Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 9426. Wien, Freitag, den 21. November 1890
[1]Hofoperntheater.
(„Manon“, Oper in fünf Acten, von Henri Meilhac und Philipp Gille. Musik von J. Massenet.)
0003Ed. H. „Köstliche Musik, ein vortreffliches Buch, aus-
0004gezeichnete scenische Anordnungen und darin das einzige
0005wirklich lachende Lied, das je componirt wurde!“ So schrieb
0006Charles Dickens im Jahre 1855 aus Paris einem
0007Freunde über die Oper „Manon Lescaut“ von Scribe
0008und Auber. Die Oper, eine der letzten „Jugendsünden“
0009des 74jährigen Auber, errang in Paris großen Beifall, fand
0010aber keine weitere Verbreitung: In Wien kennt man daraus
0011nur das von Dickens mit Recht gerühmte Lachlied: „C’est
0012l’histoire amoureuse“ aus den Concerten der Carlotta
0013Patti. Es ist das originellste Stück in der ganzen Oper,
0014die übrigens in ihrem nachlässigen Couplet- und Quadrillen-
0015styl heute vollständig veraltet klingen dürfte. Manon war
0016als brillante Coloratur-Partie für Marie Cabel geschrie-
0017ben, eine Bravoursängerin mit wunderbarer Kehle und gar
0018keiner Seele. Es ist dieselbe Madame Cabel, welche zuletzt
0019noch die Philine in „Mignon“ creirt und von Gounod den
0020Spitznamen bekommen hat: „La garde mobile du chant“.
0021Die ganze Oper war auf ihren Ton gestimmt, den Ton
0022herzloser Koketterie und unfeiner Lustigkeit. Nur in dem
0023letzten Duett der sterbenden Manon mit ihrem ver-
0024zweifelnden Geliebten erhob sich Auber zu einem drama-
0025tischen Ernst und einer Innigkeit der Empfindung, die
0026sonst nicht seine starke Seite gewesen. Die leichtfertige Be-
0027handlung des Stoffes durch Scribe und Auber widerstrebt
0028dem heutigen Geschmack, aber welch starker dramatischer
0029Reiz in diesem Stoffe selbst liegt, dafür spricht schon dessen
0030bezaubernder Eindruck auf Dickens. Wäre Massenet der
0031Wirkung dieses Sujets nicht sicher gewesen, er hätte es kaum
0032unternommen, dasselbe nach Auber neuerdings zu componiren.
0033Beiden Opern liegt die berühmte „Histoire de Manon
0034Lescaut et du Chevalier Des Grieux“ von Prevost
0035d’Exiles (1697—1763) zu Grunde, der als Schriftsteller,
0036Soldat, Geistlicher und Abenteurer ein vielbewegtes Leben
0037geführt und zuletzt als Secretär des Prinzen von Conti
0038Ruhe gefunden hat. Ein Meisterstück schlichter Erzählungs-
0039kunst von spannender und rührender Gewalt, gehört die alte
0040Novelle noch heute zu den populärsten Büchern in Frank-
0041reich und hat unzählige Nachahmungen bis auf Dumas’
0042Cameliendame hervorgerufen. Ihr psychologisches Motiv ist
0043der dämonische Zauber, mit welchem die schöne, ebenso leicht-
0044fertige als gutmüthige Manon den jungen Chevalier Des
0045Grieux fesselt und verwirrt, bis er Sitte und Gesetz, end-
0046lich auch das Anstandsgefühl des Edelmanns mit Füßen
0047tritt. Trotz ihrer unglaublichen moralischen Schwäche er-
0048zwingen doch die beiden so furchtbar bestraften jungen Leute
0049unsere Sympathie. Alfred de Musset hat Manon in einem
0050Gedichte verherrlicht; seine poetische Apostrophe
0051„Manon, sphinx étonnant, véritable sirène!
0052Coeur trois fois féminin — que je t’aime et te hais!“
0053ist in Massenet’s Oper dem Helden wörtlich in den Mund gelegt.
