Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 10207. Wien, Sonntag, den 22. Januar 1893
[1]Franz Liszt in seinen Briefen.
0002Ed. H.*)
Nicht weniger als 659 Briefe Liszt’s hat das
0005glückliche Spar- und Findertalent der Frau La Mara
0006aufgesammelt und in zwei starken Bänden veröffentlicht.
0007Liszt gehörte zu den fleißigsten Correspondenten, die es je
0008gegeben; in rascher und verbindlichster Beantwortung jedes
0009Briefes war er musterhaft. Das vollständige Gegentheil des
0010berühmten Culturhistorikers W. H. Riehl, der mir einst
0011auf die Frage, woher er die Zeit nehme für seine erstaun-
0012liche Thätigkeit, die Erklärung gab: „Ich mache keine
0013Besuche und beantworte keine Briefe.“ Seine Liebenswür-
0014digkeit erwarb Liszt zahlreiche enthusiastische Freunde, lockte
0015ihm aber auch eine Legion Zudringlicher auf den Hals, die
0016ihn mit Briefen, Autographenbettel und musikalischen
0017Sendungen belagerten. In seinen letzten Jahren beklagt der
0018geduldige Mann sich ernstlich darüber. „Mein Widerwille
0019gegen Briefe,“ schreibt er 1881 aus Bayreuth, „ist maßlos
0020geworden. Wie soll man mehr als zweitausend Briefe
0021im Jahr beantworten, ohne sich zum Cretin zu machen?“
0022Und bald nachher aus Rom: „Man feiert mich, schmeichelt
0023mir und erdrückt mich mit zahllosen Briefen. Mehr als
0024hundert erhielt ich in den letzten sechs Wochen; ich müßte
0025für meine Correspondentenpflicht täglich zehn Stunden ver-
0026wenden, das kann ich nicht. Auch mein Gesundheitszustand,
0027obwol er nicht schlecht ist, verbietet es mir.“ Erst im Jahre
00281882 entschloß er sich zur Nothwehr und ließ (genau wie
0029jetzt Rubinstein) in den Musikzeitungen bekannt machen,
0030daß er sich Zusendungen von Partituren „und sonstige Zu-
0031schriften“ verbitte. Es scheint aber nichts genützt zu haben;
0032die folgenden Jahrgänge beweisen, daß weder die Courage der
0033Briefstürmer noch die Herzensgüte Liszt’s umzubringen war.
0034Was uns gleich auf den ersten Seiten freundlich an-
0035muthet, ist die kindliche Dankbarkeit des fünfzehnjährigen Liszt
0036gegen seinen Lehrer Karl Czerny in Wien. Merkwürdig
0037genug, er schreibt ihm, in dessen Hause nur Deutsch ge-
0038sprochen wurde, französisch; desgleichen seinen deutschen
0039Freunden Hiller, Schumann, P. Cornelius und Anderen.
0040Liszt hatte sich schon während seines ersten Pariser Aufent-
0041halts völlig ins Französische eingelebt. Erst von seiner An-
0042siedlung in Weimar an werden Liszt’s deutsche Briefe zahlreicher.
0043Natürlich schreibt er ganz gut deutsch; aber die französische
0044Sprache ist nicht nur für ihn „bequemer und vertrauter“, sie
0045ist überhaupt für leichten, graziösen Briefstyl wie geschaffen.
