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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 10142. Wien, Donnerstag, den 17. November 1892

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Concerte.


0002Ed. H. Das war ein recht schlimmes Omen für den
0003Beginn unserer Musiksaison! Das erste Concert, welches
0004den Bösendorfer-Saal zu allem Guten und Schrecklichen
0005dieses Winters einweihen sollte, ward im allerletzten Augen-
0006blicke — abgesagt. Der Pianist Herr Alfred Reisenauer 
0007hatte sich plötzlich den Arm verstaucht und schickte das be-
0008reits versammelte Publicum ohneweiters nach Hause. Die
0009leichte Verletzung des schnell geheilten Künstlers gab keinen
0010Anlaß zu Besorgnissen; zu reiner Freude aber auch nicht,
0011da das Concert ja nur aufgeschoben, nicht aufgehoben war.
0012Herr Reisenauer konnte wenige Tage später die unversehrte
0013Kraft und Geschmeidigkeit seines Armes glänzend darthun.
0014Ein ganz kleines Restchen von Schmerzgefühl wäre ihm
0015übrigens als unwillkürlicher Wärme-Erreger fast zu wünschen
0016gewesen. Herrn Reisenauer’s Spiel hat uns nämlich so kalt
0017gelassen, als er selbst — wenigstens aussieht. In seiner
0018üppigen Leiblichkeit erinnert der noch junge Mann an
0019Alfred Jaëll und Leopold v. Meyer, mit dem Unter-
0020schiede, daß diese beiden fettglänzenden Virtuosen immer
0021ein sehr vergnügtes Gesicht machten. Das paßte zu ihrem
0022Spiele. Herrn Reisenauer’s Antlitz hingegen ist die ver-
0023steinerte Theilnahmslosigkeit und ein Abbild derselben sein
0024Vortrag. Dieser scheint mehr einer bewunderungswürdig
0025arbeitenden Maschine zu entströmen, als lebendiger Phantasie
0026und Empfindung. Die technischen Vorzüge Reisenauer’s
0027rühmend aufzuzählen, erläßt man uns wol. Er ist ja ein
0028Schüler Liszt’s und bereits vielfach gefeierter Virtuose.
0029Man kann Beethoven’s C-dur-Sonate, op. 53, technisch
0030nicht vollendeter spielen, als Herr Reisenauer sie gespielt hat.
0031Aber aus dieser glatt und glänzend abrollenden Production
0032sprach nur die Bravour des Spielers, nicht die Seele des
0033Componisten. Selbst in dem Feurigsten und Lebendigsten,
0034was Reisenauer wiedergab, vermißten wir das echte Feuer
0035und das rechte Leben. Die „Waldstein-Sonate“ ist heute unter
0036allen Beethoven’schen am meisten protegirt von den jüngeren
0037Virtuosen. Wie oft haben wir sie in den letzten Jahren gehört,
0038sturmartig dahinsausend, diamantenglitzernd die Triller und
0039Passagen, der Anschlag ausgemeißelt bis in die kleinste Note.
0040Ja, dieses klangvolle Schönmachen der einzelnen Note, dieses 
0041Ausfeilen der einzelnen Passage, darin sind unsere Virtuosen
0042einzig. Ein minder „vollendeter“, aber verständnißvoll mit-
0043fühlender Vortrag der „Waldstein-Sonate“ selbst von Dilet-
0044tanten ist uns oft lieber gewesen. Mit vier Kleinigkeiten
0045eigener Composition („aus einer Suite in altem Styl“),
0046drei „Bagatellen“ von Beethoven und Mozart’s Rondo
0047alla turca erzielte Herr Reisenauer lebhaften Beifall. Einen
0048geradezu abstoßenden Eindruck machten die (wahrscheinlich von
0049Reisenauer selbst herrührenden) Transscriptionen des „Linden-
0050baumes“ und des Marsches aus dem „Divertissement
0051hongrois“ von Schubert. Jeden musikalisch empfinden-
0052den Menschen, geschweige denn Schubert-Verehrer, mußte
0053es verletzen, die schlichte, herzinnige Melodie des „Linden-
0054baumes“ in so brutaler Weise zu Virtuosenzwecken ver-
0055gewaltigt zu sehen. Der Witz dieser Bearbeitung besteht
0056darin, daß auf und nieder heulende chromatische Scalen bei
0057gehobener Dämpfung einen möglichst naturgetreuen Sturm-
0058wind herstellen, welcher den armen Lindenbaum unbarm-
0059herzig rüttelt und zaust. Auch der „Ungarische Marsch“,
0060von Reisenauer mehr geschlagen als gespielt, erschien in dieser
0061„Transscription“ als ein geschmackloses Zerrbild des schönen
0062Originals. Mit welcher entzückenden ritterlichen Grazie pflegte
0063Liszt das Stück zu spielen!


