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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 1752. Wien, Donnerstag den 15. Juli 1869

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Letzte Opernvorstellungen.

(„Die Afrikanerin“. „Robert der Teufel“. „Die Hugenotten“. Zwei neue Biographien Meyerbeer’s.)


0003Ed. H. Die Woche gehörte Meyerbeer. Die „Huge-
0004notten“ feierten ihren Einzug ins neue Opernhaus, „Robert“
0005und die „Afrikanerin“, welche gleichfalls dahin gehören, wurden
0006einigen Gastspielern zuliebe im Kärntnerthor-Theater wiederholt.
0007Meyerbeer’s Opern sind sämmtlich (mit Einschluß des „Nord-
0008stern“ und etwa mit alleiniger Ausnahme der „Dinorah“) wie
0009geschaffen für unser neues Opernhaus und werden zu dessen
0010verläßlichsten Stützen zählen. Die „Afrikanerin“ namentlich,
0011schon so effectvoll auf der bescheideneren Bühne des Kärntner-
0012thor-Theaters, verspricht mit ihrer lebhaften Gerichtsscene im
0013ersten, dem Segelschiff im dritten, den prachtvollen Aufzügen
0014im vierten Acte eine außerordentliche Wirkung. Man ließ
0015jedoch den „Hugenotten“, dem bedeutendsten Werke Meyerbeer’s,
0016mit Recht den Vortritt. Auf die Mise-en-scène war die
0017größte Sorgfalt verwendet, die Vorstellung wirkte im Großen
0018und Ganzen imposant, in Einzelheiten wird sich Manches
0019leicht ändern und vervollkommnen lassen. Sowol der Costüm-
0020zeichner Gaul, als der Decorationsmaler Brioschi bewiesen
0021Geschichts- und Localstudien, wie man früher für eine Opern-
0022vorstellung kaum aufgewendet sah. Von den Decorationen machten
0023die Ansichten des alten Paris (dritter und fünfter Act) den
0024entschiedensten Eindruck; die matte Farbe des Gartens im zwei-
0025ten und die übermäßige Dunkelheit des Saales im vierten
0026Acte rühren vielleicht von der im neuen Hause noch nicht voll-
0027ständig bewältigten Bühnenbeleuchtung. Herr Gaul hat das
0028reiche Trachtenmaterial, das gerade diese französische Epoche
0029bietet, mit der ihm eigenen Gewissenhaftigkeit benützt; nur ließ
0030er manchmal den Maler allzusehr hinter den Historiker zurück-
0031treten. Indem Gaul jeden Choristen durch die Kleidung zu
0032individualisiren sucht, breitet er über alle Gruppen- und
0033Massenbilder eine den Ueberblick erschwerende coloristische Un-
0034ruhe, für welche uns die historische Treue der Einzelfiguren
0035nicht entschädigt. So erschienen uns die Tischgesellschaft im
0036ersten Act, noch mehr der weibliche Hofstaat im zweiten
0037als Gesammtbild gar zu bunt. Manche Situationen der Oper
0038gewinnen jetzt durch vollständig neues Arrangement ungemein 
0039an Effect und Verständlichkeit, so der Badechor im zweiten
0040und vorzüglich der Zankchor im dritten Acte, eines der genialsten
0041Stücke Meyerbeer’s, das, in früheren Zeiten gestrichen, jetzt mit
0042siegreicher Gewalt einschlägt. Eine nicht lobenswerthe Neuerung
0043scheint uns hingegen das Erscheinen vornehmer Damen bei der
0044Schwerterweihe im vierten Act. Wir wollen das Factum
0045selbst nicht anzweifeln, daß nämlich Damen der Verschwörung
0046beiwohnten, aber Stimmung und Bedeutung der Scene wehren
0047sich gegen diese geputzten Aristokratinnen. Auch spricht das
0048Original-Textbuch ausdrücklich nur von „Rathsherren, Vier-
0049telsmeistern und Führern des bewaffneten Volkes“, welche ein-
0050treten, und will die weißen Schärpen durch Mönche (nicht
0051durch Damen) vertheilt wissen. Die Direction war übri-
0052gens bemüht, die „Hugenotten“ nicht blos scenisch, sondern
0053auch durch Vervollständigung des musikalischen Inhalts neu zu
0054beleben. Die kurze, zum Bankett aufrufende Fanfare ist
0055scenisch angemessen, wenngleich in der Partitur nicht vorfind-
0056lich. Das bisher weggebliebene Ensemble der neugierig lau-
0057schenden Ritter („Ah, quelle est donc cette belle?“) ver-
0058dient als graciöses und den Vorgang gut motivirendes Musik-
0059stück diese Restitution. Hingegen wünschen wir das von
0060Fräulein Tellheim im zweiten Act eingelegte Rondeau
0061(„Non, non, non!“) sobald als möglich wieder fortgestrichen.
0062Meyerbeer schrieb diesen unbedeutenden und affectirten Gesang
0063für die Alboni oder richtiger, er verwerthete ihn aus der
0064ursprünglichen, allzu voluminösen Partitur des „Propheten“
0065nachträglich für jene productionssüchtige Darstellerin des Pagen.
0066Die Dauer der „Hugenotten“-Vorstellung überschreitet ohnehin
0067jedes erlaubte Maß, und damit geschieht weder dem Werke ein
0068Gefallen, noch den Sängern oder Zuhörern. Gekürzt muß
0069jedenfalls noch werden, entweder die Dauer der Zwischenacte
0070oder die Partitur selbst, sonst dürfte künftig im fünften Act
0071außer den auf der Bühne Beschäftigten kein Mensch mehr im
0072Opernhause sein.


