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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 9444. Wien, Mittwoch, den 10. December 1890

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Concerte.


0002Ed. H. Mit der steigenden Vervollkommnung von
0003Rosé’s Quartett-Productionen hat sich auch ihr Publicum
0004stetig vergrößert. Jetzt zeigt sich bereits die günstige Rück-
0005wirkung: der Anblick des sehr zahlreichen und empfänglichen
0006Hörerkreises steigert den Eifer und die Spielfreudigkeit der
0007vier Künstler, welche gewiß das Beste leisten, was Wien zur
0008Stunde im Quartettfach besitzt. Am letzten Abend hat ein
0009Quartett von Tschaikowsky (op. 11) lebhaft ange-
0010sprochen. Es bildet — mit dem von Rubinstein eingeführten
0011Lied ohne Worte“ in F-dur — einen sehr erfreulichen
0012Gegensatz zu den beiden einzigen Compositionen des gefeierten
0013Russen, die wir in Wien bisher zu hören bekamen; ich
0014meine die wüste „Romeo“-Ouvertüre und sein noch schreck-
0015licheres Violinconcert. Ja, wenn unsere modernen Kraft-
0016genies sich einmal ohne Orchester behelfen müssen, dann
0017werden sie gleich viel menschlicher. Es ist, als wenn man
0018ihnen die Kanonen weggenommen hätte; sie können uns
0019nicht mehr niederschmettern, sondern müssen uns zu über-
0020zeugen suchen. Eines classischen Quartettstyls kann sich
0021Tschaikowsky nicht berühmen. Auch verrathen die ermüdenden
0022Wiederholungen ein und derselben Figur (z. B. des Papa-
0023genopfeifchen-Motivs im Durchführungstheil des ersten Satzes)
0024die contrapunktische Hilflosigkeit des Autors und geben dem
0025Ganzen einen dilettantischen Beigeschmack. Allein es ist ein
0026naiver, musikfreudiger Dilettantismus voll Talent und guter
0027Einfälle. Am hübschesten und originellsten klingt das Andante,
0028ein serenadenartiger Gesang der ersten Violine, größtentheils
0029über pizzikirten Accorden. Gerade von diesem russischen
0030Zukunftsmusiker hätten wir ein so einfach melodisches Stück
0031kaum erwartet; es weht darin ein südlicher Hauch, wie von
0032ferner italienischer Musik. Später, beim Aufstieg zu Liszt’s
0033und Berlioz’ Idealen hat der Componist diesen Hauch ver-
0034leugnet; aber daß anfangs italienischer Einfluß mächtig auf
0035ihn eingewirkt habe, verräth uns Tschaikowsky selbst in der
0036interessanten autobiographischen Skizze, welche jüngst in
0037Lindau’s „Nord und Süd“ durch Vermittlung des Herrn
0038Neitzel erschienen ist. „Ich war 17 Jahre alt,“ erzählt
0039Tschaikowsky, „als ich die Bekanntschaft eines ita-
0040lienischen Gesanglehrers Piccioli machte. Er war
0041der Erste, der sich für meine musikalische Anlage
0042interessirte. Der Einfluß, den er über mich gewann, war ein
0043ungeheurer: noch jetzt bin ich seinem Machtbereich nicht ganz
0044entwachsen. Piccioli war ein eingefleischter Gegner der deutschen
0045Musik. Ich wurde in Folge dessen ein begeisterter Verehrer
0046von Rossini, Bellini und Donizetti, und hielt in meiner
0047Herzenseinfalt dafür, daß Mozart und Beethoven vortreff-
0048liche Dienste leisten könnten, um Jemanden in Schlaf zu
0049bringen. Nun, was das anbetrifft, so habe ich allerdings
0050eine hübsche Wandlung durchgemacht; und doch, wenn meine
0051Vorliebe für die italienische Musik sich auch merklich gelegt
0052und vor Allem an Ausschließlichkeit eingebüßt hat: bis zum
0053heutigen Tage spüre ich ein gewisses Wohlbehagen, wenn die
0054reichverzierten Arien, Cavatinen, Duette eines Rossini mit
0055ihren Rouladen ertönen, und gewisse Melodien Bellini’s kann
0056ich nie hören, ohne daß mir die Thränen in die Augen kommen.“
0057Die Liebe zur deutschen Musik kam bald darauf von
0058anderer Seite. Ein ausgezeichneter Pianist und Musiker,
0059Rudolph Kündinger aus Nürnberg, hatte sich in Peters-
0060burg niedergelassen und gab dem jungen Tschaikowsky jeden
0061Sonntag eine Stunde, nahm ihn auch zuerst in clas-
0062sische Concerte mit. Nach und nach begann Tschaikowsky’s
0063Vorurtheil gegen deutsche Musik zu schwinden. Eine Auf-
0064führung des „Don Juan“ wirkte wie eine Offenbarung
0065auf ihn. „Unmöglich kann ich diese Begeisterung, dieses Ent-
0066zücken, dieses Berauschtsein schildern, das mich ergriff.
