Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 9979. Wien, Sonntag, den 5. Juni 1892
[1]Friedrich v. Flotow’s Leben.
[2]
0002Ed. H. Eine vollständige verläßliche Biographie Flotow’s
0003hat bisher gefehlt, so gerne man Genaueres über die Ent-
0004wicklung und die Erlebnisse eines Mannes erfahren hätte,
0005der, liebenswürdig als Mensch wie als Künstler, von so
0006glänzenden Erfolgen gekrönt war. Ein solches Buch konnte
0007überall auf Theilnahme zählen, in Wien zumal, wo Flotow’s
0008Ruhm die Reise um die Welt antrat und seine Persönlichkeit
0009zu den bekanntesten und beliebtesten gehörte. Die Verlags-
0010handlung Breitkopf & Härtel versendet soeben einen schön aus-
0011gestatteten schmächtigen Band: „Friedrich v. Flotow’s
0012Leben, von seiner Witwe“. Die Verfasserin ziert
0013eine seltene Bescheidenheit. Weder ihren Taufnamen, noch
0014ihren Familiennamen, noch ihre Herkunft verräth sie uns;
0015ihre Person bleibt das ganze Buch hindurch völlig unsichtbar
0016im Hintergrund. Sie schreibt durchaus sachlich, meist auf
0017Grund schriftlicher Aufzeichnungen ihres Gatten, den sie
0018liebevoll, doch ohne enthusiastische Uebertreibung schildert.
0019Der Frau eines Componisten verzeiht man, wenn sie ihn
0020für einen zweiten Mozart hält; man dankt ihr, wenn sie es
0021nicht thut.
0022Das Interessanteste ist die Jugendzeit. Die Familie
0023Flotow ist eines der ältesten Adelsgeschlechter in Mecklenburg;
0024es kann seine Abstammung bis in jene Zeiten verfolgen, wo
0025die Führung von Wappen als Abzeichen adeliger Abkunft
0026aufgekommen ist. Der ausgedehnte Grundbesitz der Flotows
0027ging allmälig durch schlechte Wirthschaft und anhaltende Ver-
0028nachlässigung immer mehr zurück, namentlich zur Zeit der
0029französischen Invasion. Wilhelm v. Flotow, der Vater des
0030Componisten, hatte den unglücklichen Feldzug gegen Frank-
0031reich mitgemacht, hierauf als Rittmeister seinen Abschied ge-
0032nommen und war in die Heimat zurückgekehrt. Da begann
0033für ihn eine kummervolle Zeit steter Arbeit, ja großer Ent-
0034behrungen; er mußte sich auf seinem verschuldeten Gut
0035Tentendorf mit einem bescheidenen Wohnhäuschen begnügen,
0036das gegenwärtig die Wohnung des Dorfschulmeisters ist. Hier
0037wurde am 26. April 1812 Friedrich v. Flotow geboren.
0038Wie fruchtbar war diese Zeit im Hervorbringen bedeutender
0039Componisten! Das Jahr 1809 brachte Mendelssohn und
0040Chopin; 1810 Schumann und Felicien David;
00411811 Liszt, Ferdinand Hiller und Ambroise Thomas;
00421812 Flotow; 1813 Richard Wagner und Verdi.
0043Diese fünf Jahre lieferten eine reichere musikalische Ernte,
0044als die folgenden fünf Decennien. Das musikalische
0045Talent des kleinen Friedrich zeigte sich bald, fand
0046aber zu Hause keinerlei Anregung oder Unterstützung.
