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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 472. Wien, Mittwoch den 20. December 1865

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Concerte.


0002Ed. H. Unter den sogenannten „Schubertfreunden“
0003par excellence stechen zwei charakteristische Gruppen hervor:
0004die Sorglosen und die Hartnäckigen, oder auch, physikalisch
0005gesprochen, die Centrifugalen und die Centripetalen. Die Er-
0006steren lassen ruhig Schubertʼs Manuscripte nach allen Welt-
0007gegenden zerflattern; sie wissen oder wußten genau von ir-
0008gend einer noch vorhandenen Oper oder Symphonie (sie haben
0009sie ja entstehen sehen!), aber es stört ihre Seelenruhe nicht
0010im mindesten, wenn diese Schätze um ein paar Gulden einem
0011amerikanischen Sammler, oder noch billiger einem Käse-
0012händler zufallen. Die Hartnäckigen hingegen oder Centripe-
0013talen haben zwei oder drei Perlen aus Schubertʼs Nachlaß
0014ins Trockene gebracht, halten sie aber vor lauter Freundschaft
0015für den Verewigten und lauter Verachtung der Lebenden in
0016irgend einem Koffer verschlossen, mit dessen Schlüssel sie sich
0017zu Bett legen. Wir wollen Herrn Anselm Hüttenbren-
0018ner
, den Freund Schubertʼs, seit gestern nicht mehr zu der
0019zweiten Classe zählen, da er ja schließlich der Pelhamʼschen
0020Beredsamkeit und Artigkeit des Hofcapellmeisters Herbeck 
0021nicht widerstand, der eigens nach Graz gereist war, um eine
0022Hüttenbrennerʼsche Partitur für die Gesellschafts-Concerte
0023zu acquiriren, und bei dieser Gelegenheit — wie seltsam! —
0024auch ein lang gesuchtes Schubertʼsches Manuscript mit-
0025brachte. Wir können nicht entscheiden, welche von den beiden
0026Compositionen die Angel und welche der Fisch war, genug,
0027daß Schubert und Hüttenbrenner wie im Leben so
0028auf dem Programm des letzten „Gesellschafts-Concertes“ ein-
0029trächtig neben einander hergingen. Hüttenbrenner, der
0030bekanntlich zur Berühmtheit des Schubertʼschen Erlkönigs viel
0031beigetragen hat, nämlich eine Partie „Erlkönig-Walzer“, eröff-
0032nete das Concert mit einer Ouverture in C-moll, welcher
0033man Abrundung und eine gewisse Tüchtigkeit der Arbeit nicht 
0034absprechen kann. Der melodische Inhalt schien uns theilweise
0035aus den Zwischenactmusiken des Burgtheaters bekannt. Nun
0036folgte die Schubertʼsche Novität, die einen wahrhaft außer-
0037ordentlichen Enthusiasmus erregte. Es sind die beiden ersten
0038Sätze (Allegro moderato, H-moll und Andante, E-dur) einer
0039Symphonie, welche, seit vierzig Jahren in Herrn Hüttenbren-
0040nerʼs Besitz, für gänzlich verschollen galt. Die uns vorlie-
0041gende Original-Partitur, ganz von Schubertʼs Hand,
0042trägt die Jahreszahl 1822 und enthält nebst den
0043zwei ersten Sätzen noch den Anfang (neun Tacte)
0044des dritten, eines Scherzo in H-moll. Ob Schubert 
0045überhaupt nicht weiter daran gearbeitet, ist nicht zu eruiren.
0046Möglich, daß irgend Einer der „Sorglosen“ den Schlüssel zu
0047diesem Räthsel kennt, oder ein „Hartnäckiger“ ihn gar unter
0048dem Kopfkissen hat. Wir müssen uns mit den zwei Sätzen
0049zufriedengeben, die, von Herbeck zu neuem Leben erweckt,
0050auch neues Leben in unsere Concertsäle brachten. Wenn nach
0051den paar einleitenden Tacten Clarinette und Oboe einstim-
0052mig ihren süßen Gesang über dem ruhigen Gemurmel der
0053Geigen anstimmen, da kennt auch jedes Kind den Componi-
0054sten, und der halbunterdrückte Ausruf „Schubert!“ summt
0055flüsternd durch den Saal. Er ist noch kaum eingetreten, aber
0056es ist, als kennte man ihn am Tritt, an seiner Art, die
0057Thürklinke zu öffnen. Erklingt nun gar auf jenen sehnsüch-
0058tigen Mollgesang das contrastirende G-dur-Thema der Vio-
0059loncelle, ein reizender Liedsatz von fast ländlerartiger Behag-
0060lichkeit, da jauchzt jede Brust, als stände Er nach langer
0061Entfernung leibhaftig mitten unter uns. Dieser ganze Satz
0062ist Ein süßer Melodienstrom, bei aller Kraft und Genialität
0063so krystallhell, daß man jedes Steinchen auf dem Boden
0064sehen kann. Und überall dieselbe Wärme, derselbe goldene,
0065blättertreibende Sonnenschein! Breiter und größer entfaltet
0066sich das Andante — Töne der Klage oder des Zornes fallen
0067nur vereinzelt in diesen Gesang voll Innigkeit und ruhigen
0068Glückes, mehr effectvolle musikalische Gewitterwolken, als ge-
0069fährliche der Leidenschaft. Als könnte er sich nicht trennen 
0070von dem eigenen süßen Gesang, schiebt der Componist den
0071Abschluß des Adagios weit, ja allzuweit hinaus. Man kennt
0072diese Eigenthümlichkeit Schubertʼs, die den Total-Eindruck
0073mancher seiner Tondichtungen abschwächt. Auch am Schluß
0074dieses Andantes scheint sein Flug sich ins Unabsehbare zu
0075verlieren, aber man hört doch noch immer das Rauschen sei-
0076ner Flügel.


