Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 1298. Wien, Freitag den 10. April 1868
[1]Concerte.
0002Ed. H. „Vom Eise befreit sind Strom und Bäche durch
0003des Frühlings holden, belebenden Blick“ — wem klingen sie
0004nicht jetzt im Ohr, die Worte Faustʼs, aus welchen die ganze
0005Freudigkeit der Osterstimmung quillt, wie Sonnenwärme und
0006junges Grün? An sie darf nicht denken, wer Schubertʼs
0007„Oster-Cantate“ („Lazarus“) hören geht. „Charfreitags-Cantate“
0008wäre die treffendere Bezeichnung für ein geistliches Drama,
0009dessen erster Theil am Sterbebette, dessen zweiter auf dem
0010Begräbnißplatze spielt. Den dritten Theil des Niemayerʼ-
0011schen Gedichtes, welcher mit der Erweckung des Lazarus tir-
0012umphirend abschließt, hat Schubert, den bisherigen Nachfor-
0013schungen zufolge, nicht componirt. Ein schwerer Verlust, denn
0014Schubertʼs Musik, dem Leben befreundeter als dem Tode,
0015hätte, ähnlich dem christlichen Mythus, welcher in der Aufer-
0016stehung des todten Lazarus die Auferstehung Aller am jüng-
0017sten Tage vorbildete, in der Wiederbelebung dieses Einzelnen
0018das Leben selbst und seine Herrlichkeit gefeiert. Das „Lazarus“-
0019Fragment, im Jahre 1863 durch das Verdienst Herbeckʼs
0020zum erstenmale zu Gehör gebracht, erlebte nun seine zweite
0021Aufführung am Chardienstag in dem „Außerordentlichen Con-
0022certe der Gesellschaft der Musikfreunde“. Diese reicher ausge-
0023stattete und feiner ausgearbeitete Wiederholung ließ uns die
0024hohen Schönheiten der Tondichtung noch viel tiefer empfinden.
0025„Lazarus“ besitzt die ganze Innigkeit der Empfindung, den
0026melodischen Reichthum und die dramatische Lebendigkeit, deren
0027Vereinigung den Genius Schubertʼs charakterisirt. Wie
0028rührend und schönheitsverklärt schwebt die erste Arie der
0029Maria empor, wie überirdisch klingt die Erzählung
0030Jeminaʼs von ihrer Auferweckung, wie leidenschaftlich-dra-
0031matisch die Arie des verzweifelnden Simon! Gesänge wie diese
0032gehören zu dem Schönsten, was Schubert geschaffen hat,
0033und zu dem Ergreifendsten, was die Musik überhaupt besitzt.
0034Es gehört die ganze innere Freudigkeit und Klarheit Schu-
0035bertʼscher Musik dazu, um dem Verwesungsgeruch, der diese
0036Dichtung durchzieht, fast alles Beklemmende zu nehmen. „Fast“,
0037denn gänzlich vermochte selbst Schubertʼs Genius die un-
0038heilvolle Einförmigkeit des Textes nicht zu besiegen. Der Ton-
0039dichter hätte zu seiner melodiösen Blüthenfülle auch noch
0040Beethovenʼs einschneidende Kraft und Bachʼs contrapunk-
0041tische Meisterschaft besitzen müssen, um der thränenseligen Mo-
0042notonie dieses Gegenstandes völlig Herr zu werden. Das
0043ununterbrochene Festhalten derselben Stimmung, musikalisch
0044potenzirt durch das stete Vorherrschen der langsamen Tempi
0045im 4/4 Tact, die langen ariosen Recitative, das Fehlen der
0046Baß- und Altstimme im ersten Theil u. dgl. wirkt am Ende
0047unleugbar erschlaffend. Am empfindlichsten vermißt man das
0048Gegengewicht polyphon gearbeiteter, ja auch nur reich figurirter
0049Sätze und kräftiger Chöre. Der Chor ist nur am Schlusse
0050jeder Abtheilung, beidemal als langsamer Klagegesang, verwen-
0051det. Diese Eigenheiten geben dem Ganzen einen fast lieder-
0052spielartigen Charakter, der von dem strengeren Begriff des
0053Oratorien-Styls (auch abgesehen von dem gänzlichen Abgang
0054des epischen Elementes) seitab steht. Zwischen ergreifend
0055schönen Nummern dehnen sich im „Lazarus“ bedeutende
0056Strecken, die nicht freizusprechen sind von rhythmischer und
0057harmonischer Monotonie, von weichlicher, hie und da auch an
0058ältere Opern-Componisten erinnernder Empfindsamkeit. An
0059jenen Wunderblüthen des musikalischen Todtenkranzes wird sich
0060der Hörer jederzeit erquicken; er wird staunen, bis zu welchem
0061Grade Schubert es vermocht habe, Leben in dies Sterben zu
0062bringen. Aber der Total-Eindruck des ganzen Werkes wird
0063niemals ein ungemischter, wahrhaft befreiender sein, so lange
0064nicht eine kundige und vorurtheilsfreie Hand daran zu kürzen
0065sich entschließt.