0046Mit Lebhaftigkeit schildert der junge Liszt (1828) seine Stu-
0047dien und Erfolge in Paris, wo er für Czerny „furchtbar
0048Propaganda macht“ und dessen Sonaten mit größtem Bei-
0049falle in Gesellschaften spielt. Czerny möchte doch ja nach
0050Paris kommen, er wolle für ihn sorgen wie für seinen
0051eigenen Vater. Erinnern wir uns bei diesem Anlasse, daß
0052Liszt von seinem Vater den Musiksinn geerbt und die erste
0053Anleitung empfangen hat. Der alte Adam Liszt war
0054selbst sehr musikalisch und hat als Esterhazy’scher Rechnungs-
0055führer häufig in Eisenstadt in den Hofconcerten des Fürsten
0056am Violoncellpulte mitgewirkt — unter der Leitung des ihm
0057persönlich befreundeten Joseph Haydn. Das zerstreuende Leben
0058in den Pariser Salons macht den jungen Liszt schließlich doch be-
0059denklich. Er schreibt an den Abbé Lammenais: „Wird mein Leben
0060denn immer in dem nutzlosen Müßiggang verfließen, der mich jetzt
0061bedrückt? Wird die Stunde der Vertiefung und des männ-
0062lichen Handelns niemals schlagen? Bin ich unwiderruflich
0063dazu verdammt, als Possenreißer die Salons zu amüsiren?“
0064Liszt war trotz dieses demüthigen Stoßseufzers sein ganzes
0065Leben hindurch von bewunderungswürdigem Fleiß. Seine
0066Briefe, von den Jünglingsjahren bis ins späte Alter, be-
0067zeugen es. Im Jahre 1839, also in seiner glorreichsten
0068Virtuosen-Periode, schreibt er an Clara Wieck, er habe in
0069Italien „énormément gearbeitet und dort, ohne Ueber-
0070treibung, vier- bis fünfhundert Seiten Musik geschrieben“.
0071Daß er selbst emsig an einer Oper arbeite, meldet Liszt zu
0072verschiedenenmalen; es scheint nichts davon erhalten zu sein.
0073Am interessantesten sind uns selbstverständlich die Urtheile
0074Liszt’s über bedeutende Componisten; zahlreich sind sie aller-
0075dings nicht in diesem Berge von Briefen. An Robert Schu-
0076mann schreibt er schon im Jahre 1838, daß er den „Car-
0077neval“ und die „Phantasiestücke“ mit Entzücken spiele; ja,
0078daß, offen gestanden, nur die Compositionen von Chopin
0079und Schumann ihm ein starkes Interesse einflößen. Ein
0080merkwürdiges Geständniß, da doch Liszt gerade Schumann’s
0081Clavier-Compositionen zeitlebens in der Oeffentlichkeit igno-
0082rirte. Er hat das später selbst bereut und mit schöner Auf-
0083richtigkeit öffentlich Buße gethan. Henselt’s Etüden hin-
0084gegen, für welche Schumann schwärmte, findet Liszt unter
0085ihrem Ruf und kann in ihrem Autor nur eine „médiocrité
0086distinguée“ erblicken. Sein Ideal bleibt Chopin. Er ver-
0087theidigt ihn gegen W. v. Lenz, welcher den Einfluß
0088der Pariser Salons auf Chopin zu hoch anschlage.
0089„Seine Seele war davon nicht afficirt, und seine Musik bleibt
0090durchsichtig, wunderbar, ätherisch und unvergleichlich genial
0091— ganz außerhalb der Schulirrthümer und der Salon-
0092fadaisen. Chopin hat etwas vom Engel und von der Fee;
0093mehr noch: die heroische Saite hat nirgends mit solchem
0094Glanz, solcher Leidenschaft und mit so neuer Gewalt er-
0095zittert, wie in seinen Polonaisen.“ Ueber Schumann’s
0096Oper „Genovefa“ hat Liszt den geistreichen Einfall, sie sei
0097„musikalisch die Schwester des Fidelio, nur fehlt ihr Leo-
0098norens Pistole“. An Rubinstein schreibt Liszt 1854
0099einen überaus freundlichen, zugleich aufrichtig ermahnenden
0100Brief. „Ich schätze Ihre Compositionen und finde Vieles
0101darin zu loben, mit einigen Einschränkungen, welche fast alle
0102darauf hinausgehen, daß Ihre außerordentliche Fruchtbarkeit
0103Ihnen bis jetzt nicht die erforderliche Muße gelassen hat,
0104Ihren Werken eine stärkere individuelle Prägung zu geben
0105und sie auszufeilen. Es genügt nicht, zu arbeiten, man
0106muß auch umarbeiten.“ Bei Liszt’s durchgehends herr-
0107schender Geneigtheit, nur zu loben und stark zu loben,
0108erscheint gerade diese Zuschrift sehr bemerkenswerth.