0054Das Stück beginnt mit der Scene im Posthaus zu
0055Amiens, wo Manon, die ihres Leichtsinns wegen von ihrem
0056Bruder ins Kloster gebracht werden soll, Rast macht und dem
0057zwanzigjährigen Des Grieux zum erstenmale begegnet. Von
0058augenblicklicher Leidenschaft für Manon erfaßt, beredet er sie
0059leicht, mit ihm nach Paris zu entfliehen. Im zweiten Acte
0060finden wir das Pärchen bereits in Paris, bescheiden einge-
0061richtet, im glücklichen Rausch der ersten Liebe. Dieser nimmt
0062jedoch ein jähes Ende: der Vater des Chevaliers, von dem
0063Versteck des Sohnes unterrichtet, läßt ihn gewaltsam auf-
0064heben und in die Provinz entführen. Manon tröstet sich mit
0065dem Gedanken, es geschehe zum Besten ihres Geliebten, zu-
0066gleich aber mit dem Glanz und Reichthum, den ein vor-
0067nehmer Verführer, de Brétigny, ihr verspricht. Sie kann
0068eben ohne schöne Kleider und Juwelen, ohne Bälle und
0069Theater nicht leben. Drei Jahre später (im dritten Act)
0070sehen wir auf einem ländlichen Feste Manon als die ge-
0071feierteste Schönheit von Paris mit Brétigny erscheinen. Hier
0072erfährt sie, daß Des Grieux im Begriffe stehe, Priester zu
0073werden, und bereits seine Probepredigt gehalten habe. Sie
0074reißt sich vom Arme ihres reichen Anbeters los und eilt in
0075die Sacristei der Kirche St. Sulpice, um den Chevalier, der ihr
0076im Abbékleide entgegentritt, wieder für sich und die Welt zu
0077gewinnen. Lange widersteht er ihrem zärtlichen Flehen;
0078endlich überrennt die alte Leidenschaft alle guten Vor-
0079sätze, und er flieht mit Manon aus dem Kloster.
0080Diese Scene, welche Scribe und Auber sich haben
0081gänzlich entgehen lassen, bildet bei Massenet den
0082Höhepunkt der Oper. Manon reißt ihren Geliebten
0083sofort wieder in den Strudel des Vergnügens. Um ihre
0084kostspieligen Bedürfnisse zu befriedigen, ergibt sich Des Grieux
0085dem Hazardspiele. Wir sehen ihn im vierten Acte am Arme
0086Manon’s eine verrufene Spielhölle betreten, wo er rasch
0087fabelhafte Summen gewinnt, aber von einem rachsüchtigen
0088Nebenbuhler, dem Generalpächter Guillot, des Betruges an-
0089geklagt und sammt Manon verhaftet wird. In dem Text-
0090buche findet sich nicht die geringste Andeutung einer Schuld
0091des Chevaliers, ja er weigert sich ausdrücklich, mit den
0092Uebrigen zu fliehen, im Bewußtsein seiner Schuldlosigkeit.
0093In Prevost’s Erzählung hat Des Grieux, Manon zuliebe,
0094vom Anfang an immer und professionsmäßig falsch gespielt,
0095ist auch zweimal aus dem Gefängnisse ausgebrochen, um die
0096wegen Betrugs und Diebstahls verhaftete Geliebte zu be-
0097freien. Massenet’s Librettisten sind in dem Bestreben, beide
0098Charaktere von den schmutzigsten Flecken zu reinigen, so weit
0099als möglich gegangen. Dadurch wird die Katastrophe unver-
0100ständlich, und es begreift Niemand, weßhalb Manon, deren ein-
0101ziges Vergehen hier in der Abwechslung von Liebhabern besteht, zu
0102lebenslänglicher Deportation nach den Colonien verurtheilt
0103wird. Das und vieles Andere bleibt uns freilich auch schwer
0104begreiflich in Prevost’s Erzählung, diesem treuen, naiven
0105Culturbild einer Zeit, deren sittliche und Rechtsbegriffe den
0106modernen grell widersprechen. Ueber Manon’s Deportation
0107heißt es dort nur ganz lakonisch: „man begann zu dieser
0108Zeit eine Menge ausweisloser Leute (gens sans aveu) nach
0109dem Mississippi einzuschiffen.“ Wir sehen im letzten Act die
0110Unglückliche in Fesseln unter militärischer Escorte auf dem
0111Wege nach Havre marschiren, von wo sie mit anderen
0112Sträflingen nach Amerika eingeschifft werden soll. In der
0113Original-Erzählung folgt ihr der treue Chevalier unter un-
0114säglichen Mühen und Entbehrungen bis in die neue Welt;
0115mit aufopfernder Liebe pflegt er die rettungslos Hinsiechende
0116bis zu ihrem Tode und gräbt mit eigenen Händen ihr Grab.