0067Mehrere Wochen that ich nichts Anderes, als daß ich diese
0068Oper nach dem Clavierauszug durchspielte. Mozart ist
0069unter den großen Meistern derjenige, zu dem ich mich am
0070meisten
hingezogen fühle; das ist seither so geblieben und
0071wird stets so bleiben.“ Auch diese begeisterte Vorliebe für
0072Mozart ist überraschend bei Tschaikowsky und in seinen
0073Werken kaum zu entdecken. Während dieser ganzen Zeit hatte 
0074er keine Ahnung, daß er sich jemals der Musik widmen
0075würde. Er hatte die Rechtsschule in Petersburg absolvirt
0076und bekleidete durch drei Jahre das Amt eines „Unter-
0077secretärs“ im Justizministerium. Erst mit 22 Jahren nahm
0078er Unterricht in der musikalischen Theorie und besuchte das
0079von Rubinstein gegründete Conservatorium, ohne jedoch sein
0080Amt im Ministerium aufzugeben. Spät erlangte er die
0081Möglichkeit, sich ausschließlich der Musik widmen zu können.
0082Rubinstein ermunterte ihn energisch in seinem neuen
0083Beruf, pflegte ihm aber wegen seiner Zuneigung zu der
0084Richtung von Berlioz und Wagner gründlich
0085die Leviten zu lesen. Bezeichnend ist es, daß Tschaikowsky 
0086kaum das Conservatorium verlassen hatte, als er auch schon
0087die Stelle eines Professors der Compositions-Lehre am
0088Moskauer Conservatorium übernahm. Zehn Jahre hat er
0089dieses Amt bekleidet, an das er nur mit Entsetzen zurück-
0090denkt, so peinlich war ihm das Unterrichtgeben. Eine gefähr-
0091liche Erkrankung seines Nervensystems trat hinzu, um ihn
0092(1877) zur Niederlegung seiner Stelle zu bestimmen. Seit-
0093her lebt er ausschließlich der Composition. Tschaikowsky ist
0094jetzt 50 Jahre alt, in voller Kraft und Lust des Schaffens.
0095Nach Tschaikowsky’s Quartett spielte Herr Ignaz
0096Brüll mit Rosé die bekannte Suite von Goldmark 
0097unter großem Beifall. Wir haben an Herrn Brüll nur
0098Eines auszusetzen: daß er nicht häufiger öffentlich spielt.
0099Von seinem vornehmen, männlichen, immer sachgemäßen
0100und unaffectirten Vortrag können alle jungen und auch viele
0101alte Pianisten lernen. In Brüll hat der Virtuose den guten
0102Musiker noch niemals gedrückt, geschweige denn verschlungen.
0103Bei ihm finden wir die Technik der modernsten Virtuosen
0104ohne deren Koketterien und Faxen.


0105Herr Bernhard Stavenhagen hat zwei Concerte
0106unter gewaltigem Andrange des Publicums und mit außer-
0107ordentlichem Erfolge gegeben. Wunderlich genug, daß er,
0108der Liszt-Spieler par excellence, seine Productionen mit
0109Beethoven’s B-dur-Concert Nr. 2 eröffnete. Es wird noch
0110seltener gespielt, als das erste in C-dur, also eigentlich gar
0111nicht. Wir haben es jetzt zum erstenmale öffentlich gehört.
