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Neue Freie Presse
Abendblatt
Nr. 9161. Wien, Montag, den 24. Februar 1890

[1]

Neue Werke über Musik.

Angezeigt von Ed. H.


0003Führer durch den Concertsaal“ von Hermann
0004Kretzschmar (II. Abtheilung, 1. Theil). Leipzig, bei A. G.
0005Liebeskind, 1888. Den ersten, 1887 erschienenen Band („Sym-
0006phonie und Suite“) haben wir seinerzeit mit der gebührenden An-
0007erkennung besprochen und empfohlen. Die zweite Abtheilung ist
0008ausschließlich „kirchlichen Werken“ gewidmet. Es liegt von dieser
0009Abtheilung derzeit nur der erste Band vor, welcher auf mehr
0010als vierhalbhundert Seiten die Passionsmusiken, Messen, Hymnen,
0011Psalmen und Cantaten behandelt; erst der noch ausstehende zweite
0012Band wird sich mit den Oratorien beschäftigen. Man sieht, wie
0013sehr dem geehrten Verfasser der Stoff unter den Händen gewachsen,
0014ja angeschwollen ist. Zwei Bände dieses Umfanges, blos für
0015geistliche Compositionen, die im Concertsaale aufgeführt
0016werden — das ist zum mindesten überraschend. Ernste Musikfreunde
0017werden diese Ausdehnung nicht als einen Uebelstand empfinden,
0018vielmehr dem Verfasser danken, daß er sein Führeramt auch auf
0019wenig bekannte Kirchenmusiken ausdehnt, ja, über die Kritik der
0020einzelnen Werke hinausgehend, eine Art gedrängter Geschichte der
0021Kirchenmusik liefert. Aber zu dem Titel „Führer durch den
0022Concertsaal“ scheint uns so umgangreiche Behandlung der
0023Kirchenmusik nicht mehr recht zu stimmen. Wir müssen
0024auf Grund von Kretzschmar’s Buch wol annehmen, daß es in
0025Norddeutschland einige besonders bevorzugte Concertsäle (etwa in
0026Berlin und Leipzig) gibt, in welchen alle von dem Verfasser be-
0027sprochenen Kirchenmusiken wirklich vorkommen — aber das werden
0028immer nur seltene Ausnahmen sein. Für Wien hätte ein viel
0029schmächtigerer „Führer“ durch die Musica sacra ausgereicht; wenig-
0030stens die Hälfte der von Kretzschmar beurtheilten Kirchen-Compo-
0031sitionen sind unseren Concertsälen vollständig fremd geblieben. Es
0032wäre schön, wenn gerade die Kretzschmar’schen Analysen zur Auf-
0033führung mancher bedeutenden Kirchen-Composition bei uns die
0034Anregung bieten würden. Wie im ersten, so auch im zweiten 
0035Bande hat der Verfasser die schwierige Aufgabe vorzüglich gelöst,
0036den Bau und Inhalt der einzelnen Tondichtungen dem Leser, stets
0037an der Hand zahlreicher Notenbeispiele, klar auseinanderzusetzen.
0038Neben diesen analytischen und kritischen Ausführungen erhalten wir
0039auch interessante Erzählungen von den Schicksalen berühmter
0040Meisterwerke in früherer Zeit, z. B. der Matthäus-Passion von
0041S. Bach der Festmesse von Beethoven u. A. Daß wir nicht
0042überall mit der Kritik des Verfassers übereinstimmen können, haben
0043wir bereits bei Gelegenheit des ersten Bandes gestanden. Auch
0044in der vorliegenden zweiten Abtheilung befremdet mitunter das
0045zu weit getriebene Wohlwollen gegen eine gewisse Classe von Musik,
0046welche zwar von den Concertvereinen nicht schlechtweg abgelehnt
0047werden kann, die aber doch von einem so classisch gebildeten Kenner
0048wie Kretzschmar in die Grenzen ihrer wahren Bedeutung zurück-
0049gewiesen werden sollte. Die Hochstellung der Kirchen-Compo-
0050sitionen von Liszt und Berlioz muß bei einem Autor auffallen,
0051der mit so echter Erkenntniß und Begeisterung von den geistlichen
0052Werken eines Bach, Händel, Beethoven, Cherubini, Mendelssohn 
0053und Brahms spricht. Wir sehen der Fortsetzung des so verdienst-
0054vollen „Führers“ mit Spannung entgegen — möge sie bald er-
0055scheinen!