0064Wenige Tage später trat im Bösendorfer-Saale eine
0065junge Violinspielerin zum erstenmale vor das Publicum:
0066Rosa Hochmann, eine Schülerin Professor Grün’s. Sie
0067ist ein ungewöhnliches Talent und eine echt musikalische
0068Natur. Nicht blos durch ihre kindlich schmächtige Gestalt,
0069ihre ruhige Unbefangenheit und den ernsten Blick ihres
0070dunklen Auges erinnert sie uns an Teresa Milanollo. Die
0071tiefe Empfindung, das rhythmische Gefühl, der süße, reine
0072und bereits kräftige Ton der jungen Geigerin sprechen deut-
0073lich für ihren echten Künstlerberuf, selbst wenn man von
0074eigentlicher Bravour ganz absehen wollte. Fräulein Hoch-
0075mann
überraschte das Publicum in hohem Grade durch
0076ihren virtuosen und geschmackvollen Vortrag des Bruch-
0077schen G-moll-Concertes und mehrerer Bravourstücke von
0078Sarasate, Halir und Wieniawski. Man darf ihr aufrichtig
0079Glück wünschen.


0080Das erste Philharmonische Concert begann
0081mit langanhaltendem Applaus und Bravo-Rufen beim Er-
0082scheinen des Dirigenten Hans Richter. Offenbar eine
0083Gratulation zu seinen jüngsten Erfolgen in Berlin. Nicht 
0084erst seit gestern wissen die Wiener, welch ausgezeichnete
0085Kraft sie an Hans Richter besitzen, und daß ihre Anerken-
0086nung der Ratification des Auslandes nicht bedarf. Allein
0087erfreulich berührt es doch immer, das einheimische Gute auch
0088in der Fremde erkannt und gefeiert zu sehen, und so galt
0089denn unser herzlicher Applaus nicht weniger den Berlinern,
0090als Herrn Richter. Gegen seine Gewohnheit überraschte uns
0091dieser schon im ersten Concerte mit einer Novität. Zwischen
0092Beethoven’s Ouvertüre „Weihe des Hauses“ (d. h. des
0093Josephstädter Theaters 1822) und Schumann’s B-dur-
0094Symphonie hörten wir eine neue Serenade für Streich-
0095orchester und zwei Hörner von Robert Fuchs. Sie ist,
0096nur etwas beschaulicher und tiefer in der Empfin-
0097dung, den drei früheren Serenaden dieses Compo-
0098nisten nahe verwandt und hat einen ebenso großen, auf-
0099richtigen Beifall gefunden. Jeder Satz wurde lebhaft
0100applaudirt, Herr Fuchs wiederholt gerufen. Eine glückliche
0101Bereicherung der neuen G-moll-Serenade ist die Beigabe
0102von zwei Hörnern; ihre bald weich anschmiegenden, bald
0103fröhlich schmetternden Klänge bringen neue schöne Farben in
0104das Ensemble der Geigen und wecken im Componisten
0105manchen geistreichen Einfall. Vortrefflich ist gleich das erste
0106Stück, ein Andante in G-moll, das in seiner weichen elegi-
0107schen Stimmung und vorwiegenden Chromatik ein wenig an
0108Spohr erinnert. Folgt ein anmuthiges Allegretto im Zwei-
0109vierteltacte, das man als Seitenstück zu Schumann’s „Valse
0110noble“ mit „Polka noble“ überschreiben könnte. Noch vor-
0111nehmer in seiner graziösen Melodie und Rhythmik ist der
0112Menuett. Der vorletzte Satz, ein Adagio von edlem und
0113würdigen Inhalt, scheint mir nur etwas allzu red-
0114selig ausgesponnen. Das Finale wirkt weniger durch
0115die Qualität seiner Themen, als durch seine fort-
0116reißende Lebendigkeit. Wer die früheren Orchesterwerke
0117von R. Fuchs, überhaupt dessen musikalische Natur kennt,
0118der wird in dessen neuester Serenade leidenschaftliche Seelen-
0119kämpfe, überhaupt Großes und Gewaltiges nicht erwartet
0120haben. Allein Alles darin zeugt von dem künstlerischen Wal-
0121ten eines feinfühligen, auch der leisesten Berührung mit dem
0122Häßlichen gänzlich abgekehrten Sinnes. Es ist das liebens-
0123würdige Werk eines erfahrenen Meisters, welcher nie der
0124Versuchung folgt, die natürlichen Grenzen seines Talents
0125gewaltsam auszudehnen. Auf die Gefahr hin, als ein Zurück-
0126gebliebener getadelt zu werden, gestehe ich, daß die Fuchs’sche [2]
0127Serenade in ihrer Anspruchslosigkeit mich mehr befriedigte,
0128als zwei kraftgenialische Novitäten von Richard Strauß 
0129und Bruckner, mit welchen das „Erste Gesellschafts-
0130concert
“ uns bekannt gemacht hat.


