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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 10100. Wien, Donnerstag, den 6. October 1892

[1]

Hofoperntheater.

(„Gringoire“, Oper in einem Act von Ignaz Brüll. „Die Sirenen-Insel“, Ballet von R. Mader.)


0003Ed. H. In Brüll’s „Goldenem Kreuz“ besitzen wir
0004eines jener angenehmen Singspiele, welche im Geist der
0005älteren Opéra comique das Rührende mit dem Heiteren so
0006glücklich zu verschmelzen wußten. Spielopern dieser Gattung,
0007in welchen entweder das sentimentale oder das komische Element
0008überwog, wurden ehedem viel häufiger componirt als heute;
0009ja sie bildeten recht eigentlich die Erholungs- und Lieblings-
0010stücke des deutschen Publicums. Was Deutschland seit Lortzing’s
0011Tod in diesem Fach hervorgebracht hat, ist recht gering an
0012Zahl und Erfolgen; Brüll’s „Goldenes Kreuz“ glänzt sichtbar
0013aus dieser Schaar heraus. Nahezu 20 Jahre alt, herrscht
0014diese Oper noch zur Stunde auf allen deutschen Bühnen;
0015sie scheint sogar den jüngeren „Trompeter von Säckingen“
0016überleben zu wollen, der, anfangs weit stürmischer bejubelt,
0017doch bereits ein seltenerer Gast geworden ist in unserem Re-
0018pertoire. Jetzt sehen wir den Erfolg des „Goldenen Kreuzes“
0019in einem neuen Werke Brüll’s wieder aufleben. Seine ein-
0020actige Oper „Gringoire“ ist in München, Leipzig, Stuttgart 
0021und soeben auch in Wien siegreich durchgedrungen. Wir
0022freuen uns dieses Erfolges einmal um des Componisten
0023willen, der zu den geachtetsten und beliebtesten Tonkünstlern
0024Wiens zählt, sodann wegen des Werkes selbst, das durch die
0025immer seltener werdende Eigenschaft melodiöser Anmuth zu
0026wirken sucht. Diese Wirkung wird glücklich unterstützt durch
0027das Interesse des Publicums an der Handlung im „Grin-
0028goire“. Das Gleiche war der Fall bei dem „Goldenen Kreuz“,
0029für welches Mosenthal’s gutes Libretto noch reichlicher vor-
0030gesorgt hatte. Beide Textbücher sind französischen Theater-
0031stücken von erprobter Wirkung nachgebildet. Aber „Gringoire“
0032bietet dem Componisten keine so bewegte, spannende Hand-
0033lung, keine so glücklich contrastirende Figuren, wie das „Gol-
0034dene Kreuz“. Eigenartig und fesselnd ist im „Gringoire“ eine
0035einzige Person, der Titelheld selbst; nur er und sein Schick-
0036sal interessiren uns. Gringoire ist bekanntlich eine historische
0037Person von scharfer literarischer Prägung. Er hat als
0038poetischer Abenteurer ganz Europa durchzogen und sich dann 
0039in Paris an die Spitze einer Carnevals-Gesellschaft, der
0040„Enfants sans soucy“, gestellt, welche ein Privilegium zur
0041Aufführung von Possen besaß. Er schrieb eine Menge alle-
0042gorischer und politischer Festspiele, darunter im Fasching
00431511 eine Posse „Jeu et sottie du Prince des Sotz“, die
0044gegen den Papst Julius II. gerichtet war und an welcher
0045Ludwig XII. mitgearbeitet haben soll. Nach dem Tode dieses
0046Königs zog Gringoire nach Lothringen und dichtete nur
0047mehr im Dienste der Kirche. Von diesem historischen Grin-
0048goire hat der Titelheld Banville’s und Brüll’s nicht viel
0049mehr als den Namen. Jener ist weder Bettler noch Straßen-
0050sänger gewesen und war im Jahre 1469, welches das Text-
0051buch als Zeit der Handlung angibt, noch gar nicht geboren.
0052Für Werth und Wirkung des Theaterstückes ist das glück-
0053licherweise sehr gleichgiltig. Herr Victor Leon hat das
0054Opernlibretto in getreuer Anlehnung an Banville’s Schau-
0055spiel gewandt und mit musikalischem Verständniß bearbeitet.


