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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 10162. Wien, Mittwoch, den 7. December 1892

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Concerte.


0002Ed. H. Das zweite Philharmonische Concert 
0003begann mit einer Lustspiel-Ouvertüre von Zdenko Fibich.
0004Noc na Karlštejne. Une nuit à Carlstein“ heißt sie auf
0005dem Titelblatt der Partitur. Nur ja kein deutsches Wort!
0006Man war übrigens so gütig, auf dem Wiener Concertzettel
0007die deutsche Uebersetzung „Eine Nacht auf Karlstein“ zu ge-
0008statten. Und doch trachten die czechischen Componisten haupt-
0009sächlich nach Aufführungen in deutschen Städten. Diese zeigen
0010sich nicht empfindlich und applaudiren mit gastfreundlicher
0011Zuvorkommenheit alle Compositionen, die aus dem „premier
0012magasin bohême de musique“ des Herrn Urban hervor-
0013gehen. Auch die Novität von Fibich fand sehr lebhaften
0014Beifall. Mit der „Lustspiel-Ouvertüre“ von Smetana,
0015welche wir gleichfalls aus den Philharmonischen Concerten
0016kennen, ist sie freilich nicht zu vergleichen. Letztere, so fein und
0017anmuthig dahinfließend, führt ihren Namen mit Recht, während
0018die Fibich’sche viel zu anspruchsvoll und lärmend auftritt für
0019ein Lustspiel. Der Titel ist jedoch für uns nicht entscheidend.
0020Wenn die musikalische Bedeutung der Hauptmotive in richtigem
0021Verhältniß stünde zu deren langgestreckter pomphafter Aus-
0022führung, so könnte uns gleichgiltig sein, welches czechische
0023Theaterstück damit eröffnet werden soll. Die Themen, ein
0024wenig an Gade und Mendelssohn erinnernd, sind lebendig
0025und sehr verwendbar, aber nicht von originellem Gepräge.
0026Für die große Ausdehnung und den heroischen Schlußspectakel
0027des Stückes auch nicht bedeutend genug. Durchführung und
0028Instrumentation verrathen eine sehr geschickte, tüchtig geschulte
0029Hand. Der Componist (geboren 1850) ist kein Neuling, seine
0030Anfänge reichen zwanzig Jahre zurück. Vor neun Jahren hat
0031Professor Door, dem wir so manche interessante Bekanntschaft
0032verdanken, ein Clavierquartett von Fibich (op. 11) gespielt,
0033das erste Stück des talentvollen Componisten, das hier zur
0034Aufführung gelangte. Dieses Quartett durchströmt ein lebens-
0035voller, stürmischer Jugenddrang, der mitunter in geniali-
0036schen Absonderlichkeiten aufschäumt, aber einen starken, ge-
0037sunden Kern einschließt. Unser damals ausgesprochener 
0038Wunsch, mehr von Fibich kennen zu lernen, ist erst jetzt
0039nach einem Decennium in Erfüllung gegangen. Gegen jenes
0040Quartett offenbart die „Nacht auf Karlstein“ eine in allem
0041Technischen stark vorgeschrittene Meisterschaft, ohne jedoch
0042dessen Originalität und frische Unmittelbarkeit zu erreichen.
0043Jetzt, da die czechischen Componisten bei uns in Mode
0044kommen und Herr Rosé mit vielem Glück Smetana’s 
0045(von uns bereits im Jahre 1880 besprochenes) E-moll-
0046Quartett wieder aufgenommen hat, dürfte auch eine Neu-
0047belebung des Fibich’schen Quartetts sich lohnen.