0047Mit 10 Jahren wurde er in die Pension eines Pfarrers in
0048Lübchen geschickt; nach Jahresfrist zeigte es sich, daß er in
0049seinen Berufsstudien gar keine Fortschritte gemacht und nur
0050Clavier gespielt habe. Der Vater nahm den Knaben sofort
0051nach Hause und schickte ihn in eine andere Pension in
0052Lüderhagen bei Güstrow. Auf Andringen der Mutter, welche
0053den Musikunterricht doch nicht vernachlässigt sehen wollte,
0054ward festgesetzt, daß Friedrich wöchentlich einmal nach Güstrow
0055gebracht werden sollte, um bei dem Organisten Thiem Unter-
0056richt in der Harmonielehre zu nehmen. So kam er denn
0057jeden Samstag Morgens nach Güstrow und verbrachte den
0058Tag wie den darauffolgenden Sonntag im Hause seiner
0059Tante, der Schwester seiner Mutter. „Tante Gabillon!“
0060Der Name klingt den Wienern lieb und vertraut ins Ohr.
0061Sie haben es nun Schwarz auf Weiß, daß es in Mecklen-
0062burg wirklich echte Gabillons gibt, so oft auch unserem
0063Ludwig Gabillon von neckenden Burgtheater-Collegen die
0064Echtfärbigkeit seines Namens angefochten wurde. Onkel Ga-
0065billon war der Sohn eines französischen Tanzlehrers, der
0066sich in Mecklenburg angesiedelt hatte. Er versah das Amt
0067eines Steuersecretärs in Güstrow, schwärmte für Musik
0068und dirigirte den Gesangverein des Städtchens. Auf die
0069musikalische Entwicklung seines Neffen hat er jedenfalls
0070fördernden Einfluß genommen. Uebrigens wurde Friedrich,
0071der schon im Stillen zu componiren anfing, von der Musik
0072grundsätzlich ferngehalten. Der Vater, welchem die Musik
0073höchstens als angenehmer Zeitvertreib galt, hoffte ihn zu
0074einem tüchtigen Verwaltungs-Beamten auszubilden, mit der
0075Aussicht auf einen Diplomatenposten. Wie erschrak er, als
0076Friedrich mit der dringenden Bitte an ihn herantrat, sich
0077ganz der Musik widmen zu dürfen! Da gab es erst heftiges
0078Widerstreben, dann langes Ueberlegen. Erst nachdem viele
0079Fürsprecher, Onkel Gabillon an der Spitze, die Sache warm
0080unterstützten, nachdem schließlich auch der berühmte Clarinettist
0081Ivan Müller sich über Friedrich’s Talent sehr günstig aus-
0082gesprochen hatte, entschloß sich Papa Flotow, einzuwilligen.
0083Unaufgeklärt und jedenfalls merkwürdig ist der Entschluß des
0084alten Flotow, seinen Sohn sofort in Paris studiren zu
0085lassen. Man kennt kaum ein zweites Beispiel, daß ein an-
0086gehender deutscher Compositions-Schüler mit Uebergehung
0087jeder deutschen Musikschule zur Ausbildung unmittelbar nach
0088Paris geschickt worden ist. Und Paris war damals von
0089Mecklenburg schwerer zu erreichen als heute Newyork! Eine
0090Art Divination muß dem sonst ganz unmusikalischen Papa
0091dieses Stichwort eingegeben haben. Weder war er im Stande,
0092die musikalische Richtung seines Sohnes zu beurtheilen, noch
0093lag diese in einigen unreifen Versuchen überhaupt erkennbar
0094zu Tage. Aber gewiß, der junge Flotow gehörte nach Paris.
0095Nicht als ob Frankreich ihm große Erfolge bereitet hätte —
0096diese kamen ihm erst in Deutschland — aber Paris brachte
0097eben jene Keime seines Talents zur Blüthe, durch welche
0098Flotow später Deutschland bezaubert hat: Eleganz, leichter
0099Esprit, formelle Abrundung und über dem Allen der Sinn
0100für das theatralisch Wirksame.
0101Der alte Herr fährt selbst mit dem 16jährigen Sohne
0102nach Paris und quartiert ihn bei einem pensionirten französi-
0103schen Major ein, der eine Mecklenburgerin geheiratet hatte.