0056Die Oper wird gleich durch das Hauptthema der
0057Ouvertüre sehr glücklich eingeleitet — ein hübsches, fein
0058instrumentirtes Marschthema, das uns in die richtige behag-
0059liche Lustspielstimmung versetzt. Nach dieser Ouvertüre haben
0060wir uns von dem Folgenden zwar keine goldenen Berge,
0061aber doch ein Goldenes Kreuzlein versprochen. Diese Hoff-
0062nung ward uns nur in Einzelheiten erfüllt. Als Ganzes
0063erscheint uns Gringoire trotz unleugbarer technischer Fort-
0064schritte doch innerlich ärmer als das „Goldene Kreuz“. Die
0065melodiöse Erfindung fließt nicht so frisch und ergiebig; der
0066dramatische Ausdruck bleibt nicht so natürlich und einheitlich
0067im Verlaufe der Handlung. Das liegt zum Theil am
0068Stoff. Als durchaus gesungene Oper muß Gringoire auf
0069die feinsten, geistreichsten Wendungen von Banville’s Dialog
0070verzichten und die Handlung allzu breit ins Lyrische hinüber-
0071ziehen. Alles, was dem Auftreten Gringoire’s vorangeht,
0072ist sehr weit ausgesponnen, und doch beginnt erst mit diesem
0073Moment das Interesse an der Handlung. In nicht weniger
0074als drei Liedern erklärt uns Loyse, warum sie nicht heiraten
0075mag! Das erste, mit dem Refrain „Der Rechte!“, bewegt
0076sich mit schalkhafter Anmuth, ganz im Ton der Komischen
0077Oper. Dieser Ton ist schon etwas affectirt hinaufgestimmt
0078in dem zweiten Liede (F-moll), worin Loyse von ihrem
0079Freiheitsdrang singt, an dessen „loderndes Feuer“ wir trotz-
0080dem nicht glauben können. Nach ihrem dritten Manifest des 
0081Ledigbleibens („Mir ist, als liebt’ ich einen Mann“), einem
0082Strophenlied wieder in Moll, macht Papa Simon die bedenk-
0083liche Aeußerung: „Nun reißt mir wirklich die Geduld!“
0084Auch König Ludwig sorgt nicht sonderlich für unsere musi-
0085kalische Unterhaltung, indem er sich mit einem jener ge-
0086müthlich salbungsvollen Ariosos einführt, welche seit dem
0087Landgrafen Hermann zu den landesväterlichen Attributen in
0088der Oper gehören. Endlich wird Gringoire hereingezerrt.
0089Sein Auftreten, der erste Dialog, auch die Ballade vom
0090„Garten der Gehenkten“ haben charakteristische Färbung und
0091musikalischen Fluß. Aber langweilig wird Gringoire, wenn
0092er in visionärer Verzückung, fast à la Lohengrin den Anblick
0093der schönen Loyse schildert; solche Exaltation des Gesanges
0094wie der Instrumentirung überschreitet den bescheidenen
0095Rahmen dieses Stückes. Die folgende große Scene zwischen
0096Gringoire und Loyse bildet im Schauspiel wie in der Oper
0097den dramatischen Höhepunkt, dem das ganze Interesse
0098des Publicums zustrebt. Eine schwere Aufgabe für
0099den Componisten, der hier gleichsam mit zwei bis
0100drei breiten Pinselstrichen fertigbringen muß, was der
0101rasch bewegliche, gesprochene Dialog durch zahllose feine Züge
0102so überzeugend erreicht. Brüll’s Musik hat die erste Hälfte
0103dieser Werbungsscene glücklich illustrirt; die zweite Hälfte,
0104etwa von den Worten „O der Poet!“, versteigt sich in ein
0105phrasenhaftes Opernpathos, das in dem Duettsatz „Erbarmet
0106euch der Armen, Kranken“ gipfelt. Für diese wichtigste Scene
0107hätten wir bedeutendere musikalische Motive erwartet. Im
0108Ganzen ist Brüll’s „Gringoire“ ein liebenswürdiges Werk,
0109das durchwegs den feinfühligen erfahrenen Musiker verräth.
0110Ueberall erfreut uns der reine, harmonische Satz, die gute
0111Führung der Singstimme, die correcte Declamation, vor
0112Allem die klangvolle, vornehme Instrumentirung. Häßliches
0113begegnet uns nirgends, Gewöhnliches häufig. Ausschreitungen
0114eines unbändigen Temperaments und einer kecken Origina-
0115lität haben wir bei Brüll nicht zu fürchten; wenn er ja
0116etwas übertreibt, so sind es die bürgerlichen Tugenden. Im
0117französischen Original sagt Gringoire zum König: „Voyez
0118vous, Sire, le bon sens n’est pas mon fort; je n’ai que
0119du génie.“ Der Gringoire Brüll’s dürfte den Satz richtiger
0120umkehren.