0112Stavenhagen spielte das Concert, dessen Schwierigkeiten heute
0113jeder vorgeschrittene Schüler bewältigt, schön und durchaus [2]
0114getreu; es mag ihn Selbstverleugnung gekostet haben, dem
0115dünnen Claviersatze nicht durch verstärkende Octaven oder
0116vollstimmigere Accorde stellenweise aufzuhelfen. Das B-dur-
0117Concert (op. 19) ist nach Beethoven’s eigener Angabe früher
0118componirt, als das mit Nr. 1 bezeichnete in C-dur (op. 15).
0119Es könnte beinahe für ein Mozart’sches gelten, so klar,
0120natürlich und selbstgenügsam fließt es dahin. Bedeutend nach
0121Beethoven’schem Maßstabe ist es in keinem der drei Sätze,
0122aber auch in keinem langweilig. Herr Stavenhagen wollte
0123uns wahrscheinlich die äußersten musikalischen Grenzpunkte
0124unseres Jahrhunderts aufzeigen, indem er auf das bescheidene
0125Concert des jungen Beethoven Liszt’sTodtentanz“ folgen
0126ließ. Das ist wirklich und in jedem Sinn „fin du siècle“.
0127Liszt hat es unternommen, einen der berühmten „Todten-
0128tänze“, wie die Phantasie der alten deutschen Maler sie ge-
0129schaffen, musikalisch nachzubilden in einer Reihe von Clavier-
0130Variationen mit Begleitung des Orchesters. Der schreckliche
0131Sensenmann wird durch eine angeblich aus dem sechsten
0132Jahrhundert stammende Kirchenmelodie (Dies irae) symboli-
0133sirt, welche markerschütternd angeblasen kommt und die Per-
0134sonen des Todtentanzes, die Variationen nämlich, vor sich
0135hertreibt. Die Variationenform ist ohne Frage glücklich ge-
0136wählt für diesen Vorwurf, die Ausführung jedoch sehr
0137materialistisch. Richard Pohl, der literarische Vorreiter jedes
0138incognito reisenden Tiefsinnes, versichert, er sehe deutlich in
0139jeder dieser Variationen einen andern Charakter: „den
0140ernsten Mann, den leichtsinnigen Jüngling, den höhnenden
0141Zweifler, den betenden Mönch, die liebliche Jungfrau“ u. s. w.
0142Ich erblickte nur lauter Clavier-Virtuosen, die nach
0143einander ihre Kunststücke probiren, der eine in Trillern,
0144der andere in Octaven, der dritte in Sprüngen, der
0145vierte in Accorden — alle aber so unbelästigt von
0146Todesgedanken wie etwa ihre Zuhörer. Sollte der „Todten-
0147tanz“ wirklich den beabsichtigten phantastisch-schauerlichen
0148Eindruck machen, so durfte eine concertmäßig sich
0149vordrängende Clavierpartie gar nicht dreinreden. Der Stoff
0150hätte von einem gewaltigen ernsten Symphoniker in großem
0151Styl behandelt werden müssen, oder mit der geistreichen,
0152fein ironischen Grazie von Saint-Saëns’Danse
0153macabre“, welche Geringeres anstrebt und doch viel mehr
0154erreicht, als Liszt’s Todtentanz. Dieser klingt thatsächlich wie 
0155eine gelungene geistreiche Persiflage von Liszt’s Compositions-
0156styl. Herr R. Pohl sagt mit Unrecht, Liszt’s Todten-
0157tanz sei „kein unterhaltendes Stück“. Nein, diese in lauter
0158Purzelbäumen vom Erhabenen ins Lächerliche sich über-
0159schlagende Musik ist unterhaltend, ist sehr unterhaltend,
0160Zeuge dessen die zahlreichen Physiognomien im Concert, die
0161alle von mühsam zurückgedrängter Heiterkeit wetterleuchteten.