0073Die Besetzung der Oper war die bekannte, bis auf Frau
0074Materna als Valentine. Wir zollen allen Respect dem
0075Fleiße und Streben einer Sängerin, welche, ganz kürzlich noch
0076Mitglied des Carltheaters, den kühnen Schritt vom „Pariser
0077Leben“ zu den „Hugenotten“ mit Sicherheit und Anstand voll-
0078bracht hat. Von diesem relativen Maße abgesehen, war jedoch
0079diese Valentine eine sehr ungenügende Leistung. Die volle, 
0080durch Kraft und dunkle Färbung für heroische Partien so be-
0081vorzugte Stimme der Sängerin kam über rein materielle
0082Effecte nicht hinaus; derbes Auftragen und überwiegend tre-
0083molirende Tonbildung gaben der ganzen Rolle einen comödien-
0084haft dilettantischen Anstrich. Wie die Stimme Frau Ma-
0085terna’s
, so kam auch ihre schöne Bühnenfigur nicht zur rechten
0086Geltung, die stereotype Action bei meist vorgebückter Haltung
0087und eigenthümlich schwimmender Bewegung bedarf noch tüch-
0088tiger Studien. Für den ersten Abend hätte die Rolle wol
0089einer unserer bewährten Valentinen: Dustmann oder Wilt,
0090gebührt. Letztere sang die Valentine mit gewohnter Meister-
0091schaft und glänzendem Erfolge bei der zweiten Vorstel-
0092lung, in welcher auch der neue Darsteller des Raoul,
0093Herr Labatt, vom Dresdener Hoftheater, Beifall erntete.
0094Von den übrigen Leistungen möchten wir die virtuose -
0095nigin Fräulein Rabatinsky’s und den wahrhaft liebens-
0096würdigen Nevers des Herrn v. Bignio am unbedingte-
0097sten rühmen. Herr Walter, zu dessen Glanzrollen der
0098Raoul nur stellenweise gehört, überraschte durch ein hohes
0099Cis in der Duellscene. Mit Fräulein Tellheim, den
0100Herren Rokitansky und Hrabanek ist die Reihe der
0101Darsteller geschlossen, welche sich an dem Abend bemerkbar
0102und verdient machten.


0103Ueber die „Afrikanerin“ und „Robert“ im alten
0104Hause ist bereits in Kürze berichtet. Fand man die Selica 
0105Fräulein Hahn’s mit Recht etwas zahm und empfindsam,
0106so muß doch mit gleichem Nachdrucke die durchwegs edle
0107Haltung, das musikalische und dramatische Schönheitsgefühl
0108der jungen Sängerin hervorgehoben werden, deren melodische
0109Stimme den Hörer mit sympathischer Gewalt anlockt und
0110festhält. Ein Gleiches von Fräulein Lauterbach zu rüh-
0111men ist uns nicht möglich. Diese (dem Prager Theater ange-
0112hörige) Sängerin hat hier aus der dankbaren Rolle der
0113Alice wenig Vortheil gezogen. Das Gewicht ihrer starken,
0114in der Höhe etwas schrillen Stimme konnte den Mangel an
0115musikalischer Empfindung und dramatischem Talente nicht
0116entfernt aufwiegen. Natürlichkeit und Anmuth des Ausdruckes
0117fehlten allenthalben, einige vereinzelt aufprasselnde Leiden-
0118schafts-Accente fielen wie Funken ins Wasser. Herrn Pirk’s 
0119Raimbaut ist eine neue achtbare Leistung, eine bekannte
0120und ganz vortreffliche die Prinzessin Fräulein Raba[2]-
0121tinsky’s. Herr Rokitansky, der beneidenswerthe
0122Stimmkrösus, hatte als Bertram leider einen seiner be-
0123quemsten Abende. Herrn Müller sind wir dafür dankbar,
0124daß er das geschmacklose hohe B, womit er sonst die reizende
0125Eingangsmelodie Robert’s (in der Kirchhofscene) verunzierte,
0126wieder entfernt hat. An Fräulein Salvioni (He-
0127lena) mußten wir neuerdings das feine musikalische
0128Gefühl bewundern, mit dem sie mimisch Meyerbeer’s
0129charakteristische Balletmusik Tact für Tact, fast Note für
0130Note wie ein lebendiger Spiegel zurückwirft.