0056Adolph Prosniz: „Compendium der Musik-
0057geschichte für Schule und Conservatorien
“. (Wien,
0058bei Wetzler-Engelmann, 1889.) Herr Prosniz, Professor am Wiener
0059Conservatorium, kommt dem vielfach empfundenen Bedürfnisse nach
0060einem kurzgefaßten und doch wissenschaftlich stichhältigen Handbuche
0061der Musikgeschichte entgegen. Zu bedauern bleibt nur, daß er mit
0062der Herausgabe nicht gewartet hat bis zum wirklichen Abschlusse
0063seiner Aufgabe, sondern es vorzog (ganz wie bei seinem „Handbuch
0064der Clavier-Literatur“), nur die bis zum Ende des 16. Jahrhunderts
0065reichende erste Hälfte zu veröffentlichen. Solche Theilung, die
0066bei umfangreichen, auf selbstständiger Forschung beruhenden Ge-
0067schichtswerken, wie das Ambros’sche, sehr natürlich ist, empfiehlt
0068sich nicht auch für ein kurzgefaßtes Handbuch zum Schulgebrauch;
0069dieses will der Schüler complet in Händen haben. Nun werden
0070Leser und Käufer wahrscheinlich auf das abschließende zweite Heft
0071warten. Den schwierigsten Theil seiner Aufgabe hatte der Verfasser
0072jedenfalls in der ersten Abtheilung zu lösen, und er hat sie sehr
0073geschickt gelöst. Dornige Partien, wie die altgriechische Musik, die
0074Lehre von den Kirchentönen, die Erklärung der Neumen, Mensur,
0075Solmisation sind ausreichend und deutlich behandelt, für den be-
0076stimmten praktischen Schulzweck vielleicht etwas zu eingehend. Möge
0077der geschätzte Verfasser sein „Compendium“ recht bald zum Ab-
0078schluß bringen; der Erfolg wird nicht ausbleiben.


0079Dr. Adolph Kohut: „Johannes Miksch, der größte
0080deutsche Singemeister, und sein System.“ (Leipzig, bei Karl Rühle,
00811890.) Johannes Miksch, geboren 1765 zu Georgenthal in Böh-
0082men, kam bereits mit zwölf Jahren an das katholische Cavell-
0083knaben-Institut nach Dresden, um hier zum Tonkünstler ausge-
0084bildet zu werden. Er wurde Mitglied der kurfürstlichen italienischen
0085Oper in Dresden, dann Kammersänger und entzückte mit seiner
0086wohlgeschulten Baritonstimme Kenner und Laien. Die berühmten
0087Sängerinnen Agnese Schebest und Schröder-Devrient,
0088die Sänger Mitterwurzer, Sieber u. A. verdanken ihm
0089ihre Ausbildung. Es spricht für die pädagogische Bedeutung und
0090den trefflichen Charakter des Mannes, daß alle seine Schüler zeit-
0091lebens mit größter Liebe und Dankbarkeit an ihm hingen. Sein
0092System war das der classischen italienischen Gesangschule, wie sie
0093von dem berühmten Tenoristen Anton Raff, einem Schüler
0094Bernacchi’s, und dem Castraten Caselli ihm überliefert war.