0104Die besten Meister werden gewählt: Peter Pixis für das
0105Clavierspiel, Reicha für die Composition. Der junge Flotow
0106arbeitet fleißig und componirt Allerlei. Er scheint sich schon
0107damals in die Rolle eines gefeierten Operncomponisten hinein-
0108geträumt zu haben, denn vor der Première von Rossini’s
0109„Tell“ schreibt er der Mutter: „Ich bin recht neugierig,
0110einmal so eine erste Vorstellung zu sehen, möchte auch gerne
0111wissen, wie sich bei solchen Gelegenheiten der Componist be-
0112nimmt.“ Er hatte noch hübsch lange zu warten, bevor die
0113Reihe an ihn kam! Plötzlich fiel ein schreckliches Ereigniß [3]
0114verstörend in sein ruhiges Leben. Man fand eines Morgens
0115den alten Major mit durchschnittenem Halse in seinem Bette.
0116Die Familie stob auseinander, und Niemand kümmerte sich
0117mehr um den jungen Fremden, der nun seine beste Stütze,
0118seinen einzigen Rathgeber verloren hatte. Flotow miethete
0119ein billiges Dachstübchen und bestritt mit monatlichen
0120200 Francs seine sämmtlichen Bedürfnisse. Eigentliche
0121Armuth hat er nie gekannt, wol aber mußte er sich in
0122Paris sehr knapp behelfen und die scharfsinnigsten Combina-
0123tionen ausdenken, um auf die billigste Art die erste Heim-
0124reise zu bestreiten. Das ist immer eine werthvolle Vorschule
0125für’s Leben; sie hat Flotow in seinen guten Zeiten da-
0126vor bewahrt, die großthuerische Seite des „Cavaliers“ her-
0127vorzukehren. Unmittelbar nach der Juli-Revolution 1830
0128fand es Papa Flotow dringend, den Sohn nach 2½ jähriger
0129Abwesenheit zurückzuberufen. Da konnte dieser in Güstrow
0130die ersten patriotischen Localtriumphe als Pianist und Com-
0131positeur feiern. Im Mai 1831 kehrt Flotow nach Paris
0132zurück. Er erfreut sich bald des Umgangs mit den berühm-
0133testen Componisten und erlangt Zutritt in die vornehmsten
0134Salons. Es war ein Leben voll geistreicher geselliger An-
0135regung, eine hohe Schule weltmännischen Benehmens, aber
0136auch ein Quell künstlerischer Zersplitterung. Für die Lieb-
0137haber-Theater jener aristokratischen Kreise hat Flotow eine
0138Anzahl kleiner Opern und Gelegenheitsstücke componirt,
0139welche ihm die Zeit für Größeres raubten und unfruchtbar
0140blieben für seine Laufbahn. Von Wichtigkeit wurde
0141ihm die nähere Bekanntschaft mit dem Componisten
0142Albert Grisar und zwei renommirten Textdichtern,
0143St. Georges und de Leuven. Letzterer war in
0144Wirklichkeit ein Graf Ribbing, Sohn jenes schwedi-
0145schen Grafen Adolph Ribbing, der in der Verschwörung
0146Ankarström’s gegen Gustav III. verwickelt gewesen. Graf
0147Ribbing war zum Tode verurtheilt, wurde aber begnadigt
0148und aus Schweden verbannt. Er zog nach Paris, wo sein
0149Sohn unter dem Namen de Leuven einer der angesehensten
0150Theater-Schriftsteller wurde. Die erwähnten vornehmen
0151Privataufführungen machten den Namen Flotow allmälig
0152in Paris bekannt; man wurde aufmerksam auf sein Talent.
