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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 509. Wien, Dienstag den 30. Januar 1866

[1]

Concerte.

(Herr Bottesini und Madame Scalese. Quartett-Productionen. Clara Schumann.)


0003Ed. H. Dem neuen Harmonie-Theater gebührt das
0004Verdienst, den Wienern einen der berühmtesten Virtuosen der
0005Gegenwart, Giovanni Bottesini, zuerst vorgeführt zu
0006haben. So jung Bottesini noch ist, er sieht seine Herrschaft
0007über den Contrabaß unbestritten und seine Virtuosität von
0008keinem Rivalen, weder in den modernen Concertsälen, noch in
0009den alten Musik-Lexikons, erreicht. Allerdings und mit Recht
0010ist die Baßgeige ein selten gewähltes Concert-Instrument.
0011Seit dem alten Hindle, der in den Zwanziger- und Drei-
0012ßiger-Jahren alljährlich sein regelmäßiges Contrabaß-Concert
0013in Wien gegeben, ist unseres Wissens hier Niemand auf dem
0014Orchester-Elephanten geritten. Die Baßgeige verdankt ihre
0015Wichtigkeit im Orchester dem entscheidenden Ernst und Nach-
0016druck, womit sie die Conversation der übrigen Instrumente
0017stützt und approbirt; sie selbst ist nicht zum Redner geboren.
0018Wer die Baßgeige zum Solo-Instrument erheben will, ist ge-
0019nöthigt, gerade ihre charakteristischen Eigenschaften möglichst abzu-
0020schwächen; der Virtuose nimmt ihr die derbe, rumpelnde Kraft,
0021die erhabene Vierschrötigkeit, und dressirt sie zum Violoncell.
0022In der That kann man geschlossenen Auges Bottesini längere
0023Zeit mit der Illusion anhören, einen trefflichen Cellisten zu
0024vernehmen. Er trägt Gesangstellen in der Bariton- und
0025Tenorlage mit weichem, edlem Ton und schmelzendem Ausdruck
0026vor; die schnellsten, schwierigsten Passagen, Triller, chromatische
0027und diatonische Terzenläufe, endlich alle Gaukeleien des
0028Flageolets vollführt er mit größter Sicherheit und Eleganz.
0029Eines nur hätten wir noch gewünscht: daß Bottesini die hohe
0030Lage nicht so unverhältnißmäßig bevorzugt, sondern auch die
0031gewaltige Tiefe des Instruments häufiger producirt hätte.
0032So kann man mitten in der Bewunderung über dieses Vio-
0033loncellspiel auf der Baßgeige den Gedanken nicht ganz ab-
0034wehren, warum der Mann nicht lieber gleich zum Cello greife,
0035wo das Alles viel leichter von statten geht? „Eben weil 
0036es leichter wäre,“ würde der Virtuose wahrscheinlich antwor-
0037ten, „und weil mein Erfolg darauf beruht, das Schwierigere
0038zu vollbringen.“ Wo ungewöhnliche Kraft und Gewandtheit
0039ihre volle Herrschaft über ein widerspenstiges Material pro-
0040duciren, da kann und wird der Zoll der Bewunderung nicht
0041versagt werden. Ein widerspenstigeres Material für die Bra-
0042vour kann es aber kaum geben, als den Contrabaß, und einen
0043vollkommeneren Bändiger desselben auch nicht, als Botte-
0044sini
. Glaubt Jemand das Staunen über technische Virtuo-
0045sität verlernt zu haben, bei Bottesini’s Productionen
0046wird er es wieder lernen. Daß ein ästhetischer Eindruck, wel-
0047cher hauptsächlich aus dem Erstaunen resultirt, kein nachhal-
0048tiger sei, bedarf freilich nicht erst des Beweises.


