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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 480. Wien, Samstag den 30. December 1865

[1]

Concerte.

(Concordia-Akademie. Patti-Concerte. Viertes Philharmonisches Concert.)


0003Ed. H. Die so glänzend ausgefallene „Concordia-Aka-
0004demie“ bildete gewissermaßen einen letzten Abschluß der „Patti-
0005Concerte“. Fräulein Carlotta Patti trat darin zum letzten-
0006male vor das Wiener Publicum, da ihre lobenswerthe Absicht,
0007noch einmal für die Wohlthätigkeits-Anstalten zu singen, dem
0008Vernehmen nach an den von der Hofopern-Administration
0009erhobenen Schwierigkeiten scheitert. Herrn Ullmanʼs Con-
0010certe — vierzehn an der Zahl im Laufe von vier Wochen!
0011— haben ihre Zugkraft bis zum letzten Augenblick bewährt
0012und dürfen den Wiener Erfolg als eine unanfechtbare, glän-
0013zende Thatsache für sich geltend machen. Dem Kritiker und
0014ernsten Musikfreund konnte man allerdings ebensowenig den
0015Besuch sämmtlicher Patti-Concerte zumuthen, als man von
0016einem Mann verlangen wird, er solle jeden Abend ein Pfund
0017Zuckerwerk essen. Der ausschließliche Virtuositäts- und Un-
0018terhaltungs-Standpunkt solcher Concerte führt rasch zur Ueber-
0019sättigung. In dieser Richtung ist an den Programmen noch
0020Vieles zu bessern, und namentlich den drei Instrumental-
0021Virtuosen eine kleine Rüge nicht zu ersparen. Wenn Car-
0022lotta Patti
durch die phänomenale Stimmhöhe, mit der sie
0023beschenkt oder zu der sie verurtheilt ist, sich auf ein engeres
0024Gebiet von Bravour-Arien beschränkt sieht, allezeit verpflichtet,
0025dem Publicum ihre bewunderten „Specialitäten“ vorzuführen,
0026so gilt doch diese Entschuldigung nicht auch für einen großen
0027Pianisten, Violin- oder Cello-Spieler. Die Herren Jaell,
0028Vieuxtemps und Piatti haben ein viel kleineres Reper-
0029toire ausgerollt, als Carlotta Patti, und mit denselben fünf
0030bis sechs Stücklein sich durch alle vierzehn Concerte gefristet.
0031Sehen wir ab von den paar classischen Trios oder Quar-
0032tetten, welche, die Stelle einer Ouverture vertretend, in dem
0033großen Raum weder physisch noch geistig die nöthige Resonanz 
0034fanden und demgemäß auch ziemlich glatt und gleichgiltig ab-
0035gethan wurden, so finden wir das Repertoire der drei Vir-
0036tuosen von einer erschreckenden Dürftigkeit in Qualität und
0037Quantität. Vieuxtemps spielte ausschließlich eigene Com-
0038positionen, was wir ihm, dem weitaus bedeutendsten Compo-
0039sitions-Talent unter den Dreien, gern zugeständen, hätte er
0040etwas Neues und nicht blos jene alten Stücke wieder-
0041gebracht, die seit zwanzig Jahren jeder Concertfreund aus-
0042wendig kennt. Ueberdies ward gerade an diesen seinen ehe-
0043maligen Paraderossen die abnehmende Kraft und Sicherheit
0044des Reiters am auffallendsten wahrnehmbar. Herr Piatti 
0045speiste uns consequent mit selbstverfertigten Potpourris aus
0046Lucia“, „Linda“, „Trovatore“ etc., deren Langweiligkeit beim
0047ersten Hören, aber auch nur beim ersten, vor dem Glanz des Vor-
0048trags verschwand. Warum endlich Herr Jaell — um nur
0049von Bravourstücken zu sprechen — nie etwas von Liszt, Thal-
0050berg, Henselt, Heller, Rubinstein spielte? Von seinen eigenen
0051Sachen lassen wir uns das Trillerstückchen „Sweet home“
0052noch am besten gefallen, Transscriptionen aber, wie seine
0053Afrikanerin“ und sein „Tannhäuser-Chor“ (Pilger von heulen-
0054den Hunden gejagt), sind doch gar zu unbedeutend. Der wohl-
0055arrondirte Virtuose scheint wirklich die Banting-Cur probeweise
0056erst an seinen Compositionen versucht zu haben. Daß Jaell 
0057trotzdem eine immer gern gesehene Erscheinung war, spricht
0058laut genug für den ungewöhnlichen Reiz seines Spieles.
0059Was endlich Carlotta Patti betrifft, so ist es gerade für
0060sie ein werthvolles Zeugniß, daß ihr Gesang, der eigentliche
0061Magnet der Concerte, an Anziehungskraft nicht verlor, sondern
0062zunahm.