0153Dennoch blieben die Opernbühnen ihm noch immer ver-
0154schlossen. Seine Bemühungen, von dem Director der Komi-
0155schen Oper, Crosnier, auch nur ein bescheidenes einactiges
0156Libretto zu erhalten, blieben vergeblich. Dieser Director ließ
0157Flotow niemals vor, so oft dieser ihn auch im Theater oder
0158zu Hause aufsuchte. Der Diener hatte den strengsten Auftrag,
0159„den deutschen Monsieur“ jederzeit abzuweisen. Wie half sich
0160der deutsche Monsieur? Er verband sich mit Grisar, dessen
0161Ruf schon begründet war, zu gemeinschaftlicher Arbeit, unter
0162der Bedingung, daß die ersten Opern nur unter Grisar’s
0163Namen gegeben werden sollten. So kam im Jahre 1838
0164im Théâtre de la Renaissance eine dreiactige Oper, „Lady
0165Melvil“, und im nächsten Jahr eine zweite, „L’eau
0166merveilleuse“, mit großem Erfolg zur Aufführung. Daß
0167diese beiden nur Grisar zugeschriebenen Opern zur größeren
0168Hälfte von Flotow sind, ist bisher nicht bekannt ge-
0169wesen. Mit einigem Stolz meldet er seinem Vater, daß er
0170in Folge dieser Arbeiten nahe an 8000 Francs verdient habe.
0171Von einer dreiactigen Oper: „Der Schiffbruch der
0172Medusa“, waren die zwei besten Acte Flotow’s Werk,
0173dessen Namen, wenn auch zum erstenmal, auf dem Theater-
0174zettel der „Renaissance“ erschien. Das war also sein erster
0175wirklicher Erfolg in Paris (1839) — freilich auf einer
0176Bühne zweiten Rangs und getheilt mit einem andern Mit-
0177arbeiter (Pilati). An der Möglichkeit, eine noch so kleine
0178Arbeit an der Großen Oper anzubringen, hatte er bereits
0179verzweifelt. Da läßt ihn eines Tages Saint-Georges
0180zu sich bitten. „Wollen Sie einen Ballet-Act für die Große
0181Oper componiren?“ — „Ob ich will? Mit tausend Freuden!“
0182— „Nun denn: das Ballet hat drei Acte, die Arbeit drängt,
0183für zwei Acte hat der Director bereits zwei Componisten ge-
0184wählt; als den dritten habe ich Sie vorgeschlagen. Aber Sie
0185müssen sich verpflichten, in vier Wochen fertig zu sein.“
0186Flotow eilte mit dem ersten Acte überglücklich nach Hause
0187und lieferte die Partitur pünktlich ab. Dieser eine Act wurde
0188für Flotow’s Zukunft von entscheidender Wichtigkeit; das
0189von Saint-Georges bearbeitete Ballet war nämlich „Lady
0190Harriett“, dasselbe Sujet, das Flotow später für seine
0191„Martha“ benützte. Nichts Anziehenderes, als die scheinbar
0192zusammenhanglose Kette von Zufällen zu verfolgen, an
0193welcher ein Autor zum ersehnten Ziele gelangt. Flotow hatte
0194für eine von der Fürstin Czartoryska veranstaltete Wohl-
0195thätigkeits-Vorstellung eine kleine Oper: „Le Duc de Guise“,
0196geschrieben. Unter den Choristen befand sich auch ein Hamburger,
0197Namens F. W. Riese, mit dem sich Flotow über Opern-
0198texte unterhielt. Dieser Riese schrieb ihm (unter dem
0199Pseudonym Friedrich) das Libretto zur Oper „Stradella“
0200und dann zur „Martha“ — die beiden besten Opernbücher
0201Flotow’s und eigentlichen Pfeiler seines Ruhmes. Durch die
0202Vermittlung dieses poetisirenden Hamburgers gelangte die
0203Oper „Stradella“ zur ersten Aufführung in Hamburg
0204(1844) und errang einen beispiellosen Erfolg. Bald er-
0205probte Stradella seine banditenbezähmende Hymne auf allen
0206deutschen Bühnen. In Wien zuerst im Wiedener Theater,
0207im selben Jahre noch im Kärntnerthor-Theater. Unverzüglich
0208bestellte die entzückte Hofopern-Direction eine neue Oper bei
0209Flotow. Das war die „Martha“. Ihre Première
0210(25. November 1847) mit der Zerr und Therese Schwarz,
0211Erl und Karl Formes bildete den Ausgangspunkt einer
0212bereits durch 45 Jahre rüstig fortlaufenden Kette von
0213Martha-Erfolgen in allen Sprachen, in allen Ländern dies-
0214seits und jenseits des Weltmeeres.