0121Gringoire“ ist eine eminent praktische Oper, und schon
0122aus diesem Gesichtspunkte überall begehrt und willkommen. [2]
0123Sie enthält eine sehr effectvolle Rolle, wenn auch nur Eine.
0124Von einem talentvollen Künstler verkörpert, muß dieser Grin-
0125goire wirken; er hat in der Darstellung des Herrn Ritter 
0126in hohem Grade interessirt, gerührt, gepackt. Eine gesanglich
0127wie schauspielerisch hervorragende Leistung. Die Rolle würde
0128noch gewinnen, wenn Herr Ritter die übermäßige Unruhe,
0129das nervöse Zittern und Zappeln etwas mäßigte. Auch ließ
0130seine Maske ihn zu alt erscheinen. „Er ist ja noch ein Kind,“
0131heißt es von Gringoire im Textbuch, und das Personen-
0132verzeichniß gibt ihm ausdrücklich zwanzig Jahre. Gringoire 
0133muß durch seine Jugend Eindruck machen und braucht auch
0134nicht auszusehen wie ein Galeerensträfling. Neben Herrn Ritter 
0135hat Frau Ehrenstein (Loyse) die einzige umfangreiche
0136Rolle und den meisten Erfolg. Sehr gut in Spiel und Ge-
0137sang legt sie auch den richtigen Nachdruck auf den schwär-
0138merisch idealen Zug im Charakter der Loyse. Die zweite
0139Frauenrolle, Madame Nicole, ist ganz unbedeutend; Frau
0140Warnegg spielte sie ebenso sorgfältig, wie Herr Mayer-
0141hofer
den nicht viel wichtigeren Papa Fourniez. Herrn
0142Mayerhofer’s Erscheinen war uns um so willkommener, als
0143wir diesen Künstler seit längerer Zeit auf dem Theaterzettel
0144vermißt haben. Mit ungesuchter Vornehmheit spielt Herr
0145Neidl den König; ihm wurde nach dem Vortrage seines
0146Andantesatzes der erste Applaus dieses Abends. Eine
0147Nebenrolle, ebenso undankbar wie unangenehm, ist die des
0148Barbiers Olivier. Wahrscheinlich geschah es aus Freund-
0149schaft für den Componisten, daß Herr Müller, unser
0150Florestan, Tamino, Raoul, diese klägliche Partie übernahm.
0151Leider haben Dichter und Componist es gänzlich unterlassen,
0152dem boshaften Barbier einen Stich ins Komische zu geben.
0153Leicht carikirt, würde diese Rolle erträglicher wirken, und
0154für das Stück wäre eine erheiternde Nebenfigur überaus er-
0155sprießlich gewesen. Wir hätten eher an Herrn Schitten-
0156helm
gedacht; von Herrn Müller dargestellt, wird der
0157intrignante Barbier sofort zur heroischen Figur, eine Art
0158Tenor-Pizarro. Ueber die glänzende Aufnahme der von
0159Director Jahn persönlich dirigirten Oper haben wir bereits
0160in Kürze berichtet. Der Abend des 4. October wird Herrn Brüll 
0161und seinen Sängern gewiß in angenehmer Erinnerung bleiben.


