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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 1875. Wien, Mittwoch, den 17. November 1869

[1]

Musik.

(„Zilda“, von Flotow. — Concerte von Laura Kahrer und Fräulein Friedlowsky. — Quartett-Production von J. Grün. — Erstes Philharmonisches Concert.)


0003Ed. H. Der Anschlagzettel des Theaters an der Wien
0004verkündigte Samstag eine neue zweiactige Oper von Flotow:
0005Zilda“ — immerhin ein Ereigniß, das die Aufmerksamkeit
0006des Publicums erregt und bei welchem die Kritik nicht fehlen
0007darf. Nicht als ob wir mit besonderen Erwartungen hinge-
0008gangen wären, haben wir doch seit nahezu zwei Decennien
0009das auffallende Sinken und Verarmen von Flotow’s Talent
0010beobachtet. Mit wohlbegründeten Mißtrauen blickt man jeder
0011seiner neuen Productionen entgegen. Kaum gibt es einen
0012zweiten Opern-Componisten in Deutschland, der erfolgreicher
0013begonnen, müheloser gesiegt hätte. Mit zwei komischen Opern,
0014welche ein gefälliges, melodiöses Talent, aber keineswegs ein
0015bedeutendes oder originelles verriethen („Stradella“ und
0016Martha“), schien Flotow die allgemeine Gunst im Sturme
0017zu nehmen. „Stradella“ figurirt noch immer, wenngleich viel
0018seltener, auf den deutschen Bühnen, den kleineren insbeson-
0019dere, denen so leicht besetzbare Opern unschätzbar sind. Durch
0020Stradella“ gewann Flotow die Aufmerksamkeit und Sym-
0021pathie seiner deutschen Landsleute, durch „Martha“ einen
0022Weltruf. „Martha“ ist einem Ballet nachgebildet, das unter
0023dem Titel „Lady Henriette“ in Paris gegeben wurde und
0024dessen Musik gemeinschaftlich von Flotow, Burgmüller und
0025Deldevez componirt war. Mit der Verbreitung und Popu-
0026larität der „Martha“ kann sich kaum eine zweite deutsche
0027Oper messen; selbst der „Freischütz“ ist, seinem rein deutschen
0028Wesen entsprechend, niemals in solchem Grade auf fremdem
0029Boden heimisch geworden. Noch vor wenigen Jahren mußte
0030mich auf einer längeren Reise das Mißgeschick treffen, 
0031überall, zunächst in Deutschland, die „Martha“ auf dem
0032Theaterzettel zu finden — eine schwere Prüfung für Jemanden,
0033der berufsmäßig diese so schnell unleidlich werdende Oper
0034fünfzig- bis sechzigmal angehört hat und den Chor der Mägde
0035oder die Jagdcouplets der Nancy wie einen persönlichen Tod-
0036feind haßt. In Paris gibt man „Martha“ französisch im
0037Théâtre Lyrique, italienisch aux Italiens, in London englisch 
0038zur Winterszeit, italienisch im Frühling und Som-
0039mer. In Italien, Spanien, Rußland, Nordamerika — so
0040weit das Geschlecht gefühlvoller Tenoristen, koketter Co-
0041loratur-Sängerinnen und schnippischer Altistinnen reicht —
0042überall „Martha“! Solcher Erfolg einer deutschen Oper ist
0043jedenfalls eine imponirende Thatsache. Daß er mehr einigen
0044glücklichen Einfällen und der überaus praktischen Einrichtung
0045dieser Oper zu danken ist, als einem bedeutenden Talent, be-
0046wies der sofort eintretende musikalische Bankerott Flotow’s.
0047Was immer von ihm nachfolgte, fiel entweder durch („Albin“,
0048Die Matrosen“, „Die Großfürstin“) oder fristete (wie „Indra“)
0049ein kurzes Dasein. Flotow, ohnehin ein musikalischer Halb-
0050franzose, kehrte deßhalb dem undankbaren Vaterlande den
0051Rücken und entschloß sich (wie bereits in seiner Jugendzeit),
0052lieber gleich ganz französische Opern für Paris zu schreiben.
0053Dieser neuesten Periode entstammen „Zilda“, „La veuve
0054Grapin“ und ähnliche Kleinigkeiten, welche in Deutschland gar
0055keinen Anspruch machen könnten, auf großen Opernbühnen
0056gegeben zu werden. Sie sind nur möglich in einem Theater,
0057wo man an die Musik eines Singspieles geringe Anforderun-
0058gen stellt, wo ein unterhaltendes Libretto eine mittelmäßige
0059Partitur retten kann (nebenbei gesagt, der vollständig fran-
0060zösische Standpunkt), wo schließlich gewandte Komiker höher
0061im Werthe stehen, als kunstgerechte Sänger. „Zilda“, die an
0062der Wien recht freundliche Aufnahme fand, wäre im Hof-
0063operntheater durchgefallen, weil die Musik nicht gut genug für
0064eine große Opernbühne ist, und wiederum das Lustspiel-Per-
0065sonal einer solchen nicht gut genug für eine so mittelmäßige
0066Oper. Für das komische Singspiel besitzt das Wiedener Thea-
0067ter in Fräulein Geistinger und Herrn Swoboda zwei
0068glänzende Talente, zwei Specialitäten, wie sie im Hofopern-
0069theater für ähnliche Aufgaben nicht existiren. Geistinger 
0070und Swoboda wurden durch ihre trefflichen Leistungen auch
0071die Retter der Novität. Fräulein Geistinger möchten wir
0072höchstens empfehlen, daß sie einzelne für ihre Gesangsbravour
0073allzu schwere Virtuosenstückchen, wie die ins hohe C und H
0074reichenden Staccato-Passagen u. dergl., aus der ohnehin über-
0075ladenen Partie der Zilda streichen möchte. Für eine Schau-
0076spielerin singt Fräulein Geistinger bekanntlich überraschend gut,
0077sie sollte aber stets nur dasjenige singen, was sie makellos
0078und ohne Risico vorzutragen vermag.