0048Kühlere Aufnahme fand die zweite Novität der Phil-
0049harmoniker: ein Clavier-Concert in F-moll von E. Lalò.
0050„Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, daß ich so traurig
0051bin?“ möchte man gleich bei der Einleitung fragen, welche,
0052wie überhaupt das ganze Concert, von schwarzer Melancholie
0053überfließt. Der Componist selbst wußte sehr wohl, was es
0054zu bedeuten hatte. Er sah sein ehrgeiziges heißes Werben um
0055Anerkennung nicht erwidert, und das zehrte tödtlich an seinem
0056sonst mit allen Glücksgütern geschmückten Leben. Lalò’s
0057Landsleute lassen freilich ihre einheimischen Tondichter nicht
0058leicht fallen, aber recht aufrichtige Erfolge hatte er
0059auch in Frankreich nicht; aufrichtig waren nur seine
0060Mißerfolge in Deutschland. Ein Violoncell-Concert und ein
0061Violin-Concert von Lalò erlebten in Wien ein unfreundliches
0062Schicksal; diesen beiden hat sich jetzt noch sein Clavier-
0063concert beigesellt. Es ist spröde und reizlos in der Erfindung;
0064darüber vermag die weltschmerzliche Hamlet-Miene Niemanden
0065zu täuschen. Wie die meisten seiner französischen Collegen,
0066welche sich auf das ehedem ganz vernachlässigte Feld symphoni-
0067scher Compositionen geworfen haben, gefällt sich Lalò in
0068allerlei Sonderbarkeiten, harmonischen und rhythmischen
0069Künsteleien, welche den natürlichen kräftigen Pulsschlag der
0070Musik nicht ersetzen können. So hat er das Adagio seines
0071Concertes (es geht aus Es) auf das Motiv b c b c, das
0072durch 37 Tacte eigensinnig festgehalten und nach kurzer Unter-
0073brechung neuerdings durch 24 Tacte wiederholt wird. Den Hörer
0074macht diese pendelnde Monotonie, trotz des geschickten Har-
0075monienwechsels, bald ungeduldig. Energischer wirkt durch
0076seinen hämmernden Rhythmus das Hauptmotiv des Finale;
0077allein es bleibt unfruchtbar den langen Satz hindurch. Auch 
0078in claviertechnischer Hinsicht bringt Lalò nichts Neues;
0079er behilft sich mit dem bescheidenen Hausrath alter Clavier-
0080effecte. Gespielt wurde das Concert ganz vortrefflich von
0081Herrn Louis Diémer, dem es auch gewidmet ist. Dieser
0082Pianist verfügt über eine bedeutende, bis zur Vollendung aus-
0083gefeilte Technik, welche besonders in Scalen, in zierlichem
0084Passagenwerk und im Triller glänzt. Jedes Motiv, jede Ver-
0085zierung klingt wie ausgemeißelt, kein Accent stärker noch
0086schwächer, als er sein soll. Dieser äußersten Correctheit und
0087Glätte möchte man es fast anmerken, daß Herr Diémer Pro-
0088fessor am Conservatorium ist, und zwar — als Mann von
0089feinem Geschmack — am Pariser Conservatorium. Ein origi-
0090neller Stempel ist seinem Spiele nicht aufgeprägt. Diémer 
0091erinnert darin lebhaft an Francis Planté, mit dem er den
0092Ruhm des besten Clavierkünstlers in Paris theilt.


0093Herr Diémer gab auch ein eigenes Concert im Bösen-
0094dorfer-Saale, welcher sehr gut besucht war und von Applaus
0095widerhallte. In einer langen Reihe von Solostücken, die mit
0096Beethoven’s C-moll-Variationen begann und mit einer Liszt-
0097Rhapsodie abschloß, entfaltete Diémer seine gewinnendsten
0098Vorzüge. Stücke wie Chopin’s F-dur-Ballade setzen aller-
0099dings ein leidenschaftlicheres Naturell voraus. Hingegen
0100tauchten einige kleinere Genrestücke älterer französischer Com-
0101ponisten den Künstler in sein eigenstes Element. Die köstliche
0102altfränkische Grazie von Couperin („Les papillons“),
0103von Daquin („Le coucou“), von Rameau („Rigaudon“)
0104kann feiner, graziöser nicht wiedergegeben werden, als
0105von Herrn Diémer. Auch seine Transscription der Ouver-
0106türe zur „Zauberflöte“, die sauber und gleichmäßig wie
0107eine Elfenbeinkugel abrollte, erregte freudige Sensation. Für
0108Mendelssohn’s Ausspruch, daß ein gehaltvolles Orchesterstück
0109auch im Clavierauszug immer schöne Musik bleibe, war
0110diese zweihändig gespielte Mozart’sche Ouvertüre ein werth-
0111voller Beleg. Mit unseren modernsten Orchestergemälden
0112möchten wir die Probe nicht wagen. Freundlichste Auf-
0113nahme erfuhren auch die Variationen für zwei Claviere von
0114Robert Fischhof. Vorgetragen von zwei so virtuosen und
0115fein zusammenstimmenden Künstlern wie Diémer und
0116Fischhof wirkt dieses Duo ungemein brillant. Nach Allem,
0117was wir von Fischhof kennen, steht er unter dem Einfluß [2]
0118der neueren französischen Schule; Saint-Saëns scheint sein
0119Vorbild zu sein. Seine Variationen — deren Thema an
0120die letzte Variation „Un poco più vivace“ in Schumann’s 
0121F-dur-Quartett erinnert — interessiren durch pikante Ein-
0122fälle und Clavier-Effecte; jedenfalls steckt darin mehr Witz
0123als Musik.