0131Was Richard Strauß unter dem Titel „Wanderers
0132Sturmlied“ für sechsstimmigen Chor und Orchester com-
0133ponirt hat, ist keineswegs das vollständige Goethe’sche
0134Gedicht, sondern nur das erste Drittheil desselben. Er
0135that wohl daran, sich nicht an das Ganze zu wagen. Ueber
0136dieses haben sich schon manche Leser den Kopf zerbrochen.
0137Es gehört zu den in der Grundstimmung unklarsten, in
0138den Einzelheiten räthselhaftesten, in der syntaktischen Con-
0139struction verzwicktesten Gedichten, die wir von Goethe,
0140zumal dem jungen Goethe, diesem Ideal edler Klarheit und
0141Natürlichkeit, besitzen. Einiges Licht verschafft uns nur
0142der biographische Apparat. „Wanderers Sturmlied“ stammt
0143aus der Zeit, da der dreiundzwanzigjährige Goethe sich mit
0144der Uebersetzung der Oden Pindar’s beschäftigte. Legt man
0145Goethe’s Uebersetzung der fünften Olympischen Ode von
0146Pindar neben „Wanderers Sturmlied“, so wird man in
0147beiden ganz dasselbe Schema (Strophe, Antistrophe und
0148Epodos) finden; daher kommt auch Pindar’s Name im
0149Sturmlied“ vor. Die drei ziemlich lose zusammenhängenden
0150Theile des letzteren sind in Goethe’s Original durch Striche
0151von einander getrennt. Der durchaus pathetische erste Theil
0152reicht vom Anfang bis „Ueber Wasser, über Erde götter-
0153gleich“. (So weit hat R. Strauß das Gedicht componirt.)
0154Der zweite schließt mit den Worten: „Die zu grünen sein
0155nicht harrt“, und enthält den Rückschlag, die Klage darüber,
0156daß der „kleine schwarze Bauer“, der sich auf seinen Glüh-
0157wein freut, muthig nach Hause kehren und der Dichter, „den
0158die Musen und Charitinen“ begleiten, den Muth verlieren
0159soll. Der dritte Theil macht eine humoristische Schwenkung:
0160der Dichter wendet sich an den Regengott statt an den
0161Musengott, denn „aus dem Regengott sei sein Lied gequollen“.
0162Während er im ersten Theil über dem aus Wasser und Erde
0163gemengten Schlamm „göttergleich schwebte“, „watet“ er schließ-
0164lich durch denselben zu seiner Hütte. Wenn man bedenkt, daß
0165die Entstehung des Gedichtes in die „Sturm- und Drang“-
0166Epoche gehört (1771/72), in welcher auch Klinger’s gleich-
0167namiges Stück entstand und sowol Anakreon als Theokrit 
0168als nicht von der Gottheit erfaßt verspottet werden, so er-
0169scheint das Gedicht als eine Verherrlichung des Genius, der 
0170sich am vollkommensten im Sturme bewährt. Goethe 
0171selbst gibt uns auch keine eigentliche Erklärung desselben.
0172Aber ein Brief Goethe’s aus Wetzlar 1772 an Herder 
0173(in Bernays’ „Der junge Goethe“ I, 307) zeigt uns, wie
0174Wanderers Sturmlied“ direct aus Goethe’s Beschäftigung
0175mit Pindar entstand. Eine Stelle des Briefes lautet fast
0176wie eine Paraphrase der letzten Strophe des „Sturmliedes“.