0049Hingegen verdient Bottesini das ausdrückliche Lob, daß
0050er auch in der Bravour mit Geschmack verfährt und jene
0051bajazzo-artigen Charlatanerien verschmäht, mit denen auf derlei
0052Ausnahms-Instrumenten so gern geflunkert wird. Dahin ge-
0053hört z. B. das über Gebühr berühmte Kunststückchen des Pie-
0054montesen Langlois, der die hohe Saite des Contrabasses,
0055anstatt sie aufs Griffbrett zu drücken, zwischen dem Daumen
0056und Zeigefinger festklemmte und so mit umgekehrter Hand
0057rasch bis an den Steg rutschte, eine heulende Hexe, die zum
0058Schornstein hinausfährt. Auch die Compositionen Bottesini’s
0059sind, in der gewöhnlichen Form virtuoser Opern-Potpourris,
0060anständig und nicht ohne musikalisches Geschick gearbeitet.


0061Bottesini’s Contrabaß ist ein dreisaitiger, wie ihn die
0062meisten Solospieler benützen und alle benützen sollten. Der
0063dreisaitige Contrabaß (Quartenstimmung a, d, g) ist nicht
0064nur leichter zu handhaben, sondern gewinnt auch durch den
0065Wegfall der verworren polternden tiefsten Saite an Bestimmt-
0066heit und Vollklang des Tones. Im Orchester dürfte die Zu-
0067kunft den viersaitigen Baßgeigen gehören, wie sie in ganz
0068Deutschland und Frankreich üblich sind, während man die
0069dreisaitigen nur mehr in den Opernhäusern Englands und 
0070Italiens antrifft. Obwohl Bottesini’s Instrument nicht von
0071größtem Format ist, nimmt es doch eine gewaltige Körper-
0072kraft in Anspruch. Eine Production auf der Baßgeige ist kein
0073„Spielen“ mehr, sondern ein Ringen und Raufen, ein An-
0074fallen und Niederzwingen des colossalen Gegners. Wenn Botte-
0075sini
, ein kräftiger, hochgewachsener Mann, sich tief über den
0076Coloß beugend, mit der Linken den langen Weg vom Hals
0077bis zum Steg unaufhörlich zurücklegt, während die Rechte mit
0078mächtigem Bogen die Saiten säbelt, so bewundert man den
0079Athleten in ihm kaum weniger, als den Tonkünstler. Im
0080Presto kam er uns vor wie ein musikalischer van Aken,
0081der eine wildgewordene Bestie bändigt.


0082Die Aufnahme Bottesini’s in Wien entsprach voll-
0083kommen seinem Ruhme. Es ist Thatsache, daß dieser Künstler
0084während der letzten Londoner Saison in jedem Concerte den
0085Sieg über alle mitwirkenden berühmten Virtuosen und
0086Sänger davontrug — eine Wahrnehmung, die den Schwa-
0087ger Carlotta Patti’s veranlaßte, gegen das En-
0088gagement des von ihm hochgeschätzten und ihm persönlich be-
0089freundeten Bottesini für die „Ullman-Concerte“ zu pro-
0090testiren. Diese verdunkelnde Wirkung übte die gefeierte Baß-
0091geige auch im Harmonie-Theater auf Madame Scalese,
0092die zwar keine Künstlerin ersten Ranges, aber immerhin eine
0093Sängerin von unleugbaren Vorzügen und von günstigem
0094Rufe ist. Melanie Scalese (Schwiegertochter des hier wohlbe-
0095kannten Baßbuffo) besitzt eine umfangreiche Altstimme von
0096mehr Kraft und Nachdruck als Schmelz. Ihre Coloratur ist
0097sicher und gleich, aber nicht elegant und zierlich genug. So
0098viel sich aus der stark abgestandenen, formalistischen Arie aus
0099Semiramis“ entnehmen läßt — dem einzigen Stück, das
0100wir von Madame Scalese hörten — entbehrt ihr Vortrag
0101noch der letzten vollendenden Grazie und Feinheit, nicht aber
0102jenes elementarischen südländischen Feuers, das den Italienern
0103oft genug über manche ästhetische Lücke hinweghilft. Die Sän-
0104gerin errang lebhaften Beifall. Das zahlreich anwesende
0105Publicum unterhielt sich nach dem Concerte aufs beste an [2]
0106Barbieri’s Operette: „Ein Abenteuer auf Vorposten“, und
0107an den hübschen Leistungen der talentvollen Sängerinnen
0108Edelsberg und Ullrichs.