0095Ueber seine Lehrmethode gibt die Kohut’sche Broschüre ziemlich
0096genaue Auskunst in ungedruckten Briefen und Aufsätzen von Miksch,
0097dann in Tagebuchblättern seines Schülers G. W. Teschner. Diese
0098Mittheilungen sind durchaus interessant, für Sänger und Gesang-
0099lehrer belehrend. Ohne an den anerkannten hohen Verdiensten
0100Miksch’s im mindesten mäkeln zu wollen, glaube ich doch, es wäre
0101passender gewesen, ihn auf dem Titelblatte lieber den „großen“
0102als den „größten“ Singemeister zu nennen. Das hat einen etwas
0103prahlerischen Beigeschmack und reizt zu Rangstreiten, die für alle
0104Theile unangenehm und von keinem Gerichtshofe zu entscheiden
0105sind. War nicht z. B. der verstorbene Conservatoriums-Director
0106in München, Franz Hauser, ein gleich vortrefflicher Gesang-
0107lehrer, der die gefeierte Henriette Sontag, Frau Vogl in
0108München, den Kammersänger v. Milde in Weimar u. A. zu
0109seinen Schülern zählte? Andere werden Andere nennen. Die
0110Mittheilung, Miksch habe C. M. Weber zur Aenderung der
0111(ursprünglich beim Eremiten spielenden) Exposition des „Freischütz“
0112bewogen, wird durch Max v. Weber (II., 70) widerlegt, nach
0113welchem Weber’s Frau diese wichtige Umstaltung bewirkt hat
0114In dieser Weber-Biographie findet sich (II., 89) folgendes etwas
0115abweichendes Urtheil über Miksch: „Miksch war kein Meister
0116für die Kunst der psychologischen Durchdringung der Musikwerke,
0117das Temperament des Gesanges ging ihm ab; das Gemüth, den
0118Ausdruck der Leidenschaft, cultivirte er nicht bei seinem Unterricht,
0119aber er war groß im systematischen Gesangsunterricht, im Gehor-
0120sammachen der Kehle, im Geschmack des Vortrages und in der
0121Bildung des Ohren. Weber pflegte daher zu sagen, daß Miksch 
0122unter Aufsicht der größte Chorlehrmeister der Welt, ohne Aufsicht
0123der Ruin aller Stimmen sei.“


0124Dr. Alfred Kalisch: „Gotthold Ephraim Lessing als Musik-
0125Aesthetiker.“ (Dresden, bei F. Oehlmann, 1889.) Alles, was sich in
0126Lessing’s Werken über Musik vorfindet, ist von dem Verfasser mit
0127großem Fleiße übersichtlich zusammengestellt. Die Ernte ist nicht
0128ergiebig, ja wenn man den Umfang und die Bedeutung der ge-
0129sammten philosophischen und kritischen Thätigkeit Lessing’s ins Auge
0130faßt, auffallend dürftig. Daß ein Mann wie Lessing die Musik
0131im Allgemeinen nicht ganz seines Nachdenkens unwerth fand, daß
0132insbesondere ihr Verhältniß zum Drama den Hamburger Dama-
0133turgen interessiren mußte, versteht sich von selbst. Aber eine lebhafte
0134Neigung zur Musik hat er niemals empfunden, was je aus der
0135ganzen Natur dieses durchaus verstandesmäßig angelegten, stahl-
0136blanken und stahlharten Geistes sehr erklärlich ist. Daß Lessing’s
0137musikalische Kenntnisse ebenso nebensächlich waren, wie seine Liebe
0138zur Musik, dürfte trotz der Bemühungen des übrigens vorurtheils-
0139freien Verfassers feststehen. Von irgend welchem Musikunterricht,
0140den Lessing in der Jugend erhalten habe, wissen seine Biographen
0141gar nichts. „Vielleicht,“ sagt Kalisch (S. 2), „vielleicht darf
0142die Vermuthung ausgesprochen werden, daß Lessing’s Vater 
0143mit dem Religions-Unterricht auch die Anweisung im Choral-
0144gesang und in Allem, was damit zusammenhängt, verbunden habe.“
0145Diese Vermuthung ist ebenso vage wie die weiter folgende: „Ob-
0146wol die Biographen Lessing’s nichts davon verlauten lassen, ist
0147man doch wol zu der Annahme berechtigt, daß ein persönlicher
0148Verkehr zwischen Lessing und Marpurg stattgefunden habe.“
0149(S. 5.) Das satirische Gedicht, das der zwanzigjährige Lessing 
0150gegen Marpurg losgelassen und das eine förmliche Verachtung
0151aller Kunstregeln in der Musik predigt, spricht eher dawider. Die
0152großen Meister Bach und Händel erwähnt Lessing gar nicht: die
0153Oper nur, um sich über ihren Unsinn lustig zu machen. Kalisch 
0154citirt ein Jugendgedicht, worin Lessing verschiedene Menschenclassen
0155aufzählt, denen er nicht zu gefallen wünscht: „Allen Narren, die
0156sich isten — zum Exempel Pietisten — zum Exempel Rabulisten
0157— und nicht weniger Linguisten — und nicht weniger Stylisten —
0158und nicht wenig Componisten“ etc. In diesem harmlosen Reim-
0159spiele erblickt Kalisch einen Beweiß, „daß Lessing Werke vieler
0160Componisten gehört und in sich aufgenommen hat“! Es stehen im
0161Lessing, wie ich glaube, nur zwei längere zusammenhängende
0162Erörterungen, die für den Musik-Aesthetiker von Wichtigkeit sind:
0163das bekannte Fragment zum Laokoon über die Verbindung der
0164Musik und der Poesie, welches wie eine Prophezeiung Wagner-
0165scher Grundsätze klingt; sodann der Aufsatz über Zwischenactmusik
0166im 26. und 27. Stück der Hamburgischen Dramaturgie. In
0167diesem Excurs, der neben geistvollen, treffenden Bemerkungen auch
0168höchst anfechtbare vorbringt,*) kritisirt Lessing eine von Agri-
0169cola
componirte Zwischenactmusik zu Voltaire’s „Semiramis“.