0215Mit keiner seiner nachfolgenden Opern vermochte
0216Flotow die Wirkung Stradella’s und Martha’s auch nur
0217annähernd zu erreichen. Seine Erfindung nimmt zusehends
0218ab, seine Manier versteinert sich. Relativ am frischesten
0219zeigt ihn noch die Oper „Indra“ (Wien 1852). Da
0220findet sich doch neben der fadesten Behandlung des Pathe-
0221tischen und Sentimentalen — jederzeit die schwache Seite
0222Flotow’s — ein ungemein farbenfrisches Bild des heiteren
0223Nachtlebens in Lissabon. Wo er alle die originellen National-
0224Melodien her habe? „Von einem alten spanischen Sprach-
0225lehrer in Berlin,“ antwortete mir Flotow, „einem drolligen
0226Kauz, der sich Abends zur Guitarre manchmal in musika-
0227lischen Heimats-Erinnerungen erging. Ich ließ mir den
0228Mann mit seiner Guitarre ein paarmal kommen, tractirte
0229ihn reichlich mit Chocolade, und er sang mir seine Volkslieder
0230vor, von denen ich einige gut brauchen konnte.“ Jeder von
0231Flotow’s Briefen spricht mit ungeheuchelter Bescheidenheit
0232von den unverdient großen Erfolgen, die er „dem Wohl-
0233wollen des nachsichtigen Wiener Publicums“ verdanke. Zeit-
0234lebens hing er mit zärtlicher Dankbarkeit an Wien. Aber
0235auch Wien wurde nicht müde, den Componisten der
0236„Martha“ zu immer neuen Schöpfungen aufzumuntern.
0237Anstatt jedoch aus frischem Holz zu schneiden, Neues zu
0238schaffen, begann Flotow, vielleicht im Gefühle abnehmender
0239Kraft, allerhand alte Stücke umzuformen, zu leimen, zu [4]
0240poliren. Schon für die „Indra“ hatte theilweise seine ältere
0241Oper „L’esclave de Camoëns“ herhalten müssen. Dann
0242entstanden aus dem „Naufrage de la Méduse“ „Die
0243Matrosen“, welche bei der Wiener Aufführung rettungs-
0244los untergingen. Ein gleiches Schicksal erreichte die Oper
0245„Der Förster“, eine deutsche Ueberarbeitung von Flotow’s
0246„L’âmo en peine“. Hierauf kam noch 1856 eine neue
0247deutsche Original-Oper „Albin“, eine Tiroler Dorfgeschichte
0248mit großartig, poetischen Müllerburschen, sentimentalen
0249Bäuerinnen und nach Patschouli duftenden Tannenwäldern.
0250Trotz der allgemeinen Sympathien für Flotow und seinen
0251Textdichter Mosenthal blieb das enttäuschte Publicum
0252schon nach wenigen Reprisen aus. Dieser Mißerfolg hat
0253den Componisten, wie seine Biographin erzählt, sein ganzes
0254Leben lang schmerzlich bedrückt, und noch kurz vor seinem Tode
0255„schuf er Pläne zur Rehabilitirung“ dieses zum „Müller von
0256Meran“ umgetauften Albin. Flotow hielt die größten
0257Stücke gerade auf dieses schwache Werk — ein neuer Be-
0258weis, wie sehr ein Autor über den Werth seiner eigenen
0259Sachen sich täuschen kann. In Wien gelangten noch zwei
0260spätere, aus dem Französischen übertragene Opern von
0261Flotow zur Aufführung, aber nicht im Hofoperntheater, wo
0262man etwas mißtrauisch geworden war, sondern (mit der
0263Geistinger und Albin Swoboda) im Wiedener Theater.
