den Charakter der Regelmäßigkeit
0059gewinnen. Und doch sind auch von Schumann’s Compo-
0060sitionen viele nach der ersten Aufführung mit Unrecht be-
0061seitigt worden. Sollten „Page und Königstochter“, die
0062Messe“, das „Requiem“ u. A. keine Wiederholung verdie-
0063nen? Was nicht an der ersten Aufführung stirbt, soll auch
0064nicht nach derselben sterben.


0065Auf diese Betrachtungen führte uns „Erkönigs Tochter“,
0066mit deren Wiederaufnahme Herr Herbeck recht that, obwol
0067das Stück weder neu, noch von Beethoven ist. Es bedürfte,
0068um sie gutzuheißen, nicht einmal der billigen Rücksicht auf
0069den „Singverein“ der Gesellschaft, dessen dankenswerthe Mit-
0070wirkung doch auch ein dankbares Object wünscht und ver-
0071dient. Gade’s Composition imponirt zwar nirgends durch
0072Großartigkeit und geniale Kraft, athmet aber durchwegs den
0073Hauch natürlicher Anmuth und feiner Bildung. In engem
0074Rahmen begrenzt, trachtet sie nirgends denselben anspruchs-
0075voll zu sprengen, sondern füllt ihn mit wohlthuender Mäßi-
0076gung und Bescheidenheit. An Mendelssohn’sche Aus-
0077drucksweisen und einige Weichlichkeit muß man bei Gade ge-
0078faßt sein, dafür gibt er aber auch in der ihm eigenen stim-
0079mungsvollen Poesie sein Bestes. Der Text zu „Erlkönigs 
0080Tochter“ ist aus dänischen Balladen zusammengestellt und be-
0081handelt die von Herder bei uns eingeführte Sage vom Herrn
0082Olaf, der am Abend vor seiner Hochzeit durch den gespensti-
0083schen Erlengrund reitet. Von Erlkönigs Tochter, die ihn zum
0084Tanze zwingen will, verlockt und dann geschlagen, kehrt er,
0085den Tod im Herzen, heim. Durch das Auseinanderziehen
0086dieses einfachen Hergangs in drei Abtheilungen mußte viel
0087monotone Wiederholung und mancher Lückenbüßer in das
0088Ganze kommen. Für den raschen Fortschritt des Dramati-
0089schen (das in Löwe’s Composition der Herder’schen Ballade 
0090so hinreißend wirkt) tauschte Gade den Vortheil einer be-
0091quemen Auseinanderfaltung der lyrischen Momente ein.
0092In diesem liegt auch seine Stärke; sie bewährt sich am schön-
0093sten in der zweiten Abtheilung, dem Gipfelpunkt des Ganzen.
0094Wie reizend klingt der Strophengesang von Erlkönigs Toch-
0095ter — die Melodie in As-dur bricht wie ein silberner
0096Mondstrahl aus dem vorhergehenden E-moll-Chor hervor.
0097Die Mahnung der Mutter und Olaf’s Romanze: „So oft
0098mein Auge die Fluren schaut" gewinnen durch ihren edlen,
0099weichen Ausdruck. Nur die Chöre der ersten und dritten
0100Abtheilung sind von einer etwas trockenen Beschaulichkeit.
0101Sinnig ist der Gedanke des volksthümlich gehaltenen Stro-
0102phenliedes, womit der Chor das Ganze nach Art eines Pro-
0103logs und Epilogs einleitet und schließt.


0104Die Aufführung der Ballade war jener vom Jahre 1854 
0105überlegen. Die Solopartien, damals von zwei Anfängerinnen
0106und einem Veteran gesungen, ruhten diesmal in bewährteren
0107Händen. Die feine, kalte Stimme der Frau Passy ist für
0108das schöne, lockende Verderben wie gemacht, das am Erlen-
0109hag seine Silbernetze breitet. Nur das zu tiefe Intoniren
0110schien uns nicht elfenmäßig, noch weniger das heftige Tacti-
0111ren mit ganzem Körper. Fräulein Bettelheim’s schöne
0112Stimme war an dem Tage bei weitem nicht so rein und
0113frei als gewöhnlich, trotzdem müssen wir ihrer Mitwirkung
0114dankbar sein. Herrn v. Bignio’s klangvolles Organ und
0115weiche Empfindung kamen in dem Part des Olaf zu voller
0116Geltung. Man denke sich die starken, reinen Klangmassen
0117unseres „Singvereins“ dazu und über all dem Herbeck’s 
0118wachsame Hand, und man wird begreifen, daß der Total-
0119Eindruck der Ballade ein entschieden vortheilhafter war.