0077Bezaubernd ist die Klangschönheit der beiden Sätze. Mit
0078einigen Horngängen, hie und da einem kurzen Clarinett- oder
0079Oboesolo auf der einfachsten, natürlichsten Orchester-Grund-
0080lage gewinnt Schubert Klangwirkungen, die kein Raffinement
0081der Wagnerʼschen Instrumentirung erreicht. Wir zählen das
0082neu aufgefundene Symphonie-Fragment von Schubert zu sei-
0083nen schönsten, reifsten Instrumentalwerken und sprechen dies
0084hier um so freudiger aus, als wir gegen eine übereifrige
0085Schubert-Pietät und Reliquien-Verehrung mehr als einmal
0086uns ein warnendes Wort erlaubt haben. Die beiden Stücke
0087werden eine Zier aller Concert-Programme, denn wir zwei-
0088feln nicht, daß Herr Hüttenbrenner die Herausgabe derselben
0089mit gleicher Bereitwilligkeit gestatten wird, wie die Auffüh-
0090rung derselben. Man muß mit Freuden bekennen, daß jetzt
0091gerade von Wien aus alles Erdenkliche geschieht, um die frü-
0092heren Versündigungen an Schubert nach Möglichkeit gutzu-
0093machen. Jene Unterlassungssünden treffen allerdings Wien 
0094zunächst, aber nicht ausschließlich.


0095Die Berliner Musikzeitung von Marx (18241830),
0096welche, eine Art Vorläuferin der Schumannʼschen Zeitschrift,
0097muthig für das Recht des Modernen gegen die Oligarchie der
0098Classiker und vollends der Pedanten auftrat, zu Beethovenʼs
0099Lebzeiten seine angefochtensten Werke vergötterte und dem jun-
0100gen Balladen-Componisten Karl Löwe in preisenden Artikeln
0101den Weg ebnete — sie hat in ihren sieben Jahrgängen Schu-
0102bertʼs
Namen nur zwei- bis dreimal in flüchtigen Notizen
0103genannt. Die neue Epoche der Würdigung Schubertʼs herbei-
0104geführt zu haben, ist Schumannʼs Verdienst, der in seiner
0105Neuen Zeitschrift“ (18341844) Schubertʼs Compositionen [2]
0106mit Begeisterung, ja mit einer gewissen Vor- und Ueberliebe
0107feierte. Auf Schumann folgen in dieser Thätigkeit Joseph
0108Hellmesberger und Herbeck. Insbesondere zeigt Letzterer
0109sich unermüdlich thätig, Schubertʼsche Manuscripte aufzu-
0110suchen, zu ergänzen und aufzuführen. Er hat neuerdings durch
0111die erste Aufführung des „Morgengesangs“ (aus dem „Graf
0112v. Gleichen“) und der beiden Symphoniesätze dem Andenken
0113Schubertʼs und unserem Musikleben einen Dienst erwiesen,
0114den die Kritik ebenso rühmend hervorheben muß, als ihn das
0115Publicum in den letzten Concerten laut anerkannt hat.