0162Nachdem Herr Stavenhagen noch in Liszt’s A-dur-Concert 
0163als großer Virtuose geglänzt hatte, trat er zum erstenmal
0164auch als Componist hervor. Er hat einen langen Monolog 
0165aus dem Drama „Suleika“ von Kastrupp für eine Sopran-
0166stimme mit Orchesterbegleitung gesetzt. Suleika spricht von
0167ihrer Liebe zu Jussuff; Wonne und Zärtlichkeit, Schmerz und
0168Verzweiflung, Selbstvorwürfe und glühende Sehnsucht nach
0169dem Geliebten lösen einander ab. Der Componist hat diese
0170Wandlungen in eine Reihe von Gesangstückchen umgesetzt,
0171die musikalisch dürftig und isolirt, eigentlich nur durch den
0172Faden der Dichtung zusammenhängen. Das Ganze — es
0173ist eben kein Ganzes — entläßt uns ohne bestimmten Total-
0174Eindruck. Der Styl ist der rhapsodisch declamatorische, über-
0175schwängliche von Tristan und Isolde. Das Orchester in
0176seiner modernsten Machtfülle führt das große Wort und soll
0177uns durch Farbeneffecte für den Mangel an musikalischen
0178Ideen entschädigen. Wir würden des Componisten große Ge-
0179wandtheit im Instrumentiren loben, wenn dieses Lob heutzu-
0180tage noch viel zu bedeuten hätte. Wann werden unsere Ton-
0181dichter aufhören, für einen Zopf zu halten, was eine ewige
0182Wahrheit, ein Urgesetz ist: daß die Melodie der oberste
0183Wille sein muß in jedem Gesangstück! Die junge schöne
0184Gattin des Componisten, Frau Agnes Stavenhagen,
0185sang die „Suleika“ und im zweiten Concert noch drei
0186Lieder ihres Mannes mit hellklingender, angenehmer Sopran-
0187stimme, reiner Intonation und deutlicher Aussprache, im
0188Ausdrucke jedoch eigenthümlich starr und unfrei. Die Lieder
0189selbst sind von der Art des jetzigen jungen Deutschland: ein
0190ziemlich physiognomieloser Gesang, unter welchem eine weit-
0191griffige, complicirte Clavierfigur sich eigensinnig fortwälzt.
0192Das dritte Lied: „Deine weißen Lilienfinger“, ist geradezu
0193eine unverfälschte Clavier-Etüde mit entbehrlicher Gesangs-
0194begleitung. Unsere jungen componirenden Seelenmaler wissen
0195für jede Nuance einer hysterischen Wallung die entsprechen-
0196den Farbentone zu finden; nur was ein Lied ist, wird man
0197bald nicht mehr wissen. In Stavenhagen’s zweitem Concert,
0198das ohne Orchester stattfand, vermochte man die Feinheiten
0199seines Spiels noch besser zu würdigen. Er ist ja am be-
0200deutendsten als Miniaturmaler. Die Kunst der Anschlags-
0201nuancen, als ein besonderes Studium, datirt erst aus
0202neuerer Zeit. In dieser Kunst, dem Clavier die
0203mannigfaltigsten Klangfarben abzugewinnen, hat Staven-
0204hagen keinen Rivalen. Allein meine Befürchtung
0205vom vorigen Jahre, Stavenhagen könnte die Ausbildung
0206dieser Specialität auf eine gefährliche Spitze treiben, war
0207nicht grundlos. Wirklich verleitet ihn sein Reichthum an
0208Anschlagsnuancen manchmal dazu, über die besondere Klang-
0209schönheit einer einzelnen Phrase den musikalischen Charakter
0210des Ganzen zu vernachlässigen. Zu oft und anhaltend benützt
0211er die „Verschiebung“, so z. B. durch das ganze Dur-Trio
0212des H-moll-Menuetts von Schubert. Diese, wie durch
0213Kampfersalbe hervorgekünstelte Blässe zerstört das schöne
0214natürliche Wangenroth der Schubert’schen Melodie. Dasselbe
0215Schönheitsmittel „una corda“ gebraucht Stavenhagen für
0216die F-dur-Nocturne von Chopin (op. 15); dazu spielt er
0217den (ausdrücklich mit „sempre legato“ bezeichneten) Baß im
0218allerspitzigsten Staccato! Vorbei war es mit der holden
0219Innigkeit dieser Melodie, sie ward gezirpt anstatt gesungen. Es