0264„Zilda“, 1867, ein orientalisches Märchen vom weisen
0265Khalifen und vom bestraften nichtsnutzigen Kadi, und eine
0266romantische Oper „Sein Schatten“ (l’ombre), 1871,
0267deren Romantik darin besteht, daß es sich abwechselnd um
0268bereits erschossene und noch zu erschießende Officiere handelt.
0269So wurde denn jede spätere Oper von Flotow immer etwas
0270schmächtiger und blässer als die früheren, bis schließlich
0271von dem berühmten Componisten der „Martha“ nichts
0272übrig blieb, als — „sein Schatten“. Damit ist jedoch
0273der Kreis von Flotow’s Opern-Compositionen noch
0274lange nicht geschlossen. Unsere Biographie nennt noch
0275eine erkleckliche Anzahl von Opern aus Flotow’s letzter
0276Zeit, welche auf ein bis zwei deutschen Bühnen rasch
0277verpufft sind, ohne überhaupt nach Wien zu gelangen: „Die
0278Großfürstin“, „Rübezahl“, „Johann Albrecht“, „Naïda“,
0279„Am Runenstein“, „Die Blume von Harlem“, „Das Burg-
0280fräulein“; dann die Ballette: „Libelle“, „Der Tannkönig“ und
0281„Die Gruppe der Thetis“. Zwei Opern: „Die Musikanten“
0282und „Sacuntala“, scheinen überhaupt noch nicht aufgeführt
0283zu sein. Man erkennt aus diesem Verzeichniß den unermüd-
0284lichen Schaffensdrang Flotow’s; die Arbeit war ihm Bedürfniß.
0285Von Flotow’s späteren Lebensschicksalen haben wir noch
0286nachzuholen, daß er nach dem Tode seines Vaters längere
0287Zeit in eifriger landwirthschaftlicher Thätigkeit auf seinen
0288mecklenburgischen Gütern verweilte. Als ihn da das Unglück
0289traf, seine junge Frau und sein Kind zwei Jahre nach der
0290Hochzeit zu verlieren, verkaufte er die Ländereien bis auf
0291das Erbgut, Teutendorf, mit welchem später sein Sohn Wil-
0292helm belehnt wurde, und zog nach Wien. In Ober-Sievering,
0293am Abhange des Kahlenberges, erwarb er einen kleinen
0294Besitz, wo er mit seiner zweiten Frau, Anna Theen, sich
0295ein gemüthlich stilles Heim einrichtete. Hier erreichte ihn der
0296Ruf seines Landesherrn, die oberste Leitung des Schweriner
0297Hoftheaters zu übernehmen. Ganz abgesehen davon, daß der
0298Großherzog einen mecklenburgischen Cavalier an der Spitze
0299seines Hoftheaters sehen wollte, war die Wahl sehr ein-
0300leuchtend, denn Flotow hatte sich in Paris eine vollkommene
0301Kenntniß des gesammten Theaterwesens angeeignet und
0302galt für einen ausgezeichneten Regisseur. „Ausgerüstet
0303mit großer Gewalt und kleinem Gehalt“, hat Flotow
0304in seiner neuen Stellung nach Kräften Gutes gewirkt, ins-
0305besondere durch die Acquisition des (heute noch thätigen)
0306Hofcapellmeisters Alois Schmitt die Schweriner Musik-
0307zustände zu bedeutender Höhe gehoben. Sieben Jahre lang
0308widmete er sich dieser Amtsführung, die er „einen sieben-
0309jährigen Krieg“ nannte. Schließlich ward ihm die Stellung
0310durch kleinliche Intriguen und Angriffe verleidet, und er
0311nahm 1863 seinen Abschied. Daß Flotow’s ehrlich liberale,
0312künstlerische Gesinnung sich am Schweriner Hofe wirklich
0313nicht heimisch fühlen konnte, mag folgendes Beispiel beweisen:
0314Flotow hatte auf besondere Bitte beim Großherzog die Er-