0117Unsere Oper, welche Zeit und Raum doch nicht gar zu weit
0118ausdehnen wollte, läßt Manon schon auf dem Wege von
0119Paris nach Havre an Erschöpfung sterben. Ihr reuevoller
0120Abschied und ihr Tod in Des Grieux’ Armen schließt das Stück.
0121Das Textbuch ist mit der Gewandtheit und Theater-
0122kenntniß gearbeitet, die wir an den Herren Meilhac und [2]
0123Gille kennen. Sie konnten freilich nur einzelne Scenen aus
0124dem Roman herausheben und in sechs „Bildern“ aneinander-
0125reihen; den leitenden Faden der psychologischen Entwicklung
0126und manches erklärende Motiv muß der Zuschauer aus der
0127Erinnerung hinzudenken. Die Scenen selbst sind lebendig
0128behandelt und bieten viel Abwechslung. Von den auftretenden
0129Personen absorbiren die beiden Liebesleute unsere ganze
0130Theilnahme; für die Anderen bleibt wenig übrig. Die
0131beiden relativ wichtigsten unter diesen Nebenpersonen, der
0132verlotterte Gardist Lescaut und der alte Geck Guillot, könnten
0133allerdings in den Händen bedeutender schauspielerischer
0134Talente zu originellen Charakterfiguren werden. Die Partitur
0135ist die Arbeit eines feinen, geistreichen Kopfes, der über den
0136vollständigen Musikapparat und über die modernsten Geheim-
0137mittel des dramatischen Ausdruckes verfügt. „Manon“
0138scheint mir preiswürdiger als die großen lyrischen
0139Tragödien, welche Massenet’s Ruf begründet haben
0140„Der König von Lahore“, „Herodias“ und „Der
0141Cid“. Die Opéra Comique hat er nur als Anfänger
0142mit „Don César de Bazan“ betreten, welcher vor Jahren auch
0143im Wiener „Ringtheater“ auftauchte. Diese Jugendarbeit
0144schien darauf hinzudeuten, daß Massenet sein Bestes im Fach
0145der Spieloper leisten werde, ganz wie sein Lehrer Ambroise
0146Thomas, ja wie im Grunde alle echt französischen Compo-
0147nisten. Die geringe Zugkraft des „Don César“ mag den
0148Componisten von dieser Bahn abgelenkt und der Großen
0149Oper zugeführt haben. Erst zehn Jahre nach jenem Jugend-
0150werk schrieb er wieder eine komische Oper, eben „Manon“,
0151welche meine damalige Diagnose zu rechtfertigen scheint. Aus
0152der Musik zu Manon blüht zwar nicht mehr das jugendliche
0153Wangenroth des „Don César“, aber sie ist bei allem
0154Raffinement noch immer natürlicher, maßvoller, einheitlicher,
0155als Massenet’s tragische Opern. In letzteren, von denen Wien
0156nur den „Cid“ kennt, herrscht ein luxurirender Styl, ein Effect-
0157fieber, eine Spannung, ja Ueberspannung aller Empfindungen,
0158welche nur selten das Gefühl reiner Befriedigung aufkommen
0159lassen. In „Manon“ mußten schon der Schauplatz der Handlung
0160und ihre den Conversationsstyl bedingenden Charaktere dem
0161Componisten größere Mäßigung und Einfachheit auferlegen.