0170Die musikalisch-technische Analyse, mit welcher uns Lessing hier
0171überrascht und welche sich in die kleinsten Details der Instru-
0172mentirung einläßt, scheint dem Verfasser besonders imponirt und
0173ihn von den gründlichen Musikkenntnissen Lessing’s vollends über-
0174zeugt zu haben. Mich macht gerade dieses musikalische Detail
0175stutzig. Wenn ein Schriftsteller von der Productivität Lessing’s zum
0176ersten- und letztenmale in seinem Leben ein Musikwerk ausführlich
0177beurtheilt und gleich mit so verdächtig genauen, rein technischen
0178Details, dann darf man wol annehmen, daß der befreundete Com-
0179ponist ihm diese Details geliefert hat. Wäre Lessing wirklich hin-
0180reichend musikalisch gewesen, um zu unterscheiden, wann in dem
0181Stücke „G-Hörner mit E-Hörnern abwechseln“, wann „die
0182Fagotte mit dem Grundbaß gehen“ und „verstärkende Hoboën und
0183Flöten hinzutreten“, dann hätte er gewiß noch einmal in seinem
0184Leben Anlaß genommen, sich über irgend eine Composition auszu-
0185sprechen. Lessing’s Biograph G. E. Guhrauer, dem es gewiß
0186an Bewunderung für seinen Helden nicht fehlte, sagt über das
0187früher erwähnte Laokoon Fragment, Lessing habe darin auf das
0188Verhältniß zwischen Poesie und Musik ebenso scharfe Blicke ge-
0189worfen, als über das Verhältniß der Poesie und Malerei, „wenn
0190er gleich von der Musik noch weniger Kenntnisse gehabt zu haben
0191scheint, als von den bildenden Künsten“. Ueber letztere maße ich
0192mir kein Urtheil an; über die musikalischen Kenntnisse
0193Lessing’s scheint mir Guhrauer richtiger zu urtheilen, als Dr. Kalisch.


0194Hanns v. Wolzogen: „Wagner und die Thier-
0195welt.“ (Leipzig, bei H. Hartung, 1890.) In dieser Broschüre
0196schildert und verherrlicht Herr v. Wolzogen in seinem bekannten
0197schwärmerischen Pathos die Beziehungen Wagner’s zur Thierwelt.
0198Er betrachtet die Rolle, welche die Thiere sowol in Wagner’s
0199Bühnenwerken als in seinem Privatleben spielten. Was den ersten
0200Punkt betrifft, so scheint mir der Verfasser mit einiger Gewalt-
0201samkeit vorzugehen. Der Schwan im „Lohengrin“, die Taube im
0202Parsifal“, der Lindwurm im „Siegfried“ werden citirt, sogar
0203„die reizenden Elementarwesen der Rheintöchter“, welche doch
0204keine Thiere sind! „Mit dem Rienzi“ brachte Wagner das
0205erste Thier, das edle Roß, als Symbol des kriegerischen Sieges,
0206auf die Bühne.“ (S. 18.) Hat Herr v. Wolzogen niemals den
0207Masaniello zu Pferde gesehen, desgleichen die Königin in den
0208Hugenotten“, den deutschen Kaiser in der „Jüdin“ u. s. w.?