0120Ueber der Aufführung von Sebastian Bach’s Cantate: [2]
0121Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit“ leuchtete kein günstiger
0122Stern. Fräulein Bettelheim’s Stimme war, wie gesagt,
0123indisponirt, die des Herrn Mayerhofer in hohem Grade
0124heiser, und bei Herrn Erl konnte man von einer „Stimme“
0125überhaupt nicht mehr sprechen. Auf die übrigen Mitwirken-
0126den übt derlei schnell einen niederdrückenden Einfluß, und so
0127ergab sich als nicht wegzuleugnendes Resultat, daß die Can-
0128tate keineswegs jene Wirkung auf das Publicum machte,
0129deren wir uns von den Aufführungen aus den Jahren 1854 
0130und 1857 her erinnern. Bach’s Trauercantate gehört zu
0131den in Deutschland bekanntesten und populärsten des großen
0132Meisters. Gedrängter und faßlicher als die Mehrzahl der
0133Bach’schen Cantaten, strebt diese mehr nach rührendem Aus-
0134druck, als nach Entfaltung reichster musikalischer Kunst. Von
0135dem etwas trockenen ersten Chor urtheilte Mendelssohn,
0136der begeisterteste und trotzdem nicht blinde Bach-Verehrer, man
0137könne denselben allenfalls auch einem andern tüchtigen Com-
0138ponisten jener Zeit zutrauen. Die Bemerkung ist ganz tref-
0139fend und ließe sich wol auch auf eine und die andere Arie
0140der Cantate ausdehnen. Dafür schlägt das Unisono der
0141Bässe: „Bestelle dein Haus“, mit einer Donnergewalt ein,
0142die nur in dem contrastirenden zarten Soprangesang:
0143„Komm’, Herr Jesus“, ein ebenbürtiges Gegenstück findet.
0144Die Cantate „Gottes Zeit“ (von Bach selbst „Actus tragicus“
0145zubenannt) bildet in ihrer düstern, verwesungsschwelgenden
0146Frömmigkeit ein vollständiges Seitenstück zu den kürzlich hier
0147aufgeführten, noch bedeutenderen Cantaten: „Ich hatte viel
0148Bekümmerniß“ und „Liebster Gott, wann werd’ ich sterben?“
0149Bach’s Muse gleicht einer prachtvollen Passionsblume, welche
0150in zierlich geformtem Kelch die Kreuzigungswerkzeuge trägt.


0151Zwischen den beiden Cantaten, der weltlichen und der
0152geistlichen, spielte Herr Laub das A-moll-Concert von Mo-
0153lique
mit ebenso glänzender Bravour als würdigem, noblem
0154Ausdruck. Nachdem wir uns seit Jahren fast ausschließlich
0155zwischen dem Beethoven’schen Violin-Concert, jenem von
0156Mendelssohn und der „Gesangscene“ von Spohr bewe-
0157gen, sind wir dankbar für die Wahl der beinahe verschollenen
0158Molique’schen Composition, welche an Gedankenreichthum
0159und Eigenthümlichkeit zwar keines der genannten drei
0160Werke erreicht, aber in ihrem stattlichen, festen Anstand und
0161ihrer keineswegs reizlosen Biederkeit sich als ein letzter Nach-
0162klang der Mozart-Spohr’schen Schule würdig repräsentirt.
0163— Wenige Tage vorher hat Herr Laub (mit den Herren
0164Käßmayer, Hilbert und Schlesinger) seine beliebten
0165Quartett-Soiréen unter schmeichelhaftem Zuspruch und Bei-
0166fall wieder eröffnet. Das Programm enthielt ein Quartett
0167von Haydn, eines von Beethoven (B-dur aus op. 18)
0168und Schumann’s Clavier-Quartett. In letzterem zeichnete
0169sich Herr Ed. Horn, in den Wiener Gesellschaftskreisen längst
0170als tüchtiger Pianist und Compositeur bekannt, durch sein
0171gediegenes, makellos reines und sicheres, dabei von jeder
0172Affectation freies Spiel sehr vortheilhaft aus. Da es un-
0173möglich ist, zwei Concerten zugleich beizuwohnen — diese
0174Erfindung ginge uns noch ab — so können wir über die
0175mit dem „Gesellschaftsconcert“ zusammenfallende Production
0176des Clarinett-Virtuosen Romeo Orsi nicht berichten. Nur
0177das Eine ist uns bekannt, daß Herr Orsi von sehr geach-
0178teten Musik-Kritikern in München (wo er zuletzt verweilte)
0179günstig beurtheilt wurde. Auch von dem „Abschiedsconcert“
0180des Herrn S. Bachrich können wir nur nach glaubwürdi-
0181gen Mittheilungen melden, daß der junge Künstler sich als
0182tüchtiger und geschmackvoller Geiger erwiesen, somit allen
0183Grund habe, seine bevorstehende Kunstreise guten Muthes
0184anzutreten. Herr Bachrich spielte ein Concert von S. Bach,
0185Goldmark’sSuite“ (mit Herrn Epstein) und einige
0186kleinere Salonstücke.