0066Was wir zu der schmerzerfüllten Schönheit des „La-
0067zarus“ noch hinzuwünschen mochten, das brachte am selben
0068Abende in reichem Maße das „Kyrie“ aus Bachʼs H-moll-
0069Messe: mannhafte Energie in der Klage und jene Gewalt der
0070Polyphonie, welche das musikalische Denken hinreichend be-
0071schäftigt, um die zersetzende Macht wehmüthigen Empfindens zu
0072paralysiren. Am selben Tage des vorigen Jahres hatte Hof-
0073capellmeister Herbeck die „Hohe Messe“ von Bach mit Aus-
0074nahme des „Kyrie“ und „Gloria“ aufgeführt. Aeußere Hin-
0075dernisse vereitelten diesmal die Aufführung des „Gloria“,
0076des einzigen Satzes, der uns somit zur vollständigen Bekannt-
0077schaft dieser großen Tonschöpfung noch fehlt. Aus diesem
0078Grunde und wegen des imposanten Gegensatzes, welchen gerade
0079der trompetenschmetternde Triumph des „Gloria“ gegen das
0080düstere „Kyrie“ bildet, bedauern wir den Ausfall dieses (aller-
0081dings sehr ausgedehnten) Meßtheiles im letzten Concerte.
0082„Kyrie“ und „Gloria“ der Bachʼschen Messe gehören überdies
0083auch noch historisch zusammen, indem diese beiden (im Jahre
00841733 von Bach an Friedrich August II. von Sachsen selbst-
0085ständig überschickten) Sätze den ursprünglichen Kern des gan-
0086zen Werkes bilden, dem der Autor erst später und allmälig
0087die anderen Theile, mit Benützung älterer Cantaten, hinzu-
0088fügte. Was Sebastian Bach, den eifrigen, strengen Prote-
0089stanten, zur Composition der ganzen katholischen Messe veran-
0090laßt haben mag, hat man sich oft gefragt. Die einfachste Er-
0091klärung dünkt uns, daß Bach von der Größe und dem Reich-
0092thume des lateinischen Meßtextes, welcher in kurzen Sätzen
0093die ganze kirchliche Gedanken- und Empfindungswelt umfaßt
0094und dem Componisten eine der bedeutendsten und dankbarsten
0095Aufgaben bietet, sich mächtig angezogen und aufgefordert
0096fühlte. Es fehlt seiner Composition die katholische Färbung,
0097der confessionelle Accent, ja die praktische Eignung für den
0098Gottesdienst, allein an Tiefe und Fülle der religiösen Em-
0099pfindung, an Größe des Gedankens und der Kunstvollendung
0100steht sie mit der — unserer modernen Anschauung sympa-
0101thischeren, aber kaum großartigeren — Festmesse von Beetho-
0102ven zu oberst aller musikalischen Messen. Das „Kyrie“, wel-
0103ches wir im letzten Concerte hörten, besteht aus drei Num-
0104mern: einem im größten Style fugirten Chor, dessen Thema
0105zu den merkwürdigsten Erfindungen und dessen Durchführung
0106zu den großartigsten Contrapunktirungen selbst bei Bach ge-
0107hört. Es folgt das „Christe eleyson“ als Duett für zwei
0108Sopranstimmen, blos von zwei Instrumentalstimmen (erste
0109und zweite Violine unisono und Grundbaß) begleitet, ein Ton-
0110stück, in welchem der Bachʼsche Genius, wie so manchmal in
0111Arien und Duetten, sich zur Bachʼschen Manier, zum Forma-
0112lismus verengt und deßhalb eine tiefere Wirkung auf den Hö-
0113rer nicht hervorbringt. Um so gewaltiger erbraust der fol-
0114gende kürzere, streng fugirte Alla-breve-Chor „Kyrie eleyson“,
0115welcher diesen Meßtheil in erhabener Weise abschließt. Zwi-
0116schen das Bachʼsche „Kyrie“ und Schubertʼs „Lazarus“
0117hatte Herr Herbeck mit feiner Berechnung zwei Chöre ohne [2]
0118Orchester-Begleitung und von hellerer Färbung eingeschaltet:
0119eine „alte Marien-Litanei der Hirten“, von anmuthiger