0162Die Musik schließt sich direct an Ambroise Thomas, Gounod
0163und Bizet an, die auch in mancher Wendung vernehmlich
0164durchklingen. Nur geht Massenet in der Auflösung der
0165musikalischen Form und in dem Zurückdrängen des Musi-
0166kalischen hinter das dramatische Interesse noch viel weiter
0167und führt ganze Scenen durch, in welchen der Gesang eigent-
0168lich nur declamatorisch über dem Orchester sich bewegt. Sei-
0169nen Leitmotiven — sie fehlen natürlich nicht — ist Dreierlei
0170nachzurühmen: daß sie von geringer Anzahl, daß sie melo-
0171diös und einpräglich sind und daß sie nicht jeden Augenblick
0172sich vordrängen. Das reizende syncopirte Motiv beim Auf-
0173treten Manon’s („Je suis encore toute étourdie“) und die
0174den Chevalier ankündigende Violoncell-Cantilene ziehen als
0175lichtere oder dunklere Wolken über alle Erlebnisse der beiden
0176Liebenden. Ein hübsches Beispiel ist die erste Zwischenact-
0177musik, wo das schwärmerische Violoncell-Motiv des Chevaliers
0178nach je drei Tacten von einer auf Manon’s Frohsinn an-
0179spielenden hüpfenden Figur abgelöst wird. Im Ausdruck
0180leichter, auch schwärmerischer Sentimentalität ist Massenet
0181am natürlichsten und glücklichsten; in einzelnen Momenten
0182erreicht er vorübergehend auch die Höhe starker Leidenschaft.
0183Die zarten, anmuthigen Zwiegespräche Manon’s und Des
0184Grieux’ im ersten und zweiten Acte, dann ihr tiefer und
0185stärker bewegtes Duett in der Sacristei enthalten die schönsten
0186Momente der Oper. Die Uebertreibung des Tempo rubato
0187in der Wiener Aufführung kommt diesen Nummern kaum
0188zu statten. Sie ist mir in dem ersten Duettsatze „Nous irons
0189à Paris“ aufgefallen, noch viel mehr in der späteren Canti-
0190lene Manon’s; „N’est-ce plus ta main, que cette main
0191presse?“ Hier macht das fortwährende Beschleunigen, Ver-
0192zögern und Stillhalten im Vortrage es dem Zuhörer ge-
0193radezu unmöglich, sich im Rhythmus und Tact zu orien-
0194tiren und ein richtiges Bild von der Melodie zu gewinnen.
0195Im dritten und vierten Acte fällt (abgesehen von der Kirchen-
0196scene) die Musik entschieden ab. Der Ton natürlicher Fröh-
0197lichkeit scheint dem Componisten versagt: oder fühlt er sich
0198zu vornehm, ihn herzhaft anzuschlagen? Zweimal hat Ma-
0199non im Vollgefühle ihrer Triumphe ein jubelndes Lied an-
0200zustimmen: zuerst bei dem Volksfeste im dritten, dann in
0201dem Spielsaale im vierten Acte. Man sehe sich die
0202beiden Gesänge an; gibt es etwas Verzwickteres und
0203bei aller Verschrobenheit Farbloseres? Hier, wenn
0204irgendwo, war gesunde Natürlichkeit und feste Form un-
0205entbehrlich. Massenet thut aber alles Mögliche, um
0206Melodie und Rhythmus zu verkrüppeln, den Gesang stotternd,
0207den Frohsinn trübselig, den Wein sauer zu machen. Auch
0208wenn der Gardist Lescaut sich im Spielsaal erbietet, „ein
0209kleines Lied“ zum Besten zu geben, so kommt etwas zu
0210Stande, was keinem Lied, überhaupt keiner vernünftigen
0211Melodie ähnlich sieht. Feine, überraschende Wendungen in
0212der musikalischen Conversation, geistreiche, glänzende Details
0213im Orchester werden dem Musiker fast in jeder Scene auf-
0214fallen. Eigentlich besteht diese ganze Musik aus Details; sie
0215bedeuten den Reiz und zugleich das Gebrechen von Massenet’s
0216Partitur. Fein und pikant erdacht, mit sorgsamer, erfahrener
0217Hand ausgeführt, ermangelt sie doch der reichlich strömenden
0218originellen Erfindung, sowie der schönen Plastik der Form.