0109Der Musikvereinssaal brachte seit unserem letzten Be-
0110richt die sechste und siebente Quartett-Soirée von Hellmes-
0111berger
. Fräulein Julie v. Asten, die mit Herrn Hell-
0112mesberger eine Sonate von J. S. Bach spielte, und Herr
0113Schenner, der mit Schubert’s B-dur-Trio ein ehren-
0114volles Debut bestand, wurden wiederholt gerufen. Herr
0115Schenner, als tüchtiger Clavierlehrer bekannt und gesucht,
0116that sich durch kräftigen Anschlag und sicheres, correctes Spiel
0117hervor. Eine gewisse Härte und didaktische Trockenheit wird
0118die Zeit hoffentlich abstreifen. Neu war ein Streichquartett
0119vom k. k. Hof- und Domcapellmeister Herrn G. Preyer,
0120der bereits durch eine Reihe von Jahren sich dem öffentlichen
0121Musikleben ferngehalten hat. Das Quartett bewegt sich mit
0122viel Geschick und Anstand in etwas ausgefahrenen Geleisen
0123einer früheren Geschmacksperiode. Den meisten Beifall errang
0124das Scherzo, eine Art Violin-Etude in raschen Sechzehnteln,
0125welche Herrn Hellmesberger Gelegenheit gab, als Solovirtuose
0126zu glänzen. Das Publikum schied von dem Preyer’schen
0127Quartett ohne Groll, aber auch ohne zärtliches Bedauern.


0128Mit Jubel wurde Frau Clara Schumann begrüßt,
0129die nach mehrjähriger Abwesenheit Wien wieder mit ihrem
0130Besuch erfreute und Samstag Abends ihr erstes Concert im
0131Musikvereinssaale gab. Der Saal war in allen Räumen
0132gedrängt voll — ein seltener Anblick in so zerstreuender Fa-
0133schingszeit und ein schönes Zeichen für die Künstlerin wie für
0134das Publicum.


0135Mit ganzem Herzen freuten wir uns wieder des edlen,
0136prunklosen und verständnißvollen Spieles der verehrten Frau
0137und, nebenbei gesagt, ihres kräftigen, blühenden Aussehens.
0138Auch ihr Spiel hat seit ihrem letzten Besuch im Jahre 1858 
0139nicht gealtert, im Gegentheil schien uns mancher nervöse Zug
0140von ehedem beruhigt, manche Schärfe gemildert. Das Pro-
0141gramm, geziert durch einige sehr beifällig aufgenommene Lie-
0142dervorträge Frau Dustmann’s, war vorzüglich.


0143Frau Schumann spielte das herrliche F-dur-Trio 
0144ihres Gatten (mit den Herren Hellmesberger und -
0145ver
), ein Orgel-Präludium von Sebastian Bach, ein Alle-
0146gretto aus Schubert’s Nachlaß, Weber’s As-dur-Scherzo 
0147und ein allerliebstes Impromptu („Zur Guitarre“) von F.
0148Hiller, das wiederholt werden mußte.


0149In Beethoven’s F-moll-Sonate („appassionata“), einer
0150der schwersten und anstrengendsten Aufgaben, bewunderten wir
0151außer dem tiefdurchdachten Vortrag auch die Ausdauer Frau
0152Schumann’s. Allerdings wird kaum irgend eine Frauenhand
0153den Ansprüchen an physische Kraft entsprechen, welche gerade
0154dieses vulcanisch auflodernde Tonstück in uns erregt. Es ist
0155dieselbe Sonate, mit der Frau Schumann als junges Mäd-
0156chen vor nahezu 30 Jahren Grillparzer zu dem bekannten
0157sinnigen Gedicht begeistert und einen neuen, folgenreichen
0158Umschwung in dem gesammten Concertwesen hervorgebracht hat.