0124Zwei Clavier-Virtuosinnen aus Amerika, Frau Bur-
0125meister-Petersen
und Fräulein Aus der Ohe,
0126folgten einander mit Orchester-Concerten im großen Musik-
0127vereinssaal. Für den Concertgeber ein recht kostspieliges
0128Vergnügen. Wer auch nur so einen Anschlagzettel liest, sagt
0129sich respectvoll: Das muß eine echte Künstlernatur sein, die
0130spielt nicht um der Einnahme willen. Diesem reinen Kunst-
0131Enthusiasmus kamen in unserem Falle freilich auch zwei
0132Separattugenden zu Hilfe: bei Frau Burmeister die Gatten-
0133liebe, bei Fräulein Aus der Ohe die Wohlthätigkeit. Frau
0134Burmeister war es hauptsächlich darum zu thun, das
0135Klavierconcert ihres Gatten vorzuführen; sie that dies
0136auch mit dem schönen Eifer der Liebe, welche in dem
0137angetrauten Künstler ohneweiters ein Genie erblicken darf.
0138In seinem D-moll-Concert erscheint uns Herr Richard
0139Burmeister als ein tüchtiger, gewissenhafter, an guten
0140Mustern herangebildeter Componist, dem zu diesen bürger-
0141lichen Tugenden nur das holde Laster der Genialität fehlt.
0142Sehr viel „Burmeister“ sehr wenig „Richard“. Um einen
0143Musiker, der etwas gelernt hat, wie Herr Burmeister, thut
0144es uns immer leid, wenn er eine mit vielem Fleiß ge-
0145schaffene Arbeit vor die Leute bringt, die sich dabei doch nur
0146langweilen. Frau Burmeister’s Vortrag ist gut musikalisch,
0147tüchtig, fast männlich, doch ohne Glanz und Poesie. Sie ge-
0148nießt in Baltimore den Ruf einer vorzüglichen Lehrerin,
0149und ihr Spiel sagt uns, daß sie diesen Ruf verdient.


0150Fräulein Aus der Ohe eröffnete ihr zum Vortheil
0151des Maria-Theresien-Hospitals veranstaltetes Concert mit
0152Tschaikowsky’s Clavierconcert in B-moll, op. 23.
0153Eines jener zahlreichen modernen Orchesterwerke, welche,
0154viel Talent mit wenig Kunstverstand paarend, in Einzelnem
0155interessant sind, als Ganzes recht unerfreulich. Der gesunde
0156musikalische Kern, der unzweifelhaft in diesem Concert steckt,
0157artet bald in Rohheit aus. Mit einem originellen, klaren,
0158kräftigen Thema, dem Keim zu einem tüchtigen Concertstück, 
0159hebt das erste Allegro an, aber unversehens ist der Compo-
0160nist ins Vage, Formlose gerathen. Ein Durcheinander ohne-
0161gleichen herrscht in diesem abnorm langen ersten Satz. Der zweite
0162Satz beginnt gesangvoll und natürlich als wiegendes Andantino
0163in Des-dur; Ruhe und Natürlichkeit hält Tschaikowsky nicht
0164lange aus: er fällt urplötzlich in ein Prestissimo kitzelnder,
0165chromatischer Passagen, wie eine wilde Katze, die über die
0166Tasten rennt. Nachdem er sich weidlich außer Athem gelaufen,
0167lenkt er zum Schluß wieder in das sanfte Andantino ein.
0168Mit einem keck herausfordernden Thema stürzt das Finale
0169herein; seine urwüchsige Kraft schlägt bald in Brutalität
0170um. Müssen denn durchaus alle russischen Finalsätze die
0171dumpfe Lustigkeit berauschter Bauern darstellen? Wir haben
0172Aehnliches zur Genüge bei Rubinstein genossen. Der scheint
0173jetzt Tschaikowsky’s Ideal zu sein; ehemals war es Schu-
0174mann
. Schumann’scher Einfluß ist noch unverkennbar in
0175Tschaikowsky’s früheren Compositionen, insbesondere den
0176Liedern und kleinen Clavierstücken, welche uns ja die beste
0177Seite seines Talentes zukehren. Das Clavierconcert von
0178Schumann hat der Russe leider nicht im Ohre gehabt, als
0179er sein B-moll-Concert schrieb. Fräulein Aus der Ohe 
0180bewältigte das überaus schwierige Stück mit bewunderungs-
0181würdiger Technik, Kraft und Ausdauer. Ihr gehörte ohne
0182Zweifel der Löwenantheil am Beifall; dem Componisten
0183der Rest.


