Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 9694. Wien, Sonntag, den 23. August 1891
[1]Modernes im Zeitungs- und Theaterwesen.
(Ein Brief an die Herausgeber.)
Aussee, im August.
0004Ed. H. Das vortreffliche Feuilleton „Verdeutschungen“
0005in der „Neuen Freien Presse“ vom 15. d. veranlaßt mich
0006zu einem Worte speciellen Dankes. Die Stechfliegen der
0007neuesten Sprachreinigungs-Manie, welche, halb lächerlich,
0008halb ärgerlich uns täglich lästiger umschwirren, reizten mich
0009längst zu dem Versuche einer Abwehr. Gut, daß der ungenannte
0010Verfasser jenes Feuilletons mir zuvorgekommen und so
0011treffend, sachlich, geistvoll der Verdeutschungssucht zu Leibe
0012gegangen ist. Ich hätte wahrscheinlich etwas leidenschaftlicher
0013zugeschlagen und weniger resignirt geschlossen. Nimmermehr
0014könnte ich zugeben, daß auch für die schiefe und häßliche Ver-
0015deutschung „Schriftleitung und Schriftleiter“ „die Stunde
0016des endgiltigen Sieges schlagen werde“. Nein. Es wird
0017gewiß immer ernsthafte deutsche Zeitungen geben, welche die
0018seit dem Bestande der Journalistik eingebürgerten, von allen
0019Nationen verstandenen Wörter Redaction und Redacteur bei-
0020behalten werden. In jedem Zweige des Wissens und der
0021Technik haben sich Fremdwörter eingebürgert, die, zu techni-
0022schen Ausdrücken geworden, durch rein deutsche nicht ersetzt
0023werden können und nicht ersetzt zu werden brauchen. Wenn
0024Mitglieder einer solchen „Schriftleitung“ unter sich sind,
0025fragen sie einander: Ist der Redacteur zugegen? Kommen
0026Sie aus der Redaction? Und ein paar Dutzend Leute,
0027die sich selber nicht an diese unnatürlichen Wörter — uns
0028fremdartiger als alle Fremdwörter — gewöhnen können,
0029wollen sie dem ganzen Volke aufdrängen? Es hat wirklich
0030etwas Naives, wenn man eine Sprache von dem reichen und
0031sicheren Besitzstand der deutschen durch solche Kindereien glaubt
0032befestigen und schützen zu müssen. Diese Aengstlichkeit paßt
0033für die kleinen „interessanten Nationalitäten“, die sich eine
0034Schriftsprache und Literatur erst schaffen. Wer jedes Fremd-
0035wort verbieten will, der macht unsere Sprache arm. Ich
0036kenne keinen einzigen guten Schriftsteller, der sich nicht ohne-
0037weiters solcher Fremdwörter bediente, welche entweder längst
0038eingebürgert oder durch rein deutsche nicht genau wiederzu-
0039geben sind. Die richtige Grenze dafür kann nur das Wissen
0040 und der Geschmack des einzelnen Autors bestimmen; com-
0041mandiren lassen sich Verdeutschungen weder durch Sprach-
0042vereine, noch durch „Schriftleitungen“, noch selbst für die
0043nichtamtliche Literatur durch die Regierungen. Anerkannte
0044deutsche Schriftsteller, darunter Autoritäten ersten Ranges,
0045haben längst gegen die Caricatur der modernen Sprach-
0046reinigungssucht ihre Stimme erhoben. Leider scheint man sie
0047nicht hören zu wollen und glaubt sich einer patriotischen
0048Rettungsthat zu rühmen, wenn man statt Billet „Fahrschein“,
0049statt Telegramm „Drahtnachricht“, statt Programm „Vor-
0050tragsordnung“ sagt.
0051Jeder gute Schriftsteller wird, wie gesagt, solche Fremd-
0052wörter aufnehmen, deren Bedeutung sich mit keinem ur-
0053sprünglich deutschen Wort deckt. Aber neben diesem inneren
0054Motiv für die Wahl eines Fremdwortes, als des genauesten,
0055feinsten Ausdrucks unseres Gedankens, gibt es noch ein
0056zweites, von dem viel seltener die Rede ist und das ich
0057darum nachdrücklicher hervorheben möchte: ich meine den
0058Wohlklang. Ein Fremdwort ist häufig das beste, manch-
0059mal das einzige Mittel, Mißklänge und Härten zu vermei-
0060den, welche aus dem Zusammenstoß gewisser deutscher Wörter,
0061insbesondere vielsylbiger, entstehen. Lieber drei Fremdwörter
0062nacheinander, wie „das kokette Programm dieses Concerts“,
0063als neudeutsch: „Die gefallsüchtige Vortragsordnung dieser
0064Musik-Aufführung“. Wer gut schreiben will, muß auch gut
0065hören. Das scheint aber jenen Fanatikern versagt, die aus
0066Haß gegen ein wohlklingendes Fremdwort lieber eine unver-
0067fälschte deutsche Katzenmusik schreiben.