0219Alles bleibt musivisch, zerrissen, will sich nicht zu übersichtlich
0220fester Form krystallisiren. Die reizendsten Motive schwimmen
0221wie einzelne in den Strom geworfene Rosen vor unseren
0222Augen davon. In einen richtigen blühenden Garten oder ein
0223Gärtchen, worin sich verweilen läßt, werden wir nicht ge-
0224führt. Vor lauter dramatischen Pointen und Klangzauber-
0225künsten kommt es in „Manon“ zu keiner rechten Musik.
0226Massenet ist der raffinirteste unter den französischen Opern-
0227Componisten; ein feiner Geist, aber im Grunde ein trockener
0228Musiker. Die stete Besorgniß, gewöhnlich zu werden, ver-
0229künstelt seine Musik, macht seinen Gesang widerhaarig, ner-
0230vös, gereizt. Seiner Erfindung fehlt der gesunde lange
0231Athem, sie hüstelt.
0232Das Beste an Massenet ist seine Technik, oben auf der
0233Bühne, wie unten im Orchester. Mit außerordentlicher Ge-
0234schicklichkeit behandelt er die Conversation; wie meisterhaft
0235zeichnet er z. B. das Gespräch Manon’s mit dem Vater
0236Des Grieux auf dem Hintergrund eines aus dem Garten
0237herüberklingenden Menuetts! Virtuos ist seine Instrumen-
0238tirung, insbesondere in zarten Stellen. Wo er energisch auf-
0239treten will — und das thut er häufig auch an unpassendem
0240Ort — da wird er leicht brutal. Keine leidenschaftliche
0241Gesangsstelle ohne das Mitbrüllen der drei Posaunen sammt
0242Tuba und gewaltigem Paukenwirbel. Das Orchester über-
0243schreit sich, und das arme Liebespaar muß es natürlich auch.
0244Und gar die Volksscenen! Hörte Jemand, mit dem Rücken
0245gegen die Bühne gewendet, den Chor der Reisenden, die [3]
0246aus der Postkutsche steigen, er würde darauf schwören, es
0247sei der Ausbruch einer Revolution. Es ist traurig, daß selbst
0248in solchen harmlos heiteren Scenen die Tradition der
0249älteren Opéra Comique jetzt gänzlich verleugnet wird. Wie
0250discret und wirksam haben Auber und Adam dergleichen klein-
0251bürgerliche Bildchen ausgeführt! Noch wäre eine von Massenet
0252eingeführte interessante Neuerung zu erwähnen: er läßt auch
0253zu dem gesprochenen Dialog das Orchester ununterbrochen
0254fortspielen. Das Princip des alten Melodrams, stellenweise
0255schon von Auber und Ambroise Thomas glücklich verwendet, er-
0256scheint in „Manon“ zum erstenmale mit strenger Consequenz
0257durchgeführt für alle Prosastellen. Mit rühmlichster Sorg-
0258falt beachtet Massenet die Gesetze der Declamation, wovon
0259man sich freilich nur aus der französischen Partitur über-
0260zeugen kann. Die deutsche Uebersetzung klingt holprig und
0261ungefüg; der armen „Manon“ ist es hierin nicht so gut
0262geworden, wie dem „Cid“ desselben Componisten; sie hat
0263keinen Kalbeck gefunden. Merkwürdig ist, daß der Ueber-
0264setzer der „Manon“, Herr Ferdinand Gumbert, bekanntlich
0265selber Liedercomponist, auf die höchsten, anstrengendsten Noten
0266der Sänger mit Vorliebe den Vocal i bringt. Ganz un-
0267richtig führt das Personenverzeichniß den Mr. Guillot
0268als „reichen Pächter“ auf, statt als General-Pächter. Bei
0269einem „reichen Pächter“ denkt man natürlich an einen Land-
0270mann; die französischen Fermiers généraux waren aber die
0271Hauptpächter der Staatsmonopole und Zölle, vielfache Mil-
0272lionäre und durch ihren Reichthum wie durch ihre Verbin-
0273dung mit den höchsten Hofstellen sehr einflußreiche Männer
0274der Pariser Gesellschaft. Ein solcher Fermier général spielte
0275im vorigen Jahrhundert eine ganz andere Rolle, und
0276Mr. Guillot spielt auch in „Manon“ eine ganz andere Rolle,
0277als ein „reicher Pächter“ schlechtweg.