0120Naivetät und schönen Klangeffecten, dann Mendelssohnʼs
0121geistvolle, ungemein wirksame Composition des 43. Psalms
0122(„Richte mich, Gott“). Die Ausführung des ganzen Concer-
0123tes verdient die wärmste Anerkennung. Man könnte streiten,
0124ob der „Singverein“ sich durch sein zartes Pianissimo in der
0125Marien-Litanei oder durch den kräftigen Schwung in dem
0126Mendelssohnʼschen Psalm mehr ausgezeichnet habe — genug,
0127daß beide Nummern wiederholt werden mußten. Im „La-
0128zarus“ sang Herr Prihoda die Titelrolle mit edler, maß-
0129voller Empfindung, Herr Krenn mit lobenswerthem Eifer
0130den Nathanael, dessen C-dur-Arie allerdings für eine kräftigere
0131Stimme gedacht ist. Herr v. Bignio trug die schwierige
0132Arie des Sadducäers Simon echt künstlerisch mit durchgrei-
0133fender Wirkung vor. Das reichste Maß des Lobes gebührt
0134diesmal Frau Marie Wilt, welche nebst ihrer eigenen Partie
0135(Jemina) noch in letzter Stunde den bedeutenden Part der
0136„Maria“ aus Gefälligkeit übernommen hatte und beide mit
0137gleicher Trefflichkeit durchführte. Fräulein Anna v. Asten
0138(die jüngere Schwester unserer geschätzten Pianistin Julie
0139v. Asten) trat als Martha im „Lazarus“ zum erstenmale
0140vor die Oeffentlichkeit; ihr frischer, klangvoller Mezzo-Sopran
0141und ihre musikalische Festigkeit berechtigen zu schöner Hoff-
0142nung. Das Publicum spendete allen Mitwirkenden, insbe-
0143dere dem verdienstvollen Leiter dieser trefflichen Production,
0144Herrn Hofcapellmeister Herbeck, Zeichen lebhaften Dankes.
0145Wir erwähnen zweier gut besuchter und sehr beifällig
0146aufgenommener Productionen: des zweiten „Historischen Concerts“
0147von Herrn Zellner und des „Heiteren Musikabends“ von Herrn
0148Käßmayer in den Blumensälen; leider konnten wir denselben
0149nicht selbst beiwohnen. Sodann ist die betrübende Nachricht zu melden,
0150daß das „Florentiner Quartett“ der Herren Jean Becker,
0151Masi, Chiostri und Hilpert nun doch endlich von den
0152Wienern sich verabschiedet hat. Es geschah dies mit der zehn-
0153ten Quartett-Soirée (im kleinen Redoutensaal), worin Mendels-
0154sohnʼs Es-dur, Schubertʼs D-moll- und Beethovenʼs
0155F-dur-Quartett (aus op. 18) zur Aufführung kamen. Das
0156Publicum blieb aber nach dem dritten Stücke beharrlich klat-
0157schend und rufend auf seinen Plätzen, bis die Künstler noch die
0158von ihnen eingeführte Haydnʼsche „Serenade“ als letzten Ab-
0159schiedsgruß boten. Wie wir mit Vergnügen hören, ist es kein
0160Abschied für immer; das Beckerʼsche Quartett wird zu An-
0161fang der nächsten Concert-Saison wieder hier eintreffen und
0162einen Abonnements-Cyklus von Quartett-Productionen veranstal-
0163ten. Man darf wol den Succeß des Florentiner Quartett-Vereins
0164für den größten und überraschendsten der ganzen abgelaufenen Mu-
0165sik-Saison erklären. Die fremden Künstler kamen sehr spät hier an,
0166das Publicum, das neben zahllosen anderen Concerten
0167nicht weniger als acht Hellmesbergerʼsche und drei Joa-
0168chimʼsche Quartett-Productionen gehört hatte, war überwältigt
0169und fand sich zu der ersten Soirée der „Florentiner“ sehr
0170spärlich ein. Dennoch war der Erfolg dieses Abends ent-
0171scheidend; er verbreitete rasch das übereinstimmende, zweifellose
0172Urtheil, Wien habe niemals ein so vollendetes Quartett gehört.