0177Von Richard Strauß’Sturmlied“ mehr ermüdet
0178und betäubt, als erhoben, möchte ich dasselbe den Sympho-
0179nischen Dichtungen dieses Componisten doch noch vorziehen.
0180Das Wohlthätige des Zwanges, daß der Vocalcomponist sich
0181dem Inhalt und der Form einer bestimmten Dichtung an-
0182bequemen muß, bewährt sich in Strauß’Sturmlied“ so-
0183wie auch in dem „150. Psalm“ von Bruckner. Die ab-
0184solute Freiheit der Instrumental-Composition erscheint bei
0185Strauß und Bruckner als ein meisterloses Schweifen der
0186Phantasie, welche, des organischen Zusammenhanges spottend,
0187gern ins Ungemessene verliert. Dem wenigstens ist in
0188der Vocal-Composition ein Zügel angelegt. Im „Sturmlied“
0189behandelt Strauß den Musikstoff plastischer, übersichtlicher
0190als sonst, doch verleitet ihn mitunter der fieberhafte Drang
0191nach Außerordentlichem, der Dichtung Gewalt anzuthun. Das
0192Goethe’sche Poem (in seinem von Strauß componirten Abschnitt)
0193athmet durchaus ein siegesfrohes „göttergleiches“ Bewußtsein
0194des vom Genius Geführten. Bei Strauß glauben wir aber
0195ganze Strecken hindurch die schmerzliche Klage Verzweifelnder
0196zu hören. Gleich der Anfang in düsterem D-moll mit seinen
0197einschneidenden Accorden über grollenden Bassen und Pauken-
0198wirbel! So ungefähr hat Brahms mit richtiger Empfindung
0199den schaurigen „Gesang der Parzen“ eingeleitet. Kein
0200Zweifel, daß dieser Brahms’sche Chor Herrn Strauß 
0201deutlich, bis zum Greifen deutlich, vorschwebte. Leider
0202ist er seinem Vorbild nicht auch in der knappen Umrahmung
0203nachgefolgt; das „Sturmlied“ spielt bei ungleich geringerem
0204Inhalt noch einmal so lang. Es hat im Publicum sehr
0205kühle Aufnahme gefunden. Mehr Beifall erzielte der
0206150. Psalm“ von Anton Bruckner; ihm kam ein
0207doppelter Vortheil zu statten: die Kürze des Werkes und
0208die Anwesenheit des hier persönlich beliebten Componisten.
0209Bruckner’s Muse ist die Ekstase. In einem für festliche Ge-
0210legenheit bestimmten Hallelujah-Chor fühlt sie sich so recht
0211zu Hause. Schade, daß sie in diesem Hause vorwiegend mit
0212materiellen Mitteln wirthschaftet. Der Psalmtext verleitet 
0213allerdings zu einem gewaltigen Aufgebot von Kraft und
0214Klangfülle. Der Anfang ist vortrefflich: ein majestätisches
0215Unisono in C-dur; auch die nächste Ausweichung nach
0216As-dur mit ihren mysteriösen Accordfolgen im „Palestrina-
0217styl“ klingt schön und würdig. Lange jedoch vermag Bruckner 
0218nicht im Gleichgewichte zu bleiben. Er geräth in ein vages,
0219nervöses Moduliren und theilt das Schicksal mancher Schrift-
0220steller, die immer in Superlativen sprechen. Die Stelle
0221„Lobet ihn mit Posaunen“, über dem Orgelpunkt auf G, er-
0222geht sich, im Widerspruch zu dem freudigen Jubel des
0223Textes, in so leidenschaftlich tragischer Aufregung, daß man
0224ohneweiters die Worte des „Dies irae“ unterlegen könnte.
0225Obendrein setzen widerhaarige chromatische Gänge und ein
0226unbarmherziges Hinauftreiben der Singstimmen in die höchste
0227Lage den Chor auf die gefährlichste Probe. Die neue Com-
0228position Bruckner’s entbehrt nicht der äußerlichen Wirkung,
0229ist aber nach ihrem künstlerischen Gehalt mit seinem „Te
0230Deum“ nicht zu vergleichen. Der von Wilhelm Gericke 
0231trefflich geleitete „Singverein“ hat in der Ausführung dieses
0232überaus schwierigen Psalms ein Meisterstück geliefert. Allen
0233voran gab Fräulein Standthartner einen Beweis ihrer
0234musikalischen Bildung und Zuverlässigkeit. Zugleich ein schönes
0235Beispiel bereitwilligen Sinnes, indem sie für eine plötzlich
0236erkrankte Sängerin in letzter Stunde das anstrengende Loreley-
0237Finale von Mendelssohn übernahm. Auf eine starke Wirkung
0238konnte sie wol selbst nicht hoffen in einer Partie, die vor
0239Allem eine große Stimme und leidenschaftlich dramatischen
0240Ausdruck erheischt — zwei Eigenschaften, die Fräulein Standt-
0241hartner bekanntlich abgehen.


0242In dem ganzen Gesellschaftsconcert hat uns eigentlich
0243der Claviervortrag einer fremden Virtuosin, Adele aus
0244der Ohe
, das meiste Vergnügen gemacht. Eine Schülerin
0245Liszt’s, gehört Fräulein aus der Ohe seit sechs Jahren zu
0246den gefeiertsten Pianistinnen in Amerika. Sie spielte Liszt’s
0247Es-dur-Concert mit so schönem Anschlag und brillanter
0248Technik, so zart in der Cantilene, so energisch in den Kraft-
0249stellen, daß das Publicum in lauten Beifall ausbrach und
0250der hier kaum dem Namen nach bekannten Künstlerin
0251ungewöhnliche Ovationen darbrachte. Wir erinnern uns nicht,
0252dieses vielgespielte Concert effectvoller gehört zu haben, auch
0253nicht von Sophie Menter. Adele aus der Ohe ist heute wol
0254die Königin in dem Liszt’schen Amazonenheer.