0079Das Libretto, eine Arbeit der gewandten französischen
0080Firma St. Georges und Chivot und dem Stoffe nach
0081Tausend und Einer Nacht“ entnommen, ist bis auf die zu
0082gedehnte Exposition sehr geschickt gemacht. Die Handlung
0083erzählt sich mit wenigen Worten. Zilda, die junge Gattin eines
0084finanziell arg bedrängten Kaufmannes, reist nach Bagdad,
0085um eine Schuld von 1000 Zechinen von dem Quacksalber
0086Babuk einzucassiren. Dieser, anfangs zur Zahlung bereit, wird
0087in dem Moment, als Zilda den Schleier zurückschlägt, von
0088ihrer Schönheit so sehr gereizt, daß er die Summe nur gegen
0089Gewährung eines zärtlichen Stelldichein ausfolgen will. Zilda 
0090sucht ihr Recht bei dem Kadi, dessen Gerechtigkeit gleichfalls
0091nur so lange anhält, als ihm Zilda verschleiert gegenübersteht.
0092Dasselbe Mißgeschick, derselbe unerwünschte Sieg der Schön-
0093heit wiederholt sich bei der letzten Instanz, dem Großvezier.
0094Zum Glück hat der Khalif Harun-al-Raschid, als Derwisch
0095verkleidet, diese Vorgänge beobachtet und räth nun Zilda, den
0096drei grauen Jünglingen das erbetene Rendezvous zum Schein
0097zu gewähren. Dies geschieht im zweiten Act, in Zilda’s Ge-
0098mach, wo nach einander der Doctor, der Kadi und der Groß[2]-
0099vezier hocherfreut eintreten. Die Schreckensnachricht von dem
0100Eindringen des gefürchteten Corsarenhäuptlings Fermuk Khan 
0101veranlaßt sie jedoch bald, sich so gut wie möglich zu verstecken.
0102Der Corsar erscheint wirklich, um mit Zilda zu soupiren; er
0103ist nur eine neue Verkleidung des Khalifen, welcher zum Bei-
0104stande der jungen Frau herbeieilt. Nachdem er die drei furcht-
0105samen Verehrer derselben weidlich geängstigt, dictirt er jedem
0106von ihnen eine Geldbuße von 3000 Zechinen — ein morali-
0107sches Ausgleichsverfahren, mittelst dessen Zilda ihren Gatten
0108vor dem kaufmännischen Bankerott rettet.


0109Die für einen Bassisten geschriebene Rolle des Khalifen 
0110erscheint im Theater an der Wien nicht zum Nachtheil des
0111Ganzen als bloße Sprechpartie; auch das Wegfallen der Ro-
0112manze des Großveziers in Es-dur ist kein Verlust. Weit eher
0113könnte man sich über den Einlagesatz in Zilda’s erster Arie
0114beklagen, welcher auf sehr witzlose Art die Huldigung eines
0115sentimentalen Anbeters und eines zungengeläufigen Schwätzers
0116schildert. Der Musik Flotow’s können wir nicht mehr nach-
0117rühmen, als daß sie nicht geradezu widerwärtig ist und sich
0118der Grenzüberschreitungen in tragisches und heroisches Gebiet
0119enthält. Die Erfindung ist durchwegs matt und alltäglich,
0120banal in ihren sentimentalen, humorlos in ihren komischen
0121Partien. Keine einzige Melodie, die man nicht längst gehört
0122zu haben glaubt. Die formelle Gewandtheit des Componisten,
0123namentlich in der Instrumentirung, kann für den Mangel an
0124Geist und Originalität der Erfindung doch nur nothdürftig
0125entschädigen. Offenbach’s Talent erscheint wie ein frischer
0126sprudelnder Quell neben dieser sickernden, abgestandenen Wasser-
0127furche. Wie gesagt, verhalf die treffliche Darstellung im Verein
0128mit einer farbenprächtigen Ausstattung der „Zilda“ zu einem
0129Erfolg, der ihr zwar kein ruhmvolles Alter, aber doch einige
0130Wiederholungen sichert.