0063Jede neue Erscheinung von großem Ruf ist bei ihrem
0064ersten Auftreten verurtheilt, ungemessenen und oft sehr unbe-
0065stimmten Erwartungen gegenüberzustehen. Vermißt der Hörer
0066einige geträumte Vorzüge, so wird das Gefühl theilweiser
0067Enttäuschung ihn auch die wirklich vorhandenen leicht unter-
0068schätzen lassen. Erst wenn der Eindruck des Neuen, Befrem-
0069denden überwunden und man über das ästhetische Soll und 
0070Haben im Klaren ist, hört man unbefangener und urtheilt
0071gerechter. Wir haben uns mit der Stimme Fräulein Pattiʼs
0072viel mehr befreundet, sie in den späteren Concerten schöner
0073und volltönender gefunden, als am ersten Abend. Hin und
0074wieder, z. B. in GounodʼsAve Maria“, verrieth ein Ton
0075von überraschender Kraft, daß diese silbertönige Stimme auch
0076nach Seite des Volumens weniger stiefmütterlich bedacht sei,
0077als sie in der Regel scheint. Diese und ähnliche Wahrneh-
0078mungen flößten uns Respect ein vor ihrem streng eingehalte-
0079nen Princip: Maß zu halten, die reine Schönheit des
0080Tons niemals zu alteriren. Carlotta Patti vermeidet, auch
0081nur der Grenze des Schreiens sich zu nähern, und wird, bei-
0082läufig gesagt, trotz ihrer angestrengten Thätigkeit ihre Stimme
0083ohne Zweifel lange bewahren. Hierin erscheint sie als ein
0084Zögling der besten italienischen Schule. Kein Zweifel, daß
0085ihre leidenschaftslose Ruhe dieses Maßhalten sehr erleichtert,
0086aber blos als „Kälte“ können wir nicht mehr betrachten, was
0087sich uns als ein consequentes — sei es auch einseitig aus-
0088gebildetes — Schönheitsprincip erwiesen hat. Es ist dasselbe
0089Princip des reinen Wohllauts, das die Linien einer italieni-
0090schen Melodie in schöner sanfter Rundung zieht. Ebensowenig
0091als wir die Patti schreien oder meckern hörten, haben wir sie
0092im Vortrag jemals übertrieben oder affectirt, in Haltung und
0093Miene grimassirend gesehen. Bei Wagstücken wie das „Lach-
0094lied“ oder der „Carneval von Venedig“ will dies nicht wenig
0095sagen. Der Virtuosität Carlotta Pattiʼs sind wir bereits in
0096unserem ersten Aufsatz gerecht geworden, aber auch in ihrer
0097Cantilene beobachteten wir im Laufe der verschiedenen Pro-
0098ductionen das Walten einer Technik, die hochzuschätzen nament-
0099lich wir Deutsche allen Grund haben. „Die Deutschen singen
0100mit dem Kopf und mit dem Herzen, aber nicht mit dem
0101Ohr,“ so sagte uns wörtlich vor einigen Jahren Jenny
0102Lind
. Dieser Ausspruch einer großen und durch ihre ger-
0103manische Abkunft wol unparteiischen Sängerin schien uns da-
0104mals zu hart — tausendmal ist er uns seither eingefallen.
0105Dem Gesang der Carlotta Patti hat wol Jedermann einen [2]
0106kräftigeren Herzschlag gewünscht, aber gewiß nicht ein feineres,
0107Maß und Wohllaut schärfer überwachendes Gehör.