0116Eine andere höchst ansprechende Gabe des dritten Ge-
0117sellschafts-Concerts waren zwei alte deutsche Lieder für ge-
0118mischten Chor, „Liebesklage“ und „Jägerglück“. Die beiden
0119Chöre, ausgezeichnet durch volksthümlich naive Innigkeit und
0120entzückenden Klang, hat Herbeck mit glücklicher Wahl einem
0121alten Liederbuch vom Jahre 1618 entnommen und mit ge-
0122treuer Bewahrung der ursprünglichen Harmonie (sie erin-
0123nert in ihren fremdartig reizenden Accordfolgen an Orlando
0124Lasso und Heinrich Schütz) für den „Singverein“ re-
0125digirt. Sie wurden überaus schön vorgetragen und mit stür-
0126mischem Beifall aufgenommen.


0127Fast schien es, als habe die musikalische Empfänglichkeit
0128und Beifallslust unseres Concertpublicums sich in diesem
0129Mittagsconcert so voll ausgegeben, daß wenige Stunden spä-
0130ter für eine interessante Novität in Hellmesbergerʼs 
0131Quartett-Productionen nicht genug übrig war. Es ist diese,
0132schon aus rein physiologischen Gründen erklärbare Rückwir-
0133kung mehr als einmal beobachtet worden.


0134Das neue Streichquintett von Johannes Hager wurde
0135zwar nach jedem Satz applaudirt, erzielte aber einen durch-
0136schlagenden Erfolg nur mit dem Scherzo. Dieser Satz, perlen-
0137sprühend wie moussirender Champagner, ist der lebensvollste,
0138wirksamste Theil des Ganzen. Ihm zunächst möchten wir das
0139Adagio stellen, das durch breiten, edlen Gesang und interes-
0140sante Combinationen fesselt und höchstens eine kürzere Fas-
0141sung und etwas sparsamere Verwendung der Pizzicato-Effecte
0142wünschen ließe. Die beiden äußeren Sätze gleichen feinen Blei-
0143stiftzeichnungen, die bei näherer Betrachtung viel Anziehendes
0144bieten, aber ihrer kleinen Striche und matten Färbung wegen
0145eine packende Wirkung nicht üben können. Wäre Hager so
0146originell und energisch im Ganzen, als er geistreich im Detail
0147ist, seine Erfolge würden vollständig sein. Wir kennen sein
0148echtes und feines, wenn auch nicht üppiges und populäres
0149Talent aus einer ansehnlichen Reihe größerer und kleinerer
0150Compositionen, und haben uns gefreut, den Componisten nach
0151längerer Zurückgezogenheit wieder hervortreten zu sehen. Das
0152Quintett ist kein vereinzeltes Symptom von Hagerʼs Wie-
0153derauferstehung, es sind gleichzeitig drei Balladen von ihm
0154(bei Spina) erschienen, die wir gebildeten Sängern angelegent-
0155lich empfehlen; ferner ein neues Clavier-Trio (op. 20), dessen
0156Vorzüge uns sehr beachtenswerth erscheinen und von S. Bagge 
0157(in der Leipziger Allgemeinen Musikzeitung) die eingehendste
0158rühmlichste Würdigung erfahren haben. — Auf die Hagerʼsche
0159Novität folgte Schumannʼs köstliches Es-dur-Quartett. Herr
0160A. Jaell spielte den Clavierpart mit schönstem Ton und
0161perlender Geläufigkeit. Nur einige kokette Salon-Ritardandos
0162im ersten Satz hätten wir hinweggewünscht, um die so schön
0163ausgemeißelte und geglättete Leistung vollkommen rein zu
0164genießen.


