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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 781. Wien, Donnerstag den 1. November 1866

[1]

Die Oper in Pacht.


0002Ed. H. Seit einiger Zeit mehren sich die Gerüchte von
0003einer bevorstehenden Reform in der Leitung des Hofopern-
0004theaters. Sie werden im Publicum um so williger geglaubt,
0005als die Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Direction eine
0006allgemeine ist. Noch wechseln diese Reform-Symptome chamäleon-
0007artig; bald hört man von der Ernennung eines neuen, wie
0008bisher dem Oberstkämmerer untergeordneten Directors, bald
0009wieder von der Zuweisung der Oberleitung an das Staats-
0010ministerium, endlich auch von einer Verpachtung des ganzen
0011Instituts. Das Wort „Verpachtung“ scheint bei einem großen
0012Theil des Publicums, mitunter auch in der Journalistik, einen
0013Schrecken hervorzurufen, den wir nicht ganz begreifen. Neue-
0014sten Nachrichten zufolge soll die über die Reform des Hof-
0015operntheaters berathende Hofcommission eine Verpachtung für
0016den „verwerflichsten Modus“, ja für etwas „Unmögliches“
0017erklärt haben. Wir möchten durch einige Daten, zunächst histo-
0018rische, einen kleinen Beitrag zur Beurtheilung dieser Direc-
0019tionsform geben, natürlich ohne die Anmaßung, damit den
0020Gegenstand zu erschöpfen und die für Wien ziemlich compli-
0021cirte Frage spruchreif zu machen.


0022Von allen Opern-Instituten hat in der Frage nach der
0023besten Directionsweise keines so bedeutende Erfahrungen ge-
0024macht, wie die Große Oper in Paris und das Hofopern-
0025theater in Wien. Die Geschichte beider ist ein fortwährender
0026Wechsel zwischen den zwei Systemen: Staatsverwaltung und
0027Privat-Unternehmung. Im ersteren Falle administrirt der
0028Staat oder der Hof (wir fassen hier Beides in den Begriff
0029„Staatsverwaltung“) das Theater auf eigene Rechnung durch
0030einen angestellten, vom Hofamt oder Ministerium abhängigen
0031Director, im zweiten führt es gegen einen bestimmten Zu-
0032schuß (Subvention), aber auf eigene Rechnung und Gefahr
0033ein unabhängiger Privatmann, der Pächter. Unter beiden For-
0034men gab es in Wien wie in Paris günstige und ungünstige
0035Epochen, da nimmermehr das System allein entscheidet, son-
0036dern mit ihm stets auch die Persönlichkeit, welche, und die 
0037Bedingungen, unter welchen sie dirigirt. Allein im Großen
0038und Ganzen bietet die Geschichte doch das Resultat, daß die
0039Wiener wie die Pariser Oper ihre glänzendsten Zeiten unter
0040der Leitung von Privat-Unternehmern, also in der Form der
0041Verpachtung erlebt hat. Aus den ersten Zeiten der von
0042Louis XIV. gestifteten Académie royale erwähnen wir
0043nur, daß die alte Monarchie die Glanz-Epoche ihrer Oper
0044den Privat-Unternehmern Lully, dann Francoeur und
0045Rebel verdankte. Der berühmte Schöpfer der französischen
0046Musik, Lully, war ganz eigentlich Pächter ohne Subvention,
0047aber mit den unerhörtesten Privilegien, dabei nur der Person
0048des Königs verantwortlich. Rebel und Francoeur über-
0049nahmen die Oper (1757) auf eigene Gefahr und Rechnung
0050unter Oberaufsicht der Stadt Paris, und führten sie, obgleich
0051ohne Subvention, durch vierzehn Jahre zu ihrem und des
0052Publicums Vortheil. Nachher sank das Glück der folgenden
0053Pächter immer mehr, hauptsächlich in Folge des großen, stets
0054wachsenden Pensionsstandes, den jeder Unternehmer von
0055seinen Vorgängern übernehmen mußte, und durch die zuneh-
0056mende Abhängigkeit des Directors von der Hof- oder Staats-
0057bureaukratie.