0209Das war natürlich bloßer Bühnenschmuck; bedeutend ist Alles nur
0210bei Wagner. Im ersten Acte des „Tannhäuser“ findet der Ver-
0211fasser wieder den Schwan der Leda und den Stier der Europa 
0212(bekanntlich erst viel später für die Pariser Aufführung einge-
0213fügt) sehr bedeutungsvoll, ebenso wie die Rosse, Hunde und
0214Falken am Schlusse des Actes. Wolzogen erblickt darin „zugleich
0215eine mahnende Andeutung, daß in einer solchen Welt übermüthig
0216lustiger Jagdfreuden der leidenschaftlich tiefe und menschlich wahr-
0217haft empfindende Ritter aus dem Venusberge ebensowenig seinen
0218Platz finden werde, als wie die keusche Jungfrau, die heilige
0219Elisabeth“. Wunderbar, was sich Alles in die „Rosse, Hunde und
0220Falken“ hineingeheimnissen läßt! Im „Fliegenden Holländer“, in
0221den „Meistersingern“ und — wie alle Welt glaubt — auch im
0222Tristan“ kommen keine Thiere vor. Aber Wolzogen’s Auge sieht
0223schärfer; sagt nicht am Schlusse des dritten Actes Kurvenal zu
0224Tristan: „Am Hügel ob weidet er (der Hirt) deine Heerde“?
0225Die Emsigkeit, mit welcher in diesem Buche alle Thierspuren in
0226Wagner’s Leben aufgeschnüffelt werden, grenzt oft ans Komische.
0227Als „mannigfach bedeutungsvoll“ wird hervorgehoben, daß das
0228Geburtshaus Wagner’s ehedem „zum rothen und weißen Löwen“
0229hieß und Wagner’s Stiefvater „Ludwig Geyer“! Noch beredter
0230wird Wolzogen, wenn er von Wagner’s Liebe zu seinen Haus-
0231thieren spricht. Mit der rührenden Genauigkeit des berufsmäßigen
0232Wagnerianers citirt er jede Stelle aus Wagner’s Briefwechsel mit
0233Liszt, Ulrich etc., worin der Hund Peps und der Papagei Papo
0234erwähnt werden. Auch Schopenhauer hat seinen Hund,
0235Friedrich Hebbel sein Eichhörnchen zärtlich geliebt — gegen die
0236Menschen waren Beide nicht eben weichherzig — aber man hat
0237kein solches Aufhebens davon gemacht, geschweige denn eine Bro-
0238schüre. Charakteristisch ist allerdings Wagner’s Geständnis, er habe
0239noch nie so viel geweint“, als um seinen Papagei. Als
0240eine kleine persönliche Erinnerung darf ich hier einschalten, daß ich
0241selbst noch so glücklich war, diesen berühmten Papagei kennen zu
0242lernen. Es war in Marienbad im Sommer 1846. Der prächtig
0243schillernde majestätische Vogel schrie so entsetzlich, daß ich meine
0244Verwunderung nicht unterdrücken konnte, wie es Wagner möglich
0245sei, bei diesem wüthenden Gekrächze ein zusammenhängendes Ge-
0246spräch zu führen oder gar zu componiren. „O, das genirt mich
0247gar nicht,“ erwiderte Wagner; „habe ich doch andererseits das
0248Glück, eine Frau zu besitzen, die nicht Clavier spielt!“ Ueber die
0249*) Vgl. den Aufsatz „Zwischenactmusik“ in meinem Büchlein
0250Suite“ (Wien, bei Karl Prochaska, 1884). 
0251Hunde Wagner’s erhalten wir von Wolzogen die genauesten genea-
0252logischen Nachrichten: „Peps starb im Jahre 1855, dem Wal-
0253küren- und Schopenhauer-Jahre. Zwar erhielt Peps mit der Zeit
0254einen freundlichen Nachfolger, doch konnte er diesen nicht vergessen
0255machen, wie er denn auch zu seinem Andenken den Namen
0256Fips empfing.“ Der große Hund, den Wagner in Penzing bei
0257Wien gehabt, hieß Pol, dessen Nachfolger in Luzern Ruß.
0258An die Stelle des in Bayreuth bestatteten Ruß trat bald eine
0259Familie prächtiger Bernhardiner. „Da war der gewaltige ur-
0260wüchsige schwarze Marke und seine Gemalin, die wild
0261dämonische und doch so liebevolle weiße Brange (Brangäne),
0262welche der heftige Herzschlag ihrer so feurigen Natur zu rasch da-
0263hinraffte! Ihren Platz nahm dann Kunde (Kundry) ein, die
0264elegante nordische Preishündin, leider auch nur auf kurze Zeit!