0220gefiel eben unserm Klangkünstler, das volltönende Clavier in
0221eine armselige Zither zu verwandeln. Die „Polonaise-Fantaisie“
0222von Chopin hat uns Stavenhagen bereits im vorigen
0223Jahre gespielt; wir hätten dieser fieberkranken Rhapsodie
0224jedenfalls die glanzvolle As-dur-Polonaise, op. 53, vorge-
0225zogen. Liszt’s H-moll-Sonate haben wir bisher nur von
0226Bülow gehört; sie bekam unter Stavenhagen’s Fingern
0227mehr Farbe und sinnlichen Reiz. Einzelne Partien, zumal
0228die elegischen, traten dadurch in eine günstigere Beleuch-
0229tung; das abstruse Ganze ist freilich nicht zu retten. Es
0230dürften vielleicht nur wenige von den Verehrern Liszt’s ein
0231Buch kennen, das 1847 in Mailand unter dem Titel er-
0232schienen ist: „Etude prénologique sur le carac-
0233tère originel et actuel de Mr. François Liszt“. Der
0234Verfasser, ein englischer Doctor der Medicin, Mr. Castle,
0235erhielt in einem äußerst liebenswürdigen Briefe von Liszt 
0236die Erlaubniß, seinen „mehr oder minder buckligen Schädel“ [3]
0237zu untersuchen. Zugleich gibt ihm Liszt die Versiche-
0238rung, er werde nicht die leiseste Empfindlichkeit
0239zeigen, selbst wenn der Phrenolog Organe des Diebs-
0240sinnes und der Mordlust an ihm entdecken sollte.
0241In dem citirten furchtbar langweiligen Buche hat Mr. Castle 
0242die Resultate seiner Untersuchung ausführlich mitgetheilt und
0243in einer langen Tabelle übersichtlich gemacht. Ganz richtig
0244findet er an Liszt’s Schädel im höchsten Grade ausgeprägt:
0245Intelligenz, Liebe, Freundschaft, Großmuth, Enthusiasmus,
0246Ehrgeiz u. s. w. Nur Eine Eigenschaft Liszt’s bezeichnet
0247Castle als minder hervorragend: sein Compositions-Talent,
0248welches offenbar durch seine mächtige Reproductionsgabe
0249(„la puissance d’exécution artistique“) zurückgedrängt und
0250gehemmt sei. Mr. Castle hatte es freilich leicht, das Alles
0251an dem Schädel Liszt’s zu „entdecken“, da er ja vor
0252der Untersuchung über den großen Menschen und Künstler
0253vollständig im Klaren war.


0254Dem letzten Philharmonischen Concert verdanken wir
0255die Bekanntschaft eines neuen ausgezeichneten Pianisten, des
0256Herrn Emil Sauer aus Dresden. Der noch sehr junge
0257Mann spielte Henselt’s Clavierconcert in F-moll mit
0258großer Virtuosität, schönem Anschlag und warmer, fast
0259mädchenhaft zarter Empfindung. Seine im schönsten Pia-
0260nissimo hingehauchten Passagen und Verzierungen erregten
0261Aufsehen. Herr Sauer kann sich eines entschiedenen Erfolges
0262rühmen. Das Henselt’sche Concert, welches mehr Zartheit
0263als Kraft und Kühnheit verlangt, kam seiner Spielweise sehr
0264günstig entgegen. Die Composition selbst wirkt nur durch
0265schöne Einzelheiten; ein großes Ganzes zu formen, lag nicht
0266in der Macht Henselt’s, dieses feinen poetischen Kleinmalers.
0267Seine Etuden übertreffen an schöner Eigenart und musikali-
0268schem Gehalt das große Concert; sie bleiben immerdar
0269Henselt’s Meisterwerk. Mit Unrecht werden sie jetzt von den
0270Clavier-Virtuosen völlig ignorirt; höchstens, daß hin und
0271wieder noch das „Vöglein“ gespielt oder vielmehr durch ein
0272sinnloses Tempo zu Tode gehetzt wird. Henselt’s Etuden
0273sind durch ihre glänzende Technik wie durch ihre poetische
0274Empfindung ungemein dankbar für den Spieler, wenn sie
0275ihm auch nicht die Möglichkeit bieten, zu demonstriren, wie
0276ein heiliger Franz über die Wellen spaziert und ein anderer
0277heiliger Franz den Vögeln predigt.