0109Eine besondere Hochschätzung, ja Bewunderung hegt
0110Liszt für Saint-Saëns. Er nennt dessen Messe
0111ein großartiges, bewunderungswürdiges Werk; allen neueren
0112Compositionen dieser Gattung überlegen an schwungvoller
0113Empfindung, religiösem Charakter und vollendeter Meister-
0114schaft. Liszt erbittet sich das Manuscript dieses „außerordent-
0115lichen Werkes, dem der Platz zwischen Bach und Beethoven
0116gebührt.“ Ein etwas starkes Lob. Zärtlich fürsorgend klingen [2]
0117die Briefe an den jungen Peter Cornelius; Liszt gibt
0118ihm den Rath, sich mit aller Kraft der katholischen Kirchen-
0119musik zu widmen. Dem Pianisten Dionys Pruckner em-
0120pfiehlt er für die Zeit seines Wiener Aufenthaltes vorzüglich den
0121näheren Verkehr mit Meister Czerny: „Von allen jetzt leben-
0122den Componisten, welche sich speciell mit dem Clavierspiel
0123und Claviersatz befaßt haben, kenne ich keinen, dessen Ansichten
0124und Beurtheilungen einen so richtigen Maßstab des Ge-
0125leisteten darbieten.“ Dionys Pruckner (gegenwärtig Professor
0126am Stuttgarter Conservatorium) hat 1857 mit schönem Erfolge
0127in Wien concertirt. Liszt gratulirt ihm dazu, denn „festen Fuß
0128in Wien als Clavierspieler zu fassen, ist keine geringe Auf-
0129gabe, besonders unter den jetzigen Umständen! Wenn dies ge-
0130lingt, da kann man mit bester Zuversicht sich durch ganz Europa
0131Geltung verschaffen“. Er fügt folgende charakteristische
0132Rathschläge bei: „Sehr zweckmäßig ist es für Sie, oftmalen
0133aufzutreten, um sich so recht mit dem Publicum zu Hause
0134zu fühlen. Bei der Production hat letzteres viel mehr auf
0135den Künstler zu achten, als dieser dem Publicum zu fröhnen
0136oder gar vor demselben in Befangenheit zu gerathen. Zu
0137Hause, unser ganzes Leben durch, haben wir zu studiren,
0138zu ersinnen, unter Arbeit heranzureifen und dem Ideal der
0139Kunst möglichst nahe zu kommen. Wenn wir aber in den
0140Concertsaal treten, darf uns das Gefühl nicht verlassen, daß
0141wir eben durch unser gewissenhaftes, ernst anhaltendes
0142Streben etwas höher stehen als das Publicum und unseren
0143Theil der Menschheitswürde, wie Schiller sagt, zu
0144vertreten haben. Lassen wir uns nicht durch falsche Be-
0145scheidenheit beirren und halten wir fest an der wahrhaftigen,
0146welche weit schwieriger auszuüben und seltener zu finden ist.“
0147Im Sommer 1851 betreibt Liszt den Geiger Reményi
0148wegen Rücksendung einer Violin-Sonate von Brahms, welche
0149dieser zur Drucklegung bedürfe.**)
Es ist das erste- und —
0154letztemal, daß der Name Brahms uns aufstößt in der
0155ganzen zweibändigen Briefsammlung. Liszt war damals so
0156vollauf in Wagner aufgegangen, daß er zu den stark ab-
0157stechenden Schöpfungen Brahms’ kein rechtes Verhältniß ge-
0158winnen konnte. Mit rühmlichem Eifer sehen wir Liszt die
0159Herausgabe der sämmtlichen Werke Mozart’s betreiben,
0160zu welcher er wahrscheinlich (beim Wiener Mozart-Feste
01611856) auch die erste Anregung gegeben. „Die österreichischen
0162Musikfreunde,“ schreibt er an seinen Oheim Dr. Eduard
0163Liszt, „sollen die Sachen anregen und constituiren ...