0131Die aufeinanderfolgenden Aufführungen von „Robert“,
0132der „Afrikanerin“ und den „Hugenotten“ gaben wieder ecla-
0133tantes Zeugniß von der außerordentlichen Gewalt der Meyer-
0134beer’schen Opern über das Publicum. Längst ist von diesen
0135Melodien der Zauber der Neuheit, von diesen Bühnen-Effecten
0136der Reiz der Ueberraschung gewichen, auch der so ärgerlich
0137überschätzte persönliche Einfluß des Meisters ging mit ihm zu
0138Grabe, und noch immer üben seine Opern eine Wirkung, wie
0139sie nur von einer außerordentlichen musikalischen Erfindungs-
0140kraft und einem ebenso außerordentlichen Kunstverstand aus-
0141gehen kann. 55 Jahre sind es, seit der alte Salieri in
0142Wien dem rathlosen Meyerbeer, dessen „Abimelek“ eben durch-
0143gefallen war, nach Italien zu reisen empfahl, genau wie früher
0144eine andere Wiener Musik-Autorität, Fux, den talentvollen Ignaz
0145Holzbauer nach Italien instradirte, um dort „die deutsche
0146Schwerfälligkeit loszuwerden“. Diesem von Meyerbeer’s Lands-
0147leuten so hart getadelten italienischen Aufenthalt verdanken wir
0148die Sangbarkeit und schöne Sinnlichkeit der Melodien im
0149Robert“ und der „Afrikanerin“; Meyerbeer, in dessen Musik
0150das Ueberwiegen des deutschen Naturells uns trotz alledem
0151zweifellos erscheint, hat sich aus italienischen, französischen und
0152deutschen Elementen einen kosmopolitischen Styl geschaffen,
0153diesem aber sein eigenstes persönliches Gepräge unverkennbar
0154aufgedrückt. Die innere Entwicklung Meyerbeer’s, die Kräfte
0155und Widersprüche seines erstaunlichen Talentes, die Thatsache
0156unbestrittener Oberherrschaft seiner vielgeschmähten Musik wer-
0157den eine tiefere und unbefangenere Untersuchung noch erfahren
0158müssen. Wie wenig der Sache selbst mit unbedingter Bewun-
0159derung gedient ist, beweisen zwei soeben erschienene Bücher
0160über Meyerbeer. Das eine: „Giacomo Meyerbeer“ von Her-
0161mann Mendel
, ist in Berlin, das andere: „Meyerbeer’s 
0162Leben und Bildungsgang“ von J. Schucht, ist in Leipzig ge-
0163druckt. Beide Autoren schlagen mit aller Macht den begeister-
0164ten Hymnenton an. Herr Mendel feiert Meyerbeer’s ganze
0165Familie und meint: „Was die Welt der Frau Amalie Beer,
0166deren Kinder sämmtlich zur Berühmtheit gelangt sind, zu dan-
0167ken hat, das zeigen die schönsten Stellen im „Robert“,
0168Struensee“, „Propheten“ ect.“ Für Herrn Mendel ist
0169Meyerbeer „der musikalische Shakspeare“, namentlich im
0170vierten Finale des „Robert“ „mit dem verschiedenzeitigen Ein-
0171satze der Stimmen, wo selbst Mozart wahrscheinlich alle
0172Stimmen hätte zugleich eintreten lassen“! Die „Hugenotten“
0173sind ihm „ein Evangelium der Religion und der Liebe“, bis
0174in die „vereinzelten Einzelheiten“ derselben. Er findet auch
0175die Verwendung des specifisch preußischen Dessauer-Mar-
0176sches als heiligen Marsch der Russen im „Nord-
0177stern“ „ebenso gerechtfertigt“, wie die Einführung des
0178Luther’schen Chorales in den „Hugenotten“. So geht es
0179fort bis zur „Afrikanerin“, welche Herr Mendel „das
0180Schwanenwerk Meyerbeer’s“ nennt. Mendel’s Buch hält
0181sich übrigens mehr an die biographische Aufgabe als an die
0182kritische; erstere ist mit Sorgfalt gelöst, letztere bei allem
0183Enthusiasmus doch nicht anmaßend. Herr J. Schucht hin-
0184gegen wird gleich entsetzlich grob gegen Andersdenkende und
0185schließt seine Meyerbeer-Apologien selten ohne einen Zornaus-
0186bruch, wie: „Wer das Gegentheil behauptet, spricht Unsinn,
0187weiß gar nicht, was er spricht; es ist gedankenlose Schwätzerei,“