0068Vor Kurzem erhielt ich einen recht liebenswürdigen
0069Brief von einem bekannten Poeten und eifrigen Leser meiner
0070Aufsätze, der nur Eines daran beklagt: „die vielen vorkom-
0071menden Fremdwörter“. Ich glaubte, in diesem Punkt kein
0072großer Sünder zu sein, und habe gewiß nie einen Satz ge-
0073schrieben, wie jüngst einer der bekanntesten Novellisten in
0074„Nord und Süd“ (December-Heft 1890): „Alle jene Ueber-
0075gänge waren nur Approchen zum eigentlichen Lebens-
0076beruf. Dieser fromme Wunsch mußte cachirt werden.“
0077Allein den Gefallen kann ich meinem wohlwollenden Rath-
0078geber doch nicht thun, die Wörter: Componist, Composition,
0079Production stets zu vermeiden und statt Sympathie „Zu-
0080stimmung“, statt Broschüre „Heft“, statt produciren „dar-
0081thun“, statt Conservatorium „Musikschule“ zu sagen, wie er
0082verlangt. Vollends unbegreiflich erscheint ihm aber, daß ich
0083einmal Componist, Composition, Production schreibe, nachdem ich
0084eine Zeile früher Tondichter, Tondichtung, Aufführung ge-
0085sagt habe, also recht gut weiß, wie der deutsche Ausdruck
0086lautet. Ja, hören Sie denn nicht? möchte man solchen
0087Kritikern zurufen. Merken Sie wirklich nicht, daß ich ab-
0088sichtlich einmal Componist, das anderemal Tondichter, einmal
0089Production, das anderemal Aufführung schreibe, um die
0090Monotonie des Klanges zu vermeiden?
0091Man sollte meinen, Musiker müßten das empfindlichste
0092Ohr besitzen, auch für die Harmonie des Styls. Leider erlebt
0093man oft das Gegentheil. In neuester Zeit betreiben einige
0094Musikzeitungen „national-deutscher“, d. h. Wagner’scher Rich-
0095tung den Reinlichkeitssport mit auffallender Wichtigkeit. Ein
0096solches mir vorliegendes Blatt enthält eine fettgedruckte Auf-
0097forderung an die Mitarbeiter und Correspondenten, sich ja
0098aller Fremdwörter zu enthalten. Da stolpert man in jedem
0099Satze über die süßen neuen Worte: Drahtnachricht, Sonder-
0100bericht und selbstverständlich über Vortragsordnung (für
0101Programm), „Spielzeit“ (für Saison), „Spielplan“ (für
0102Repertoire) u. s. w. Ich frage, kann man auch sagen: der
0103neue Director entwickelte seine Vortragsordnung? Oder: die
0104Concertsängerin Barbi hat einen reichhaltigen Spielplan? Oder
0105wir sind jetzt in der todten Spielzeit? Das sind lauter Aus-
0106drücke, die einander nicht decken; der deutsche ist immer etwas
0107weiter oder enger, als das längst eingebürgerte Fremdwort.
0108Wie wird unsere Musikzeitung die in den französischen Jour-
0109nalen wiederkehrende Theaternotiz übersetzen: „Les Dimanches
0110on joue le répertoire“? In diesen „musikalischen“ Sprach-
0111reinigungs-Anstalten drängen sich gräulich klingende Satz-
0112bildungen, von denen uns die Zähne und die Ohren
0113wehthun. Freilich bewies auch ihr Herr und Meister,
0114Richard Wagner, keineswegs ein empfindliches Gehör weder
0115in seiner Prosa noch in seinen Dichtungen. Ich hatte das
0116berühmte Dedications-Exemplar der „Nibelungen“-Dichtung
0117in Händen, welches Wagner an Schopenhauer gesandt
0118und das dieser an den mißklingendsten Sätzen mit Rand-
0119bemerkungen, wie „Hört er denn nicht?!“ „Der taube
0120Musikant hat keine Ohren!“ u. dgl. versehen hat.