0058Im Jahre 1777 erhielt die Oper zum erstenmale eine
0059Subvention, und zwar jährlich 80,000 Livres von der Com-
0060mune. Zwei Jahre später verwaltete die Stadt Paris das
0061Theater auf eigene Rechnung, dann folgten „Directoren“ un-
0062ter der Oberleitung des Staatssecretariats u. s. w. Das Re-
0063sultat war eine schlechte Opernleitung und ein alljährlich
0064mächtig steigendes Deficit. Napoleon bewilligte für die Oper
0065eine Subvention von 750,000 Francs und ernannte Direc-
0066toren mit vollkommener administrativer Freiheit. Hauptsäch-
0067lich durch letzteren Umstand und das in vieler Hinsicht treff-
0068liche Gesetz über die „Surintendance des grands théâtres“-
0069(1807) hob sich die Oper als kaiserliches Institut unter Na-
0070poleon. Unter der Restauration waren die Directoren (Cho-
0071ron und Persuis, Viotti, Habeneck, Dupantys, Lubbert) nichts
0072als willenlose Instrumente in den Händen der vorgesetzten
0073Regierungs-Behörden, die Oper sank rasch und der Staat
0074erntete aus seiner Verwaltung ein enormes Deficit. Der Mi-
0075nister Graf d’Argout erklärte 1832 in der Deputirten-
0076Kammer die Administrirung der Oper durch den
0077Staat für ein „gänzlich fehlerhaftes System“
. „Es
0078versteht sich von selbst,“ fügte er bei, „daß, wenn die Staats-
0079verwaltung sich in ein solches Unternehmen mischt, nothwen-
0080dig eine Menge Mißbräuche sich einschleichen. Und wirklich
0081war die Regierung damit so unglücklich, daß die Einnahmen
0082sich merklich verminderten und die Oper aufgehört hat, das
0083Publicum anzuziehen.“ Diese trüben Erfahrungen veranlaßten
0084die französische Regierung, die Große Oper im Jahre 1830 
0085an einen Privat-Unternehmer, Louis Véron, zu verpachten.


0086Dieser geschickte und thätige Mann übernahm gegen eine
0087Subvention von 700,000 bis 810,000 Francs die Oper auf
0088eigene Rechnung und Gefahr und erzielte nicht nur glänzende
0089Erfolge, sondern auch sehr namhaften Gewinn, was seit Rebel 
0090und Francoeur nicht vorgekommen war. Véron’s Pacht gilt
0091jetzt noch in Paris für die Glanzzeit der Großen Oper, und
0092das Urtheil des Publicums erhielt seine officielle Sanction in
0093dem Bericht des Ministers Achille Fould an Kaiser Na-
0094poleon (1854), worin ausgesprochen wird, daß dieser Versuch,
0095die Oper wieder der Privat-Unternehmung zu über-
0096lassen, „von dem vollständigsten Erfolg gekrönt
0097war“. Die folgenden Pächter waren nicht so glücklich wie
0098Véron; theils verstanden sie ihr Geschäft nicht und ruinir-
0099ten sich durch allzu großen Ausstattungs-Luxus, theils litten sie
0100(im Jahre 1848 und den folgenden) schwer unter den Folgen
0101der Revolution. Trotzdem muß man gestehen, daß die Direc-
0102tion der Pächter Duponchel, Roqueplan, Léon Pil-
0103let
nicht sowol unangenehm für das Publicum als für die
0104Pächter selbst war, die stets das Deficit ihrer Vorgänger zu
0105zahlen hatten. Im Jahre 1854 übernahm die Regierung die
0106Oper abermals in eigene Regie und leitete sie durch ange-
0107stellte, dem Staatsministerium untergeordnete Directoren.
0108Und abermals machte man die trübe Erfahrung, daß unter
0109diesen angestellten Directoren (Roqueplan, Crosnier, Royer,
0110Perrin) die Leistungen der Oper herabsanken, das Deficit hin-
0111gegen sich zu enormer Höhe aufschwang.