0188u. s. w. Bei jeder Gelegenheit geht es gegen die Kritiker,
0189die an Meyerbeer etwas auszusetzen finden. „Es sind kalte
0190Naturen mit Fischblut, gefühllose Herzen, an denen die Macht
0191der Poesie und Töne wirkungslos bleibt. Ein Trauerfall, der
0192einem gefühlvollen Menschen das Herz brechen will, worüber
0193er so viele Thränen weint, als Sterne am Himmel stehen,
0194läßt diese kaltblütigen Fischherzen ziemlich unberührt, treibt
0195ihnen keine einzige Thräne in den Blick, preßt keine Seufzer
0196aus. Ergreifende Gedichte, wodurch empfängliche Seelen zu
0197Thränen gerührt werden, lassen die Engherzigen kalt und
0198gleichgiltig.“ Herr Schucht ist unerschöpflich in solchen Pre-
0199digten gegen „die Kritiker, welche aus Bornirtheit ihre Ur-
0200theile fällen“. In der Vorrede erzählt uns Herr Schucht,
0201daß er Kant, Hegel und Schelling studirt habe, Philo-
0202sophie, Geschichte, Naturwissenschaften, Musik und Poesie cul-
0203tivire und oft mehr als vierzehn Stunden täglich arbeite!
0204Herr Schucht muß wirklich ein sehr gebildeter Mann sein.*) 
0217Als theilweisen Ersatz für die gar zu magere ästhetische
0218Kost in diesen zwei Meyerbeer-Büchern hofften wir auf eine
0219reiche biographische Ausbeute, denn beide Autoren rühmen sich
0220des vertrauten Verkehres mit Meyerbeer. Herr Mendel stellt
0221sich als „Collaborator“ desselben vor: Herr Schucht druckt
0222sogar mehrere an ihn gerichtete Briefe ab, worin der höfliche
0223Meister einige Zeitungsartikel des Herrn Schucht belobt.
0224Trotzdem erfährt man von dem einen wie von dem anderen
0225„ami de Meyerbeer“ beinahe nur Bekanntes oder Unerheb-
0226liches über die Persönlichkeit des Meisters. Lesenswerth ist
0227Herrn Schucht’s Erzählung von seiner Bekanntschaft mit
0228Meyerbeer. Er habe in Berlin schriftlich um die Ehre ange-
0229sucht, Meyerbeer besuchen zu dürfen. „Nach vierzehn Tagen
0230erhielt ich, gerade an meinem Geburtstage, eine schriftliche Ein-
0231ladung von ihm. Das war eine der schönsten Geburtstags-
0232freuden, die ich erlebt, unerklärlich war mir nur
0233das Factum
, daß Meyerbeer’s Einladung an dem Tage
0234kam, wo ich zuerst das Licht der Welt erblickt hatte!“ Auch
0235versichert Herr Schucht, er habe Meyerbeer oft im Thier-
0236garten begegnet, wo dieser niemals verfehlte, schon zwanzig
0237Schritte von ihm zu rufen: „Guten Tag, Herr Doctor!
0238Wie befinden Sie sich?“ Auch Herr Mendel genoß häufig
0239das Glück dieser Begegnung im Thiergarten, wo Meyerbeer 
0240„in der ihm eigenthümlichen, hockenden Gangweise ohne
0241Stock und ohne Cigarre
— denn er rauchte weder,
0242noch schnupfte er — daherstapfte“. Nach diesem Satze
0243scheint es eine ausgemachte Sache, daß gerade so wie Cigarren
0244zum Rauchen, die Spazierstöche zum Schnupfen bestimmt sind.

Fußnoten
  • *)Von Herrn Schucht’s in Bewunderungskrämpfen sich win-
    dender Kritik geben wir nur Ein Beispiel. An dem „wilden, blutdür-
    stigen Schlachtgesang, in welchem der eifrige, felsenfest glaubende
    Hugenott Marcell, dieser rauheste der rauhen verwilderten Krieger,
    die leidenschaftlichen Kampfgefühle seines nach Blut und Rache dür-
    stenden Herzens aussingt“, rühmt Herr Schucht besonders „die
    stufenabwärts fortschreitenden Quintenfolgen der Begleitung“ (zu-
    fällig sind es gar keine Quinten, sondern kleine Terzen der Fagotte!)
    als höchst charakteristisch nicht nur zur „Schilderung der Seelenstim-
    mung, sondern auch zur Kennzeichnung des früheren
    Musikzustandes
    “. Das Piff-Paff-Puff-Lied Marcell’s als Illu-
    stration der Musik im sechzehnten Jahrhundert!