0121Aber die musikalischen Deutschthümler gehen noch wei-
0122ter; nicht blos aus den Musikkritiken, auch aus den Noten-
0123heften wollen sie alles Fremdländische verbannen. Ein Ber[2]-
0124liner Blatt hat ganz ernsthaft allen deutschen Componisten
0125und Musikverlegern das Ansinnen gestellt, die italienischen
0126Vortragszeichen durchaus zu verdeutschen. Also kein Allegro
0127und Andante mehr, kein Diminuendo und Crescendo! Es
0128ist unglaublich, mit welchem Leichtsinn Hand daran gelegt
0129wird, einen Jahrhunderte alten, unschätzbaren Culturbesitz
0130wegzufegen. Ihren schönsten Segen besitzt die Musik darin,
0131eine allgemein verständliche Sprache zu sein, eine kosmopo-
0132litische Kunst. Dieser Vorzug der Allverständlichkeit erscheint
0133im praktischen Leben dadurch erhöht, daß nicht blos der
0134Klang einer bestimmten Sonate oder Symphonie, sondern
0135die bleibende Niederschrift derselben bis heute allen
0136Nationen gleich verständlich ist. Die Noten sind ohnehin für
0137Alle dieselben, und die Vortragsbezeichnungen haben Alle
0138von altersher aus Italien, dem Stammlande unserer mo-
0139dernen musikalischen Cultur, übernommen. Wenn eine deutsche
0140Partitur nach Rußland, Polen, Ungarn, Spanien zur Auffüh-
0141rung verschickt wird, so versteht dort jeder Capellmeister, wie
0142sie zu dirigiren, jedes Orchestermitglied, wie sie zu spielen ist.
0143Das soll nun aufhören; kein nichtdeutsches Wort soll ein
0144deutsches Notenheft verunzieren. Wer überhaupt musikalisch ist in
0145Europa oder Amerika, versteht die eingebürgerten italienischen
0146Vortragszeichen und ihre Abkürzungen. Wenn man aber
0147diese bequemen Abbreviaturen durch schwerfällige Verdeut-
0148schungen ersetzt, statt pp. und fff. „sehr leise“ oder „so stark
0149als möglich“ hinschreibt, so kann der Ausländer sich dabei
0150nichts denken; die Partitur wird außerhalb Deutschlands
0151unbrauchbar. Folgerichtig müßten, dem Princip zuliebe, auch
0152die Namen der Compositionsformen und der Instrumente
0153verdeutscht werden. Sonate würde „Klangstück“, Symphonie
0154„Zusammenklangstück“, heißen, Oboë, Clarinette, Violoncell
0155müßten sich in „Hochholz“, „Hellholz“, „Kniegeige“ verwandeln.
0156Damit wäre das Chaos glücklich fertig. Selbst in Deutsch-
0157land würde man sich schwer zurechtfinden in dieser neu uni-
0158formirten Musik. Auswärts aber dürfte der heute so eigen-
0159sinnig hochgesteigerte Nationalsinn ohne Zweifel dem bösen
0160Beispiel folgen und dieselben sprachlichen Zollschranken in
0161der Musik gegen uns aufrichten. Dann wird ein Musikstück
0162aus Ungarn, Rußland, Norwegen, Spanien bei uns kein
0163Musiker vortragen, kein Capellmeister dirigiren können. An-
0164gesichts solcher Versuche, eine durchaus kosmopolitische Kunst
0165national zu knebeln und abzusperren, tröstet uns der Ge-
0166danke, daß einseitige Attentate auf einen uralten Culturbesitz
0167leichter vorzuschlagen als durchzuführen sind. Eine Germani-
0168sirung des deutschen Musikverlages würde zu viele materielle
0169Interessen schädigen, vom gesunden Menschenverstand ganz
0170zu schweigen.*)
0190Da ich nun einmal im Raisonniren bin, so möchte ich
0191noch eine zweite moderne Errungenschaft berühren, die zwar
0192nicht mit den „Verdeutschungen“, aber doch mit der neuesten
0193deutschen Theaterpraxis zusammenhängt. Ich meine die Sitte
0194oder Unsitte, auf den Theaterzetteln die Darsteller ohne die
0195Bezeichnung Herr, Frau oder Fräulein zu nennen, hingegen
0196durchwegs mit ihren Vor- und Zunamen. Auf diese Mode,
0197die bereits von österreichischen Provinztheatern, wie Prag,
0198Karlsbad u. s. w., nachgeahmt wird, kann sich Deutschland