0159Am 14. December 1837 gab Clara Wieck ihr erstes
0160Concert in Wien. Eine halb erblühte Rose mit allem Reiz
0161des Knospens und dabei dem vollen Duft einer entfalteten
0162Centifolie! Kein Wunderkind — und doch noch ein Kind und
0163schon ein Wunder. Es war eine neue, ungeahnte Ansicht der
0164Virtuosität: nachdem diese in Thalberg als weltmännisch
0165vornehme Salonerscheinung aufgetreten war, erschien sie jetzt
0166in Clara Wieck als mädchenhafte Unschuld und Poesie. Bei
0167allem Zauber, den diese Poesie in Clara’s Persönlichkeit und
0168Vortrag übte, blieb doch — man muß historisch getreu sein —
0169die Virtuosität der eigentliche Grund und Maßstab der
0170ihr damals gezollten Bewunderung. „Sie steht mit Thal-
0171berg
auf gleicher Stufe,“ schrieb man damals; damit war
0172in Wien sicherlich das Höchste gesagt.


0173Der poetische und romantische Zauber der Virtuosität
0174war in Clara’s Programmen hauptsächlich durch Chopin 
0175und Henselt vertreten, welch letzterer kaum aufgetauchte
0176Componist dem Mädchen ein gutes Theil seines schnellen
0177Ruhmes verdankte. Außerdem spielte jedoch Clara Wieck in
0178den Dreißiger-Jahren immer auch ein und das andere flim-
0179mernde Bravourstück, am häufigsten das C-dur-Rondo von 
0180Pixis, ihre „Pirata-Variationen“ u. dgl. Auf Grund dieser
0181Erfolge konnte sie es damals schon wagen, hin und wieder
0182in ihren Concerten eine Beethoven’sche Sonate zu spielen
0183(F-moll, D-moll, C-dur und Cis-moll). Dieser schüchterne
0184Anfang war eine That, für die allein ihr der größte Dank,
0185weil unseres Wissens die Priorität, gebührt. Wir haben wenig-
0186stens nicht ausfindig machen können, daß in Wien vor Clara
0187Wieck ein Virtuose öffentlich Claviersonaten vorgetragen hätte.
0188In Schuppanzigh’s Quartett-Soiréen, diesem classischen
0189Asyl der Kammermusik und speciell des Beethoven-Cultus, ist
0190nie eine Claviersonate von Beethoven gespielt worden, höch-
0191stens hin und wieder eines der Claviertrios. Sogar in den
0192„Abend-Unterhaltungen“ der Gesellschaft der Musikfreunde, die
0193ohne Orchester und mit vorzüglichster Rücksicht auf das Cla-
0194vierspiel wöchentlich gegeben wurden, kommt bis zum Jahre
01951837 keine Claviersonate vor. Man hat sehr irrthümlicher-
0196weise daraus eine der landläufigen Anklagen Wiens wegen
0197„Ignorirung Beethoven’s“ geschmiedet. Beethoven’s Sonaten
0198waren nirgends auf den Programmen der Virtuosen zu fin-
0199den, nicht weil sie von Beethoven, sondern weil sie So-
0200naten
waren. Die Sonate galt noch nicht für concertfähig,
0201sie gehörte zur Kammermusik und wurde im Privatsalon, im
0202Freundeskreis, im Studirzimmer gepflegt. Als mehrsätziges
0203Clavierstück war bei öffentlichen Virtuosen-Productionen nur
0204das Concert hoffähig, wie wir denn in den Zwanziger- und
0205Dreißiger-Jahren Beethoven’s Clavier-Concerte sehr häufig,
0206aber keine seiner Sonaten auf den Wiener Concertzetteln fin-
0207den. Die Beethoven’sche Sonate ist erst durch das Bei-
0208spiel Clara Wieck’s und bald darauf Liszt’s in die Virtuo-
0209sen-Programme, und auch da noch sehr allmälig eingedrun-
0210gen. Dies große kunsthistorische Verdienst Clara Schumann’s
0211kommt uns immer in den Sinn, wenn wir sie eine Beetho-
0212ven’sche Sonate spielen hören, und deßhalb schien es uns nicht
0213ungeeignet, auch den größeren Kreis unserer Musikfreunde
0214daran zu erinnern.