0265Von den Kindern dieser Paare nenne ich noch Fasolt und
0266Fafner.“ Und so geht es fort, bis der Verfasser schließlich bei
0267den Enkeln dieser geweihten Dynastie, Frisch und Fricko,
0268Froh und Freya glücklich anlangt. Nach diesem genealogischen
0269Kalender bringt Wolzogen nicht mehr viel Neues. Wir kennen
0270die Schopenhauer’sche Lehre vom „Mitleiden“ und die darauf be-
0271züglichen Aussprüche Richard Wagner’s, der ja, nach Wolzogen’s
0272Versicherung, „Schopenhauer’s Lehre selbstständig auf dem Ge-
0273biete der Kunst verkörpert
und auf dem Gebiete der
0274Religion vervollständigt hat“! Wir kennen auch seine Abhand-
0275lung über „Kunst und Religion“, worin er die sittliche Depra-
0276vation des Menschengeschlechts von der „Verzehrung der lebenden
0277Mitwesen“ herschreibt und von dem Fluch spricht, „den wir, den
0278reißenden Thieren selbst und gleichstellend, durch den Genuß ani-
0279malischer Nahrung
auf uns geladen“. Leider hat es
0280Wagner verschmäht, durch sein allmächtiges persönliches Beispiel
0281die Verbreitung seiner „Mitleidslehre“ zu unterstützen. Er hat
0282den Beitritt zum Thierschutzverein abgelehnt und ist an seinem
0283Mittagstisch zeitlebens dem Genuß animalischer Nahrung treu
0284geblieben, welchen er in seinen Schriften als fluchwürdige Ver-
0285sündigung an der Natur brandmarkt.


0286Otto Neitzel: „Der Führer durch die Oper des Theaters
0287der Gegenwart.“ (Erster Band: Deutsche Opern. Leipzig, bei
0288Liebeskind, 1890.) Das Buch gibt sich als ein Seitenstück zu
0289Kretzschmar’s so günstig aufgenommenem „Führer durch den
0290Concertsaal“, welchen es aber in keiner Hinsicht erreicht. Der
0291Verfasser stellt sich eine sehr umfangreiche Aufgabe: er will uns
0292„eine klare Anschauung von der ganzen Handlung, den Charakteren
0293und der Musik in allen auf dem Repertoire befindlichen Opern
0294vermitteln“. Nachdem der uns vorliegende erste Band auf nahezu
0295300 Seiten nur zehn Opern (vier von Gluck, fünf von Mo-
0296zart
und die eine von Beethoven) erledigt, so dürfte der
0297Neitzel’sche „Führer“ zu einer großartigen Bibliothek angewachsen
0298sein, bevor er „alle auf dem Repertoire befindlichen Opern“
0299erläutert hat. Da seine Analysen die dramatische, musikalische und
0300scenische Beschaffenheit der einzelnen Opern umfassen, muß jede
0301dieser Kategorien sich mit recht unzulänglicher Ausführung be-
0302gnügen. Schon mit dem Inhaltsverzeichnisse müssen wir rechten.
0303Wie kommt der Verfasser dazu, die „Entführung aus dem Serail“
0304zu den komischen Opern zu zählen und „Figaro’s Hochzeit“ zu den
0305ernsten? Beide sind komische Opern und wurden niemals für
0306etwas Anderes gehalten. Gluck’s „Armida“ und Mozart’s „Così
0307fan tutte“ registrirt er gleichmäßig unter „Deutsche Opern“, ob-
0308wol erstere eine französische, letztere eine italienische Oper ist; un-
0309beschadet der deutschen Herkunft ihrer Componisten. Am weitläufig-
0310sten wird die Handlung jeder Oper erzählt, Scene für Scene,
0311was bei so allbekannten Textbüchern wie „Die Zauberflöte“,
0312Fidelio“, „Figaro’s Hochzeit“ oder „Don Juan“ uns mehr er-
0313müdet als belehrt. Am ungenügendsten ist alles Historische behan-
0314delt. An dem Libretto von „Figaro’s Hochzeit“ ist doch das Ver-
0315hältniß desselben zu Beaumarchais’ epochemachendem Lust-
0316spiel das Allerwichtigste und Interessanteste. Herr Neitzel begnügt
0317sich zu sagen, daß Da Ponte’s Libretto „ein Meisterstück“ und
0318„geschickt aus Beaumarchais geschöpft“ sei. Ueber die Entstehung
0319und die ganz einzige Stellung von Mozart’s „Entführung“, als der