0162Weniger glücklich endigte dieser Abend mit einer zweiten
0163Novität: dem einactigen Ballet „Die Sirenen-Insel“.
0164Der Titel und die drei Sirenen im Personenverzeichniß 
0165deuten unzweifelhaft auf einen griechisch-mythologischen Stoff.
0166Und doch lesen wir: „Zeit der Handlung: die Gegen-
0167wart
.“ Der Widerspruch löst sich dadurch, daß die lebens-
0168gefährlichen Sängerinnen, welche auf der Insel den Schiffs-
0169lieutenant Armand berücken, keine wirklichen, sondern nur
0170geträumte Sirenen sind! Eine volle Stunde lang sehen wir zu,
0171wie diese Sirenen den armen Schiffslieutenant mit Rosenketten
0172umschlingen und seine Mannschaft zu Tode tanzen — da
0173eröffnet uns das Textbuch: Armand habe die Nacht über
0174auf einer Bank geschlafen und das Alles — geträumt.
0175Sehr schön. Wenn nur wir Zuschauer all diese reizenden
0176Dinge leibhaftig sehen und bequem begucken, dann kann es
0177uns sehr gleichgiltig sein, ob der Herr Lieutenant sie
0178nur geträumt habe. Für ihn ist das freilich nicht
0179ein und dasselbe, da die Sirenen ihre Opfer niemals
0180lebendig wieder fortließen. Aber der Sirenengesang,
0181den er so deutlich gehört? Der war kein Traum,
0182sondern ein Lied der jungen Besitzerin der Insel, Helena,
0183welche jetzt, am Morgen nach jener Zaubernacht, dem ent-
0184zückten Schiffslieutenant entgegentritt. Huldigende Begrüßung,
0185Handkuß und ein Veilchenstrauß zum Abschied. Armand 
0186segelt ab. Adieu! Das neue Ballet gibt uns nicht sowol
0187eine Handlung, als ein in bunten Farben erglänzendes Bild.
0188Darin wechseln feurige Tänze und mannigfaltige reizende
0189Costüme wetteifernd um den lauten Beifall. Man bewundert
0190die neue Prima ballerina Fräulein Sironi und die außer-
0191ordentliche Virtuosität ihrer Fußspitzen. Großartig, wie eine
0192egyptische Dichtung, wirkt auch eine „Ibis-Polka“ (!) der
0193Tänzerinnen Pagliero und Rathner. Ein neuer
0194Effect — mehr neu als schön — ist das Vogelballet am
0195Schlusse. Das ganze weibliche Balletcorps steckt in Vogel-
0196masken aller Arten, aller Farben — dem Zuschauer wird
0197grün und gelb vor den Augen. Kleidsam ist so ein Vogel-
0198costüm nicht und — da diese Vögel weder singen noch
0199fliegen können — auch nicht gerade täuschend. Dieses ge-
0200fiederte Durcheinander auf der Bühne wird im Orchester
0201von einer Tanzmusik begleitet, welche in ihrer Wirkung eine
0202gewisse Aehnlichkeit mit dem Sirenengesang in der Odysse 
0203hat. Nach dem Ballet wurden der beliebte Componist Herr
0204Raoul Mader und der Balletmeister Herr Haßreiter 
0205gerufen. Hoffentlich haben Beide in der „Sirenen-Insel“
0206nicht ihr Bestes gegeben.