0315laubniß erwirkt, daß bei Hofconcerten die mitwirkenden
0316Künstler und Künstlerinnen am Souper an einer der kleinen
0317Tafeln theilnehmen dürfen, welchen er selbst als Intendant
0318präsidiren wollte. Doch der Hofmarschall fand diese Con-
0319cession so unerhört, daß er auf eigene Faust einige Minuten
0320vor Beginn des Soupers die für die Künstler bestimmte
0321Tafel abdecken ließ und „diese Leute“ heimschickte. Im Jahre
03221868 schritt Flotow zur dritten Ehe (mit der Verfasserin
0323der Biographie) und lebte die nächsten fünf Jahre auf der
0324seiner Gattin gehörigen Besitzung in Hirschwang bei
0325Reichenau, wo zahlreiche Gäste aus der Wiener Kunstwelt
0326sich gern einfanden. Die Besitzung überging später in das
0327Eigenthum des Baron Victor Erlanger, und Flotow ließ
0328sich für den Rest seines Lebens in Darmstadt nieder. Von
0329dort kam er noch einmal, im April 1882, nach Wien, um im
0330Hofoperntheater der fünfhundertsten Vorstellung seiner
0331„Martha“ als Ehrengast beizuwohnen. Es war dies zugleich
0332die schönste Feier seines siebzigsten Geburtstages. Einige Monate
0333später hatte ihn ein Schlagfluß weggerafft. Der Himmel,
0334der sich ihm meistens gnädig erwiesen, hat dem thätigen
0335Manne die Qualen langer Krankheit erspart. Auch konnte
0336er mit dem Glücksgefühle scheiden, seinen Ruhm und seinen
0337Zusammenhang mit dem Publicum nicht überlebt zu haben.
0338Sind auch die Werke seiner späteren Periode rasch ver-
0339schollen, Stradella und Martha führen — Ersterer
0340mindestens in Deutschland, Letztere in der ganzen Welt —
0341heute noch ihr fröhliches Dasein fort. Die Verbreitung und
0342Beliebtheit der „Martha“ ist in der Geschichte der deutschen
0343komischen Oper ohne Beispiel. Der letzte große Erfolg dieses
0344Genres, „Der Trompeter von Säckingen“, reicht nicht ent-
0345fernt daran; seine Töne sind nie über die Grenzen Deutsch-
0346lands gedrungen, und auch hier beginnen sie jetzt — schon
0347nach zehn Jahren! — bedenklich einzufrieren, ohne viel
0348Aussicht, je wieder in ihrer alten münchhausischen Stärke
0349aufzuthauen. Eine so außerordentliche und anhaltende Popu-
0350larität wie die der „Martha“ ist niemals ohne zureichenden
0351Grund, und dies muß, bei allem sonstigen Vorbehalt, auch
0352der Kritiker anerkennen, der jetzt ihren trostlos abgenützten
0353Melodien lieber aus dem Wege geht.
0354Der persönliche Charakter Flotow’s erscheint in der
0355Biographie brav und liebenswürdig, wie wir ihn auch im
0356Umgange stets gefunden haben. Er war nicht blos vornehm
0357in der Erscheinung, sondern auch in der Gesinnung. In
0358seinen Briefen und Tagebuchblättern findet sich nicht die ge-
0359ringste mißgünstige oder geringschätzende Aeußerung über
0360einen seiner Collegen. Diese Tugend stammt gewiß zur
0361Hälfte aus natürlichem Wohlwollen, zur anderen Hälfte ver-
0362dankt er sie Paris. Französische Componisten und Schrift-
0363steller pflegen niemals über ihre Collegen wegwerfend zu
0364sprechen. In Deutschland scheint das Gegentheil beliebter zu sein.