0184Von einheimischen Pianisten bekannten Namens hat
0185Frau v. Pászthory-Voigt sich in einem eigenen Con-
0186cert als virtuose Liszt-Spielerin hervorgethan, und sind die
0187Brüder Thern mit dem ihnen gebührenden und nie
0188fehlenden Beifall ausgezeichnet worden. Der große Erfolg,
0189den im Thern’schen Concert die Liedervorträge von Fräulein
0190Albertine Beer erzielten, wird die anmuthige junge Künst-
0191lerin hoffentlich zu öfterem Auftreten veranlassen. Die Con-
0192certsängerin Fräulein Finkenstein hat durch ihre hoch-
0193ausgebildete Technik und die Vielseitigkeit ihres Talents den
0194vortheilhaften Eindruck ihres vorjährigen Besuches erneuert.
0195Auffallend wächst die Zahl der jungen Violinspielerinnen.
0196War das ein Staunen beim Erscheinen der Milanollos,
0197daß auch Mädchen sich auf der Geige hören lassen!
0198Nun haben in Wien innerhalb weniger Tage die Violin-
0199Virtuosinnen Rosa Hochmann, Irene v. Brennerberg, 
0200Therese Schuster-Seydel und Gabriele v. Amann-
0201Neusser
Concerte gegeben, auch Bianca Panteo ist be-
0202reits in Sicht. Fräulein v. Brennerberg — den Wienern
0203noch in angenehmer, frischer Erinnerung — hat ihre Technik
0204seither bei Massart in Paris noch vervollkommt und löst
0205die schwierigsten Aufgaben mit Leichtigkeit. Neu war in
0206ihrem Programme eine sehr dankbare melodiöse Romanze 
0207von Emil Seling. Frau Schuster-Seydel und
0208Frau v. Amann-Neusser sind schon von ihren Mädchen-
0209jahren her als sehr tüchtige und geschmackvolle Geigerinnen
0210bestens bekannt. Und noch ein Violin-Virtuose! Herr
0211Lewinger, den wir im vorigen Jahre als einen der
0212talentvollsten Schüler von Professor Grün begrüßten, hat
0213diesmal einen noch größeren Erfolg zu verzeichnen: sein
0214meisterhafter Vortrag des dritten Bruch’schen Concertes bei
0215den Philharmonikern erregte Bewunderung und sichert dem
0216 jungen Manne eine ruhmvolle Laufbahn.


0217Es war kein glücklicher Gedanke, nach dem sehr langen
0218Bruch’schen Concert die große C-dur-Symphonie von Schu-
0219bert
als Schlußnummer anzusetzen. R. Schumann schwärmte
0220freilich für ihre „himmlische Länge“. In Wahrheit kann
0221Alles an dieser Symphonie himmlisch heißen, nur gerade
0222ihre Länge nicht. Es ist eine schädliche Länge, ein Hinderniß
0223für die volle Wirkung dieser genialen Musik. Wer hätte es
0224nicht an sich erfahren, wie das unvergleichliche Glücksgefühl,
0225das aus dem A-moll-Andante in uns einströmt, nach der
0226Mitte des Satzes immer schwächer wird, um endlich einer
0227ungeduldig den Schluß erwartenden Abspannung Platz zu
0228machen. Diese köstlichsten melodischen Gedanken verlieren am
0229Ende durch die unersättlichen Wiederholungen und Anstück-
0230lungen, denen doch die dramatische Energie und contra-
0231punktische Kunst Beethoven’s fehlt, ihre ursprüngliche „himm-
0232lische“ Gewalt über uns. Sehr begreiflich, daß heute jeder
0233Dirigent sich scheut, an einem solchen Werke Kürzungen vor-
0234zunehmen; aber gefehlt wäre es nicht gewesen, wenn Schu-
0235bert sie selbst vorgenommen hätte. In Voltaire’s Ge-
0236dicht „Der Tempel des Geschmacks“ finden wir den sehr
0237sinnreichen Einfall, daß im Innersten dieses Heiligthums die
0238besten Schriftsteller selbst ihre Werke verbessern — haupt-
0239sächlich durch Streichen.