0187Schließlich haben wir von dem Eröffnungsabend des
0188Hellmesberger’schen Quartetten-Cyklus zu erzählen. Er
0189wurde von dem gewählten, den Musikvereinssaal dicht füllen-
0190den Auditorium in wahrhaft festlicher Stimmung begangen.
0191Der Abend begann mit Haydn’s Quartett in B-dur und
0192schloß mit jenem von Beethoven in Es (op. 74). Letz-
0193teres gehört bekanntlich zu den schönsten Leistungen der Hell-
0194mesberger’schen Gesellschaft; das Adagio haben wir so seelen-
0195voll noch niemals vortragen gehört, auch von Hellmesber-
0196ger
selbst nicht. Der Beifall war stürmisch; den trefflichen
0197Genossen Hellmesberger’s, Dobyhal, Hofmann und
0198Röver, gebührt ein redlich Theil davon. — Die mittlere
0199Nummer, Beethoven’s Claviertrio in Es (op. 70), brachte
0200das mit Spannung erwartete Debut der Pianistin Fräulein
0201Auguste Kolar aus Prag. Die jugendliche Künstlerin hat
0202uns auf das angenehmste und um so freudiger überrascht, 
0203als wir die von ihr gewählte Composition für einen der ri-
0204gorosesten Prüfsteine erachten. Von allen Beethoven’schen
0205Trios ist wol keines weniger dankbar für den Virtuosen,
0206als das genannte. Das Clavier tritt aus dem Gesammt-
0207gefüge fast gar nicht selbstständig hervor; weder verweilt die
0208Cantilene längere Zeit in der Pianostimme, noch die eigent-
0209liche Bravour, immer sind die beiden andern Instrumente
0210rasch ablösend, mitunter auch deckend zur Hand. Der Cla-
0211vierpart bietet eine Menge Schwierigkeiten und doch kaum
0212eine, deren Ueberwindung glänzend ins Auge sticht. Die
0213feinste Empfindung für das Detail muß hier mit einem aus-
0214gebildeten Sinn für größere rhythmische Verhältnisse Hand
0215in Hand gehen. Das Trio hat seltsam charakteristische
0216Stockungen, Lücken, wenn wir so sagen dürfen, welche, schon
0217Eigenthümlichkeiten von Beethoven’s dritter Periode voraus-
0218nehmend, von gewöhnlichen Pianisten mit allerlei stylwidrigen
0219Accenten, Rubatos u. dgl. „belebt“ oder ausgefüllt zu werden
0220pflegen. Das feine Verständniß, mit welchem Fräulein Kolar 
0221diese Partien spielte, hob sie in unseren Augen we-
0222nigstens ebenso hoch, als ihre perlende Geläufigkeit und sichere
0223Bravour. Ueber Fräulein Kolar’s „Virtuosität“ im emi-
0224nenten Sinne des Wortes können wir nach dieser Einen Auf-
0225gabe nicht urtheilen, aber daß sie eine echt musikalische Na-
0226tur, eine Künstlerin von Geist und Empfindung sei, berufen
0227und auserwählt, darüber plagt uns keinerlei Zweifel. Fräu-
0228lein Kolar’s bevorstehendes Concert wird uns Gelegenheit
0229zu eingehenderer Betrachtung ihrer Technik bieten. Diesmal
0230wollen wir blos ihren ungemein schönen, gesangvoll weichen
0231und doch so distincten Anschlag hervorheben. Der Anschlag ist
0232uns nicht blos ein technischer Vorzug wie ein anderer, er ist
0233die Sprache, in welcher der Pianist zu uns spricht, das an-
0234geborene und kunstgebildete Organ des Redners. Sollen wir
0235Einzelnes hervorheben, worin dieses sympathische Organ be-
0236sonders schön klang, so seien es die Trillerketten im ersten
0237Satze und die verhallenden Pianissimo im Andante. Fräulein
0238Kolar verfügt keineswegs über eine bedeutende physische Kraft,
0239namentlich in der linken Hand, doch weiß sie den Mangel
0240durch rhythmischen Nachdruck trefflich zu ersetzen. Das Publi-
0241cum schien von dem Spiel der jungen Künstlerin von Satz
0242zu Satz mehr gefesselt; als der Schluß-Accord verhallte, war
0243der glänzendste Succeß entschieden.