0173Schon die zweite Production war überfüllt, und die Beckerʼ
0174sche Gesellschaft konnte deren zehn nach einander geben, ohne
0175daß der Antheil des Publicums nachließ. Ja man lauschte
0176ihrem Zusammenspiel je öfter mit desto größerem Behagen,
0177ein Zeichen, daß die Wirkung aus echter künstlerischer Gediegen-
0178heit und nicht aus blendenden Scheinkünften hervorgegangen
0179war. Indem diese vier Künstler sich ausschließlich dem Quartett-
0180spiel widmen, seit einigen Jahren mit erstaunlichem Fleiß tag-
0181täglich zusammen spielend, hat ihr Vortrag eine technische
0182Sicherheit und ruhige Continuität erlangt, wie sie ge-
0183wöhnlich nur älteren Künstlern eigen ist. Andererseits be-
0184sitzen sie aber als junge Leute jene Wärme und frische
0185Sinnlichkeit, welche vor Pedanterie und Formalismus
0186bewahrt. Wir haben Compositionen der verschiedensten Mei-
0187ster und von verschiedenster Stylgattung von ihnen gleich treff-
0188lich interpretiren hören. Das subjective Bedenken, das wir
0189vielleicht hie und da gegen ein Zeitmaß, eine Vortragsnuance
0190u. dgl. hatten, kann uns an der Anerkennung nicht hindern,
0191daß wir einer gleichen Meisterschaft im Quartettspiel nie zu-
0192vor begegnet sind. Wer das Beckerʼsche Quartett mit an-
0193deren vergleichen will, wird billigerweise die schwierigeren Ver-
0194hältnisse dieser anderen Quartettspieler hervorheben, welche,
0195durch regelmäßigen Theater-, Concert- und Kirchendienst ange-
0196strengt, unmöglich mit so fleißigen und frischen Kräften täg-
0197lich üben können; er wird dergestalt zu erklären versuchen
0198warum sie die Meisterschaft des Beckerʼschen Quartetts
0199nicht erreichen. Wenn aber der Local-Patriotismus so weit
0200geht, das letztere Factum überhaupt zu leugnen und zu be-
0201haupten, wir hätten längst, was Becker und seine Genossen
0202leisten, ebenso gut und besser zu Hause, dann schlägt die „Ge-
0203rechtigkeit“ für das Gute in die crasseste Ungerechtigkeit gegen
0204das Bessere und Beste über. Das Wiener Publicum hat
0205bei aller Pietät für das Einheimische sich von solchem musika-
0206lischen Chauvinismus freigehalten, der wahrlich keinem Theil
0207zum Nutzen gedeiht.
0208Der Palmsonntag brachte die Aufführung von Haydnʼs
0209„Jahreszeiten“ im Burgtheater. Ueber die Physiognomie dieser
0210ziemlich stereotypen Productionen des Tonkünstler-Pensions-
0211vereins „Haydn“ ist wenig Neues zu melden. Die erbärmliche
0212Akustik des Locales, welche selbst die unvergleichliche Klangwir-
0213kung von Stücken wie die „Jagd“ und das „Winzerfest“ im
0214„Herbst“ lahmlegt, ist längst bekannt und beklagt, und nach-
0215dem die Direction des „Haydn“ nicht den leisesten Schritt
0216thut, um ein besseres Locale zu erhalten, so kann man sich
0217füglich auch jedes Mitleids entschlagen. Chöre und Orchester
0218sind etwas stärker als vordem, hingegen haben die einst regel-
0219mäßig von Staudigl, Erl und der Hasselt gesungenen
0220Solopartien bessere Zeiten gesehen. Fräulein Benza, hier
0221wie überall voll Feuer und Eifer, brachte einzelnes sehr Ge-
0222lungenes; im Allgemeinen ist ihre theatralische, heftige Vor-
0223tragsweise für den Oratorienstyl (namentlich im Recitativ)
0224wenig geeignet. Vor lauter einzelnen starken Accenten und
0225Tonschwellungen gelangt ihr Vortrag nie zu jenem edlen, ru-
0226higen Fluß, den solche Musik erheischt. Fräulein Benza
0227wurde häufig applaudirt, auch Herr Adams, welcher sich in
0228dem ihm ziemlich fernliegenden Oratorien-Gesange recht gut
0229zurechtfand. Herrn Dr. Krücklʼs verständige, noch nicht ganz
0230von der Jurisprudenz losgeschälte Vortragsweise paßt vielleicht
0231am besten für das Oratorium; wäre seine Stimme so kräftig
0232im großen Raume, als sie im Salon sympathisch klingt, ihre
0233Wirkung würde vollständig sein. Die Aufführung der „Jah-
0234reszeiten“, von Herrn Capellmeister Esser dirigirt, war sehr
0235besucht; sie und das „Lazarus-Concert“ dürften für diese Saison
0236die letzten größeren Concerte gewesen sein. Vom Eis befreit
0237sind Strom und Bäche!