0131Die Aufführung der Flotow’schen Novität verhinderte
0132uns, das gleichzeitig stattfindende Concert der vierzehnjährigen 
0133Laura Kahrer zu besuchen, welche als Clavierspielerin wie
0134als Componistin ein echtes, vielversprechendes Talent bewiesen
0135und den ihr gewordenen Lobsprüchen Liszt’s Ehre gemacht
0136haben soll. Desgleichen können wir den günstigen Erfolg der
0137Gesanglehrerin Fräulein Emma Friedlowsky nur aus zwei-
0138ter Hand berichten. In ihrem bei Streicher gegebenen Con-
0139certe hat diese musikalisch feste und verständnißvolle Sängerin
0140das gute Andenken wieder aufgefrischt, welches vor Jahren
0141ihre Elisabeth in der ersten Wiener Aufführung des „Tann-
0142häuser“ allgemein zurückgelassen hatte.


0143Die erste Quartett-Soirée der Herren Grün, Hof-
0144mann
, Hilbert und Röver dürfte wol übereinstimmend
0145nur bedingtes Lob erfahren. Recht tüchtig und brav spielten
0146diese Herren das Meiste, vollendet oder meisterhaft gar nichts.
0147Es fehlte dem ganzen Quartett vor Allem die Klangschönheit,
0148der reine, süße Wohllaut. Nicht nur fehlte der Primarius
0149Herr Grün allzu häufig in den höheren Lagen gegen die Rein-
0150heit der Intonation, man hörte überhaupt an dem Abende zu
0151viel Darm und Roßhaar. Der Cellist Herr Röver läßt ge-
0152rade im Quartett, das auf der Baßstimme wie auf einem
0153festen Grunde ruhen soll, die wünschenswerthe Kraft und
0154Fülle des Tones vermissen. Die beiden minder entscheidenden
0155inneren Stimmen (Hilbert und Hofmann) dünkten uns ver-
0156hältnißmäßig die besten. Im Vortrage kam das Grün’sche Quartett
0157über eine gewisse trockene, orchestermäßige Tüchtigkeit selten
0158hinaus. Besäße Wien keine anderen Quartett-Productionen,
0159so würden die Grün’schen gewiß sehr dankbar aufgenommen
0160und auch zahlreicher besucht sein, umsomehr, als Herr Concert-
0161meister Grün sich persönlich als feiner, vielseitig gebildeter
0162Mann hier rasch beliebt gemacht hat. Unser Publicum ist
0163jedoch mit Quartettspiel quantitativ und qualitativ so wohl-
0164versorgt, es hat im Laufe der letzten Jahre so Ausgezeichnetes
0165in diesem Fache gehört, daß es nur mehr durch Ausgezeichnetes
0166ganz zufrieden ist. Ein Bedürfnis empfand man daher 
0167kaum nach einer neuen Quartett-Gesellschaft, welche die Lei-
0168stungen des Becker’schen oder Hellmesberger’schen Vereins
0169in den wenigsten Punkten erreicht und in keinem einzigen
0170übertrifft.


0171Einen großen und reinen Kunstgenuß verdanken wir dem
0172Ersten Philharmonischen Concerte, dessen Diri-
0173gent, Herr Dessoff, mit lebhaftem, lang anhaltendem
0174Applause begrüßt wurde. Das zahlreiche, alle Räume des
0175Kärntnerthor-Theaters füllende Auditorium und der nach jeder
0176Nummer laut ausbrechende Beifall dürften zweifelnde Gemü-
0177ther darüber beruhigt haben, ob die Beliebtheit oder gar die
0178Existenz der Philharmonie-Concerte durch andere, neue Concert-
0179Unternehmungen wirklich gefährdet sei. Zur Aufführung kamen
0180Cherubini’sAnakreon“-Ouvertüre, Haydn’s B-dur-
0181Symphonie (mit dem Beinamen: „La Reine de France“)
0182und Schumann’s vierte Symphonie in D-moll, drei
0183Meisterwerke sehr verschiedenen Styls, welche durchaus in
0184richtigster Auffassung, mit feinster Schattirung und vollstän-
0185digem Effect vorgetragen wurden. Außerdem spielte unser viel-
0186gereister und geschätzter Landsmann Herr Ludwig Straus 
0187Beethoven’s Violin-Concert, zwar nicht mit großem Ton oder
0188hinreißendem Schwunge, aber mit sehr zierlicher, namentlich
0189im Triller virtuoser Technik. Er wurde lebhaft applaudirt und
0190wiederholt gerufen. Die von ihm eingelegte (Joachim’sche?)
0191Cadenz ist doch gar zu sehr Staat im Staate. Die classischen
0192Componisten, welche dem Virtuosen diese carta bianca ein-
0193räumten, haben wol kaum geahnt, welch excessive Benützung
0194sie in späteren Zeiten erfahren würde. Moderne Tondichter
0195scheinen immer mehr davon abzukommen. Das (bereits von
0196Joachim und Brahms beherzigte) Beispiel Schumann’s,
0197welcher durch die ausgeschriebene Cadenz in seinem Clavier-
0198Concert allen fremden Hinzudichtungen einen Riegel vorschob,
0199dürfte hoffentlich den Ausgangspunkt für die allgemeine Cas-
0200sirung jenes veralteten und bedenklichen Freibriefes bilden.