0320ersten classischen Oper in deutscher Sprache, verliert der Verfasser
0321kein Wort. Herr Otto Neitzel ist Musiker, Componist einer kürz-
0322lich in Köln mit Beifall aufgeführten Oper: „Der alte Dessauer“;
0323das Musikalische nimmt daher seine Aufmerksamkeit vorwiegend in
0324Anspruch. Fast von jeder einzelnen Nummer der betreffenden Oper
0325bringt er ein oder mehrere Notenbeispiele und begleitet sie mit
0326erläuternden Worten. Es sind Umschreibungen, die uns mit großer
0327Redseligkeit meistens recht Selbstverständliches sagen. Wir nehmen
0328aufs Gerathewohl eines der kürzeren Beispiele heraus, die Erzäh-
0329lung der ersten Scene in „Fidelio“:


0330Die Bühne stellt den Hof des Staatsgefängnisses dar. Mar-
0331celline, die Tochter Rocco’s, ist mit Plätten beschäftigt; Jacquino, der
0332Pförtner des Gefängnisses, benützt die Gelegenheit, um ihr nicht ohne
0333Verlegenheit, doch auch nicht ohne Selbstbewußtsein von Liebe und
0334Ehe zu sprechen. Marcelline, die ihn früher begünstigt hat, weist ihn
0335zurück: „Ich weiß, daß der Arme sich quälet, es thut mir so leid auch
0336um ihn! Fidelio hab’ ich gewählet.“ Die Musik entspricht dem schlich-
0337ten, harmlosen Empfindungskreise des bürgerlichen Lebens. Sehr be-
0338zeichnend ist das Stocken Jacquino’s, bevor er sich zu seinem Werbe-
0339Antrage entschließt, wiedergegeben, so in der dreimal wiederholten
0340Figur im Anfang (Notenbeispiel), welche später vor den Worten: „Ich
0341habe dich zum Weib gewählet“, etwas mehr in Fluß kommt. Die
0342Musik drückt hier das aus, was man mit der Redensart „um den
0343heißen Brei gehen“ bezeichnet. Das Pochen an der Pforte, welches
0344Jacquino’s Herzensergießungen zweimal unterbricht, ist genau in der
0345Musik wiedergegeben (Notenbeispiel), und es ist selbstverständlich, daß
0346das Pochen auf der Bühne mit diesen Noten zusammenfallen muß.
0347Nur sobald Marcelline Fidelio’s Erwähnung thut, wird die Musik
0348zarter und inniger. Nachdem Jacquino den letzten der pochenden
0349Störenfriede schon etwas unwirsch angefahren hat, erschallt aus dem
0350Schloßgarten rechts immer befehlerischer Rocco’s Stimme, und der arme
0351Bursche muß diesmal endgiltig auf seine Liebeswerbung verzichten
0352Jetzt ist Marcelline endlich allein, nichts hält ihre Gedanken mehr ab
0353sich dem Gegenstande ihrer Liebe zu weihen. Sie wünscht mit ihm
0354vereint zu sein; bei allen Verrichtungen ihres stillen häuslichen Lebens
0355empfindet sie seine beseligende Nähe: die Hoffnung schon erfüllt ihre
0356Brust mit unaussprechlich süßer Lust. (Notenbeispiel.) Die Musik ist,
0357so sehnsuchtsvoll sie ist, so harmlos und treuherzig. Sehr feinsinnig be-
0358zeichnet der Uebergang vom Moll zum Dur mit seinem mächtig an-
0359schwellenden Fis und den nachfolgenden Triolen (Notenbeispiel) das
0360Nahen der Hoffnung, die alle Sorgen, alle Mißhelligkeiten in süße
0361Liebeswonne auflöst.


0362Ich denke mir es einfacher, nützlicher und anziehender, sich
0363den Clavierauszug der Oper selbst aufs Pult zu legen, anstatt
0364diese langen Beschreibungen zu lesen. Denn für musikkundige Leser
0365ist Neitzel’s „Führer“ doch jedenfalls bestimmt, da nur solche beim
0366Lesen der zahlreichen Notenbeispiele sich dieselbeen gleich zu ver-
0367gegenwärtigen wissen. Herrn Neitzel’s „Führer“ ist mit großem
0368Fleiße zusammengestellt; neue, geistreiche Bemerkungen oder auch
0369nur stylistisch reizvolle Wendungen sind uns jedoch darin nicht
0370aufgefallen. Die citirte Stelle über „Fidelio“ kann zugleich als
0371Stylprobe gelten.