0108Carlotta Patti sang in der Concordia-Akademie das
0109Duett aus RossiniʼsStabat mater“ mit einer unserer
0110intelligentesten und stimmbegabtesten Sängerinnen, Fräulein
0111Bettelheim. Während Erstere die Melodie sehr ruhig,
0112gleichsam in Einem leichten, weiten Bogen aufbaute, versah
0113Letztere fast jede Note mit einem gefühlvollen Accent, so daß
0114derselbe Gesang hier gleichsam aus einer Anzahl kleiner
0115Crescendos und Decrescendos sich zusammensetzte. Ein höheres
0116Drittes geben wir zu, können aber nicht leugnen, daß die
0117klare, monotone Himmelsbläue des italienischen Vortrags uns
0118nicht blos musikalisch schöner, sondern immer noch seelenvoller
0119däuchte, als jenes heftige Licht- und Schattenspiel.


0120Stimme und Gesangsmanier weisen C. Patti vorzugs-
0121weise an den Sologesang; in dem Spinnquartett aus
0122Martha“ sang sie zu schwach, was allerdings nicht ganz
0123entschuldigt, daß die anderen drei Stimmen zu stark beglei-
0124teten. Fräulein Patti die Wahnsinn-Arie aus „Lucia“ im
0125Costüm vortragen zu sehen, wirkte ohne Zweifel als ein
0126Lock- und Reizmittel auf die Besucher der Concordia-Akademie.
0127Die Leistung war interessant genug, indem sie im Spiel der
0128Künstlerin dasselbe Princip verrieth, mit wenigen, plastisch-
0129schönen Bewegungen auszureichen. Der dramatische Ausdruck
0130erhob sich nicht merklich über den Concertvortrag. Bedenkt
0131man indeß, daß Carlotta Patti seit ihren ersten Anfängen,
0132vor vier Jahren, die Bühne nicht betreten und in ihrem
0133Gang ein physisches Hinderniß mühsam zu bekämpfen hat,
0134so erscheint der Versuch immerhin respectabel. Da die Accente
0135tiefer Leidenschaft ihrem Gesang versagt sind, glauben wir
0136nicht, daß die tragische Bühne an C. Patti viel verloren
0137habe. Hingegen scheint ein sehr artiges Talent für die ko-
0138mische Oper in ihr zu schlummern. Das fröhlich Schmet-
0139ternde, so gut wie das freundlich Behäbige ihres Gesangs müßte,
0140vereint mit dem bezaubernden Lachen Carlottaʼs, in der
0141Opera buffa trefflich wirken. Sie ist „die Lerche, nicht
0142die Nachtigall“. Man sehe die dürren Noten des Auberʼschen 
0143Lachliedes und urtheile selbst, ob hier der Vortrag der Patti 
0144nicht geradezu productiv sei. Nicht blos neue Noten hat sie
0145hinzugefügt, sondern neue Effecte, die in Noten gar nicht
0146zu fassen sind. Es ist und bleibt ihr Meisterstückchen.