0112Nach zehn Jahren war die Regierung dieses oft erlebten
0113Resultates satt, und Louis Napoleon verfügte neuerdings die
0114Verpachtung des Operntheaters. So steht dieses berühmte [2]
0115Institut seit 15. April 1866 wieder unter der Leitung eines
0116Privat-Unternehmers (des ehemaligen Directors Roqueplan),
0117der es auf eigene Gefahr und Rechnung führt. Um zu zeigen,
0118daß diese Maßregel nicht aus Ersparungsrücksichten geschehe,
0119sondern um eine bessere Oper zu erhalten, hat Kaiser
0120Napoleon dem neuen Pächter die bisherige Staatssubvention
0121belassen und obendrein 100,000 Francs aus der Civil-
0122liste hinzugefügt. Es bleibt eine bedeutsame Thatsache, daß
0123das praktische und theaterkundigste Volk der Franzosen in
0124neuester Zeit abermals zur Verpachtung der Oper zurück-
0125gekehrt ist.


0126Auch in Wien war die Administration der Hofoper ein
0127fortwährendes Hinüber — Herüber von Privat- und Hofregie.
0128Unter Maria Theresia und Kaiser Joseph herrschte die Ver-
0129pachtung vor, und zwar waren es hohe Adelige, welche gegen
0130eine Subvention die Theater zu führen übernahmen. Der Er-
0131folg erwies sich meistens als unglücklich; sind doch unter
0132Maria Theresia binnen zehn Jahren sieben verschiedene Päch-
0133ter zu Grunde gegangen. Diese Mißerfolge beweisen unseres
0134Erachtens nicht sowol, daß die Verpachtung ein falsches Sy-
0135stem, als vielmehr, daß Cavaliere selten gute Theater-Direc-
0136toren sind. Es verlangt eben dieses Geschäft, wie jedes andere,
0137Männer von Fach. Nunmehr (nach der verunglückten Pachtung
0138des Grafen Kohary, 1776) nahm der Hof das Theater wieder
0139in eigene Regie und begann mit Maßregeln äußerster Sparsam-
0140keit, wie man sie sonst gerade Pächtern zuzuschreiben pflegt.
0141Trotzdem zeigten sich die Resultate so ungünstig, daß Kaiser
0142Franz gleich bei seinem Regierungsantritte (1792) die Ver-
0143pachtung ausschreiben ließ. Auf Bitten der Künstler stand er
0144wieder davon ab, jedoch nicht für lange; denn schon zwei
0145Jahre nachher wurden die beiden Hoftheater dem Baron
0146Braun überlassen, der sie gegen einen Zuschuß von 40.000
0147Gulden auf eigene Rechnung verwaltete. Er muthete sich zu
0148viel zu, indem er auch noch das Theater an der Wien über-
0149nahm. Als in Folge der Kriegsereignisse die dreifache
0150Theaterkrone den freiherrlichen Pächter zu erdrücken drohte,
0151kauften neun der ersten österreichischen Cavaliere ihm das
0152Pachtrecht ab. Fünf von ihnen übernahmen zugleich die Ver-
0153waltung mit Anfang des Jahres 1807, und zwar leitete 
0154Fürst Eszterhazy das Gesammt-Unternehmen, Graf
0155Palffy das Schauspiel, Fürst Lobkowitz die Oper, Graf
0156Zichy das Ballet und die ganze Oekonomie, Graf Lodron 
0157die Baulichkeiten. Es war der vornehmste Pächterclub, den
0158man sich denken kann, und gewiß dürfen wir das überwiegend
0159aus Kunstliebe ergriffene Unternehmen als einen Ausfluß
0160jenes rühmlichen Musik- und Theater-Enthusiasmus ansehen,
0161welcher den damaligen hohen Adel Wiens auszeichnete. An
0162gutem Willen fehlte es nicht, und Lobkowitz namentlich hat
0163für die Oper Anerkennenswerthes geleistet; aber die theater-
0164feindlichen Verhältnisse vor und während des Befreiungs-
0165krieges brachten es dahin, daß der Hof ein immer größeres
0166Deficit zu zahlen hatte, d. h. es aus Billigkeit zahlte, und
0167endlich die Regie der Hoftheater wieder selbst über-
0168nahm. Von 1817 bis Ende 1821 verwaltete der
0169Hof die Oper auf eigene Rechnung und mit dem
0170betrübendsten Erfolge. Man gab die Oper abermals
0171in Pacht, und zwar an den Neapolitaner Barbaja.