0165Erwähnen wir noch einer Festliedertafel des „Schubert-
0166bundes
“ der Engelsbergʼs neuen, vortrefflichen Chor
0167Heini von Steier“, mit glänzendem Erfolg zur Aufführung
0168brachte, so sind wir in der musikalischen Chronik der Woche
0169bei der ständigen Rubrik der „Patti-Concerte“ angelangt.
0170Wir stehen bereits vor Nr. 13 dieser Concerte, welche, immer
0171gleich stark besucht, die Thatsache eines für unsere Zeit ge-
0172radezu unerhörten Erfolges für sich haben. Die Uebersiedlung
0173dieser Concerte vom Dianasaal ins Theater an der Wien hat
0174ihnen einen neuen Anstrich von Abwechslung und eine günsti-
0175gere Akustik verschafft. Hingegen erwies sich der Gewinn einer
0176Orchester-Begleitung bald als illusorisch, indem letztere so mit-
0177telmäßig war, daß man lieber Herrn Frank wieder ans
0178Clavier postirt hat. Auch machte der Dianasaal einen elegan-
0179teren, salonmäßigeren Eindruck; das auf der Bühne des Wie-
0180dener Theaters auf weiß angestrichenen Gartenstühlen herum-
0181sitzende Publicum erinnerte uns an gewisse Scenen in Nestroy’-
0182schen Possen, wo das „Paradiesgartel“ oder Aehnliches vor-
0183gestellt wird. In dem gestrigen Concert spielte Herr Ullman 
0184einen neuen Trumpf aus: er hatte Roger eigens aus Paris 
0185kommen lassen. Der berühmte Tenorist, einst die Zierde der
0186Opéra Comique und später der Großen Oper in Paris,
0187sang Schubertʼs Erlkönig und die bekannten „Vögelein“
0188von Gumbert. Eine wunderliche Wahl, wenn sie auch viel-
0189leicht ein „Compliment an die deutsche Nation“ vorstellen
0190sollte. RogerʼsErlkönig“ ist die consequenteste dramatische
0191Ausführung und Zuspitzung der an sich schon bedenklichen
0192Intentionen Schubertʼs. Sie streift an geistreiche Carricatur
0193und hat nur einen kleinen Schritt zu dem vollständigen Ex-
0194periment, den „Erlkönig“ von drei verschiedenen Personen
0195singen zu lassen. Rogerʼs Vortrag accentuirt mehr die Schat-
0196tenseiten als die Vorzüge der Composition, und producirt mehr
0197den Schauspieler als den Sänger. Der Letztere trat in dem
0198Gumbertʼschen Bänkelsang etwas deutlicher hervor, wir er-
0199kannten wieder, wie durch einen Schleier, Rogerʼs ehemals
0200wundervolles Portamento — aber was wurde getragen?
0201Ein trostloses Lied und eine trostlose Stimme. Es schmerzt
0202uns, über das gegenwärtige Singen des großen Künstlers
0203sprechen zu müssen, der uns einst mehr als irgend ein An-
0204derer das Ideal eines dramatischen Sängers ahnen und mit-
0205unter auch vollkommen schauen ließ. Rogerʼs Erscheinung
0206hat sich merkwürdig unverändert erhalten, dieselbe edle glatte
0207Stirne, der jugendliche Mund, der ernste Blick voll Geist
0208und Güte. Aber von der Stimme wollen wir schweigen, und
0209von dem Kampf des Sängers mit diesem zertrümmerten In-
0210strument. Roger macht allerdings auch jetzt noch einen weit
0211edleren Eindruck, als sein zum Possenreißer herabgekommener
0212berühmter College Ronconi. Beide Künstler erfüllen aber
0213hier dieselbe wehmüthige Mission: ihren eigenen Nekrolog
0214zu singen.