0199etwas einbilden. Keine von den Nationen, die in Theater-
0200dingen unsere Lehrer gewesen, kennt diese Manier, die mir
0201geschmacklos und unpassend vorkommt. Franzosen und Ita-
0202liener nennen ihre Schauspieler auf dem Personenverzeichniß,
0203wie es sich gehört, Monsieur und Madame, Signor und
0204Signora. Der Herausgeber des Theaterzettels, der seine Mit-
0205glieder vorstellende Hausherr, ist doch immer der Director;
0206die Künstler haben den Anspruch, von ihm mit „Herr“
0207oder „Frau“ titulirt zu werden. In dem Weglassen
0208des Titels „Herr“ steckt etwas eigenthümlich Zwiespäl-
0209tiges, es weist über oder unter das gesellschaft-
0210liche Niveau. Schlechtweg mit ihrem Namen nennt
0211man entweder berühmte Männer oder Leute in untergeord-
0212neter Dienststellung. Wir sprechen kurz von Rossi und Sal-
0213vini, von Sarah Bernhardt und Adelina Patti: wir nennen
0214aber auch Kellner und Dienstmädchen nicht „Herr“ oder
0215„Fräulein“. Man emancipirt sich also von der Titulatur
0216demjenigen gegenüber, der sie nicht braucht oder dem sie
0217nicht gebührt. Die Franzosen, Meister der Höflichkeit, nennen
0218in ihren Zeitungen jeden Lebenden, und sei er der be-
0219rühmteste: „Monsieur“. Sie schrieben bei Lebzeiten dieser
0220Männer nie anders als Mr. Thiers, Mr. Rossini,
0221Mr. Balzac, wie man heute nicht anders als von
0222Mr. Gounod, Mr. Ferry, Mr. Renan spricht. Die deutsche
0223und die italienische Uebung weicht davon ab. Beabsichtigt
0224ein Theater-Director gerade die Berühmtheit seiner ersten
0225Mitglieder durch das Weglassen des Titels „Herr“ zu be-
0226zeichnen, dann darf er es nicht auch auf die Darsteller von Be-
0227dientenrollen anwenden. Dem Theaterzettel geziemt aber
0228gleiche Höflichkeit gegen Alle. Diese Gleichstellung üben
0229die modernen deutschen Theaterzettel dadurch, daß
0230sie alle Darsteller, auch die letzten Figurantinnen,
0231mit ihrem vollen Vor- und Zunamen aufführen.
0232Nichts Komischeres und zugleich Lästigeres, als so ein langer
0233Theaterzettel mit großem Personal, der uns nöthigt, anstatt
0234zwanzig oder dreißig Eigennamen ihrer vierzig oder sechzig
0235herabzuwürgen. Das langweilt den Leser, den es nicht im
0236mindesten interessirt, ob der zweite Jäger im Freischütz
0237Wenzel oder Johann Polivka, der dritte Chorknabe im Pro-
0238pheten Poldi oder Mietzi Krautkopf heißt. Denn das ist
0239auch eine Folge dieser neuen Mode, daß die kindischen Kose-
0240namen auf den Theaterzetteln überhand nehmen. Tini, Poldi,
0241Mietzi, Fritzi sind keine Namen, sondern Abkürzungen von
0242Namen und deßhalb unpassend auf öffentlichen Kund-
0243machungen. Für die Kritiker erwächst daraus überdies die
0244Unbequemlichkeit, nicht zu wissen, ob „Mietzi Müller“ und
0245„Tini Mayer“ Frau oder Fräulein zu tituliren ist, denn
0246glücklicherweise hält die deutsche Journalistik noch an der
0247Höflichkeit fest, welche die Theater-Directoren über Bord ge-
0248worfen haben. Optimist, der ich nun einmal bin, hege ich
0249die fröhliche Zuversicht, daß jede unvernünftige und geschmack-
0250lose Mode bald in Vergessenheit fällt. Man kann sich in-
0251mitten all des Lächerlichen und Aergerlichen doch immer über
0252irgend etwas freuen. Und die gleiche Freude, die ich an dem
0253Fortbestehen der „Redaction“ und des „Redacteurs“ der
0254„Neuen Freien Presse“ habe, empfinde ich auch darüber, daß
0255unsere großen Wiener Theater noch höflich genug sind gegen
0256ihre Mitglieder und gegen ihr Publicum, um jene „Herr“
0257und „Frau“ zu nennen und dieses mit den Vornamen von
0258Statisten und Figurantinnen zu verschonen.