0172Diesmal hatte man endlich einen Pächter gewählt, der kein
0173fürstlicher Dilettant, sondern ein erfahrener Impresario war,
0174und ihm verdankt das Hofoperntheater seine glänzendste Pe-
0175riode. Unter dem Pächter Barbaja nahm unsere Oper die-
0176selbe plötzliche Wendung zum Besseren, wie unter dem Päch-
0177ter Véron in Paris. Daß Barbaja’s Sorgfalt hauptsächlich
0178der italienischen Oper zugute kam, war damals sehr natür-
0179lich: Rossini’s neue Musik, ausgeführt von einer Gesellschaft
0180unübertrefflicher italienischer Sänger, übte zu jener Zeit eine
0181unwiderstehliche Gewalt, der sich keine einzige deutsche Bühne,
0182weder unter Privat- noch unter Staatsverwaltung, entziehen
0183konnte. Trotzdem hat Barbaja, obwol Pächter und Italiener,
0184die deutsche Oper nicht vernachlässigt, seine deutsche Gesell-
0185schaft war vortrefflich, und zur Bereicherung des deutschen
0186Opern-Repertoires traf er eine Maßregel, die jeder obersten Hof-
0187theater-Direction Ehre gemacht hätte, einer solchen aber nie-
0188mals einfiel. Barbaja hatte den Plan gefaßt, die besten
0189deutschen Opern-Componisten zur Production für das Kärnt-
0190nerthor-Theater unter den günstigsten Bedingungen anzueifern.
0191Zuerst wurden Beethoven, C. M. Weber, Spohr, C. Kreutzer 
0192und Winter mit neuen Opernbüchern bedacht. Daß Beetho-
0193ven von dem ihm angebotenen Libretto (nach Schiller’s
0194Bürgschaft“) nur den ersten und dritten Act componiren
0195wollte und endlich abfiel, war nicht Barbaja’s Schuld; Bar-
0196baja’s Verdienst bleibt es hingegen, daß C. M. Weber seine
0197Euryanthe“ eigens für Wien schrieb und daselbst dirigirte.
0198Barbaja’s Pacht dauerte von Ende December 1821 bis
0199April 1828. Nach dem ganz kurzen unglücklichen Intermezzo
0200eines neuen Pächter-Cavaliers, des Grafen Gallenberg 
0201(1829), übernahm der Hof die Oper abermals in eigene Verwal-
0202tung, um sie jedoch schleunigst wieder in Pacht zu geben.
0203Diesmal war der Pächter Louis Duport (18301836) und nach
0204ihm Balocchino mit Merelli (18211848). Ohne Zwei-
0205fel haben diese Pächter dem Geschmack ihrer Zeit Rechnung
0206getragen (die vielen einactigen Operetten unter Duport,
0207das Vorherrschen französischer und italienischer Componisten
0208unter Balocchino), auch wären bei gleicher Tüchtigkeit
0209deutsche Unternehmer italienischen entschieden vorzuziehen
0210gewesen; trotzdem wurden in den 27 Jahren dieser letzten
0211Pachtperiode (18211848) bessere Sänger, ein reicheres Re-
0212pertoire und gerundetere Vorstellungen in der deutschen wie in
0213der wälschen Saison vorgeführt, als in irgend einem gleich
0214langen Zeitraum der Hofregie. Etwas von dem Eifer und
0215der Rührigkeit, die jeder Pächter entwickelt, ging auch
0216noch auf die Nachfolger Balocchino’s über: auf Holbein 
0217(18481853) und auf Cornet (18531857), welcher von
0218allen angestellten Directoren jedenfalls der tüchtigste Fach-
0219mann war. Demungeachtet sank die Opernleitung unter der
0220eigenen Regie des Hofes allmälig herab, stand beträchtlich tief
0221unter Eckert (18571860) und ist schließlich unter Salvi 
0222(1861) auf einer Stufe von Trägheit, Unsicherheit und rath-
0223loser Bedrängniß angelangt, über welche die Kritik und das
0224Publicum einhellig abgeurtheilt haben. Die Geschichte ist
0225es somit nicht, welche die Verpachtung der Hofoper als den
0226„verwerflichsten Modus“ dargestellt. Im Gegentheil lehrt sie,
0227daß in Wien wie in Paris die Oper sich am besten nicht
0228unter der Hof- und Staatsregie, sondern unter Privatpäch-
0229tern befand, falls diese nur tüchtige Fachmänner und im
0230Genuß voller administrativer Freiheit waren.