0278„Manon“ hat, wie bereits gemeldet, eine glänzende Auf-
0279nahme gefunden. Sie verdankt dieselbe großentheils der
0280trefflichen Besetzung der beiden Hauptrollen mit Fräulein
0281Renard und Herrn van Dyck. Manon und Des Grieux
0282verlangen, abgesehen von rein künstlerischen Qualitäten,
0283unbedingt Darsteller, deren persönliche Erscheinung jene Fi-
0284guren glaubwürdig und sympathisch macht. Das ist hier der
0285Fall. Zu dieser natürlichen Mitgift gesellt sich noch das aus-
0286gesprochene musikalische und dramatische Talent der beiden
0287Künstler. Die Rolle der Manon, für Mademoiselle Heilbronn
0288geschrieben, liegt ziemlich hoch und stellt bedeutende Ansprüche
0289an die Zungen- und Kehlenfertigkeit der Sängerin. Für die
0290dunkle, etwas schwere Mezzosopran-Stimme der Renard
0291war „Manon“ jedenfalls eine ungewohnte und schwierige
0292Aufgabe. Sie hat dieselbe trotzdem glänzend gelöst und mit
0293einigen unbedeutenden Erleichterungen und Punktirungen ge-
0294treu und wirkungsvoll durchgeführt. Im ersten Act ist ihre
0295Manon von liebenswürdiger Einfachheit und Bescheidenheit;
0296im zweiten weiß sie ihrer Zärtlichkeit für Des Grieux —
0297den sie noch immer, aber schon mit der beginnenden Lang-
0298weile der Verarmung liebt — eine kaum merkliche bezeich-
0299nende Schattirung zu geben. In den rauschenden Scenen
0300des Volksfestes und der Spielgesellschaft hält sie ihre Fröh-
0301lichkeit stets in den Grenzen feinen Anstandes, in dem Duett
0302mit dem jungen Abbé endlich siegt sie ebenso unfehlbar durch
0303ihre weiche Zärtlichkeit, wie durch die Energie der Leiden-
0304schaft. Mit dieser Rolle hat Fräulein Renard die bisherigen
0305Grenzen ihres Könnens erweitert und eine Leistung fertiggestellt,
0306zu welcher man ihr aufrichtig Glück wünschen muß. Aehn-
0307liches Lob verdient Herr van Dyck, über welchen der an-
0308wesende Componist sich ebenso enthusiastisch vernehmen ließ,
0309wie über Fräulein Renard. Sein Chevalier Des Grieux hat
0310meine ursprüngliche Ueberzeugung nur bestärkt, daß die
0311französische Oper das angemessenste und fruchtbarste Feld ist
0312für seine künstlerische Individualität. Möge Herr van Dyck
0313nur keinem Gesangsathleten in die Hände fallen, der ihn zu
0314einem Tannhäuser, Siegfried oder Tristan umschmieden will,
0315zu einem Rufer im Streit! Daß er sich mitunter in der
0316Tonstärke übernahm, ist das Einzige, was man an Herrn
0317van Dyck aussetzen könnte. Sein Gesang athmete seelenvolle
0318Empfindung, sein Spiel Feuer und Leben; sogar in der
0319gesprochenen Prosa beschämte er manchen französischen Partitur über-
0320zeugen kann. Die deutschen Collegen
0321in der Deutlichkeit und Reinheit des Wortes. Die kleineren,
0322keineswegs unwichtigen Rollen wurden von den Damen
0323Artner, Kaulich und Standthartner, den Herren
0324Sommer, Grengg, Horwitz und Felix sorgfältig und
0325tüchtig gegeben. Orchester und Chöre leisteten unter Director
0326Jahn’s Führung ihr Bestes, und so macht die trefflich scenirte
0327und reich ausgestattete Vorstellung dem Hofoperntheater ebenso
0328viel Ehre, als sie dem Componisten Freude bereitet hat.