0147Die Lucia-Scene bildete den Schluß der langwährenden
0148Concordia-Akademie und hätte an anderer Stelle vielleicht
0149mehr effectuirt. Man war zu ermüdet durch ein vorher-
0150gehendes Lustspiel, „Guten Abend“, das mit raffinirter Grau-
0151samkeit einen magern Witz und ein verehrungswürdiges Pu-
0152blicum an langsamem Feuer briet. Das jederzeit mißliche
0153Herausreißen einzelner Scenen läßt man sich allerdings bei
0154italienischen Opern noch am ehesten gefallen, sie können wie
0155die Regenwürmer zerstückelt weiterleben. An Grillparzerʼs 
0156Sappho“ hingegen hätte man das Potpourri-Messer lieber
0157nicht setzen sollen; wer kurz vorher die ergreifende Darstel-
0158lung der Sappho durch Fräulein Wolter auf dem Burg-
0159theater gesehen, dem mußte die Zerbröckelung dieses Meister-
0160werks und dieser Musterleistung wehthun. Großen Beifall
0161erregten die Claviervorträge Fräulein A. Kolarʼs und das
0162virtuose Geigenspiel des Herrn Lotto; wahrhaften Enthusias-
0163mus Rogerʼs Vortrag der Arie „Ah, quel plaisir dʼêtre
0164soldat“ von Boyeldieu. Wir haben den wehmüthigen
0165Eindruck nicht verhehlt, den Rogerʼs „Erlkönig“ und „Liebe
0166Vögelein“, jüngst hervorgebracht; um so größer war unsere
0167Freude, mit einer schöneren Erinnerung von dem verehrten
0168Künstler scheiden zu können. Stimmen, die im Niedergang
0169oder Untergang begriffen sind, haben bekanntlich von Zeit zu
0170Zeit ihren „beau jour“ (man denke an Wild); ein solcher
0171Glückstag war der 26. December für Roger. Er bot seine
0172ganze Kraft und Energie auf, und da es einer Arie galt, in
0173welcher er auch ohne Stimme kaum einen Rivalen hätte, so war
0174der Eindruck ein ungewöhnlicher. In Frack und Glacéhand-
0175schuhen sang und spielte Roger die ganze reichbewegte Schil-
0176derung des Soldatenlebens. Die hinreißende Beredsamkeit
0177des Ausdrucks und eine Fülle charakteristischer Züge ließen
0178die Schäden der Stimme vollständig vergessen. Hier sah man,
0179wie Geist und Temperament eines reproducirenden Künstlers 
0180schöpferisch wirken können. Im Fach der eleganten komischen
0181Oper stehen die französischen Sänger einzig da; Roger hat
0182neben den besten Traditionen dieser Kunst eine geniale Per-
0183sönlichkeit, die jede Tradition überholt, und neben dem Geist
0184der Schule noch seinen eigenen.


0185In dem vierten „Philharmonischen Concert“, das gleich-
0186zeitig mit der Concordia-Akademie stattfand, wurde eine
0187Ouverture, „Sakuntala“, von Karl Goldmark zum ersten-
0188male aufgeführt und beifällig aufgenommen. Wir haben diese
0189Composition in zwei Proben mit großem Interesse verfolgt
0190und halten sie weitaus für das Beste, was der begabte und
0191energisch vorwärtsstrebende Componist bisher geliefert hat.
0192Frisch und charakteristisch in der Erfindung, von klarer An-
0193lage und feinem Detail, zeigt die Ouverture eine entschiedene
0194Klärung des früher etwas wirren und wühlenden Talentes
0195Goldmarkʼs. Nur wenige Stellen erinnern an seine ehema-
0196lige Dissonanzen-Liebe und pathetische Unklarheit. Die wirk-
0197same, charakteristische Instrumentation verdient umsomehr
0198Anerkennung, als Herr Goldmark bisher wol kaum in der
0199Lage war, seine Orchestersachen selbst zu hören. Was das
0200Verhältniß der Composition zu dem berühmten indischen
0201Drama „Sakuntala“ betrifft, so ist es kein abhängiges in
0202dem mißverständlichen Sinne der descriptiven Musik. Als
0203Musikstück an und für sich vollkommen verständlich und selbst-
0204ständig, nimmt sie von dem Gegenstand nur die poetische An-
0205regung, die allgemeine Stimmung und Localfarbe, allenfalls
0206die einfachsten Grundzüge der dramatischen Peripetie. Die
0207übrigen Nummern des Philharmonischen Concertes waren:
0208BeethovenʼsEroica“, Gluckʼs Ouverture zu „Iphigenia
0209in Aulis“ und die Arie des Pylades aus der taurischen „Iphi-
0210genia“, mit welcher Herr Walter großen Beifall erntete.
0211Die Ausführung der Orchesternummern wird uns von allen
0212Seiten als eine vorzügliche geschildert. Der makellose Vortrag
0213der gefürchteten Hornstelle im Trio der „Eroica“ (durch Herrn
0214Kleinecke) hat auch die freundliche Prophezeiung zu Schan-
0215den gemacht, die Philharmonischen Concerte würden an dem
0216Austritte des Herrn Richard Lewy zu Grunde gehen.