0164in dem Sinne, daß durch eine kritisch geläuterte, gleich-
0165förmig schön gedruckte und durch ein Comité revidirte Auf-
0166lage der Mozart’schen Werke ein allgemein nutzendes, dauern-
0167des und belebendes Monument dem herrlichen Meister
0168gesetzt wird.“ Ein schönes Wort spricht Liszt über
0169Beethoven. „Für uns Musiker,“ schreibt er an
0170W. v. Lenz, „ist Beethoven gleichsam die Säule von Rauch
0171und Feuer, welche die Israeliten durch die Wüste führte;
0172eine Rauchsäule, um uns bei Tag zu führen, eine Feuer-
0173säule, um uns die Nacht zu erhellen, damit wir vorwärts
0174schreiten Tag und Nacht. Seine Dunkelheit und sein Licht
0175zeigen uns gleicherweise den Weg, den wir zu verfolgen
0176haben; das Eine wie das Andere ist uns ein fortwährendes
0177Commando, eine unfehlbare Offenbarung.“
0178Die Politik berührt Liszt nur in zwei Briefen. Einmal
0179lobt er gegen Eduard Liszt die russische Politik Oesterreichs
0180(1851) und sieht für das monarchische Princip in Europa
0181das Heil nur in Rußland. „Deutschland wird russisch werden,
0182und für die immense Majorität der Deutschen kann der
0183einzige Entschluß nicht zweifelhaft sein, welchen sie ergreifen
0184kann.“ Erst zweiundzwanzig Jahre später stoßen wir aber-
0185mals auf eine politische Kundgebung, der man wol ebenso-
0186wenig zustimmen wird, wie der ersten. Liszt schreibt: „Na-
0187poleon III. ist todt! Eine große Seele, eine Alles umfassende
0188Intelligenz, ein sanfter und edler Charakter — und eine
0189unselige Bestimmung! Es ist ein gebundener und geknebelter
0190Cäsar, aber doch noch ein naher Verwandter des göttlichen
0191Cäsar, welcher die ideale Verkörperung der irdischen Macht
0192gewesen ist. Ich glaube auch noch, daß die Regierung Na-
0193poleon’s die den Bedürfnissen und Fortschritten unserer Zeit
0194entsprechendste gewesen ist. Einst, am Tage der Gerechtigkeit,
0195wird Frankreich den Sarg Napoleon’s III. abholen und
0196ruhmvoll neben jenen Napoleon’s I. stellen.“
0197Die Briefe an Eduard Liszt sind die wärmsten,
0198herzlichsten, um nicht zu sagen die einzigen ganz voll aus
0199dem Herzen strömenden in der Sammlung. Eduard war
0200der Onkel Liszt’s (das ist der jüngere Stiefbruder seines
0201Vaters), ein uns Wienern unvergeßlicher, hochbedeutender
0202Mann, der als General-Procurator am 8. Februar 1879
0203in Wien starb. Liszt liebte ihn zärtlich und übertrug auf
0204ihn 1867 den erblichen Ritterstand, von dem er selbst niemals
0205Gebrauch gemacht hat. Von edelstem Gehalt sind die Rath-
0206schläge, die er Eduard in Bezug auf dessen Beamtenlauf-
0207bahn gibt: „Bleibe dir selbst treu! Treu dem Besten,
0208Edelsten, Gerechtesten und Reinsten, was du in deinem
0209Herzen fühlst! Bekümmere dich nicht darum, irgend etwas
0210(quelque chose) zu werden, aber arbeite emsig und aus-
0211dauernd, um Einer (quelqu’un) zu sein. Nachdem dir die
0212schwierige Aufgabe geworden, über Schuld und Unschuld der
0213Menschen zu richten, prüfe Herz und Nieren, damit du nicht
0214einst selbst schuldbehaftet erscheinst vor dem Tribunal des
0215jüngsten Gerichts.“
0216Von seinen eigenen Werken spricht Liszt stets mit vor-
0217nehmer und anmuthiger Bescheidenheit, dabei aber mit
0218vollem Vertrauen auf sein echtes, redlich zusammengefaßtes
0219Talent und auf dessen spätere Anerkennung. Seine Orchester-
0220werke und Kirchen-Compositionen haben bekanntlich viel
0221Tadel erfahren, und Liszt war nicht unempfindlich gegen die
0222Stiche der Kritik. Aber die Seufzer, welche sie ihm aus-
0223preßten, klingen doch immer ruhig, mit ironischer Sanft-
0224muth aus. Nichts von der hochmüthigen Verachtung oder
0225den wüthenden Hieben, womit Hebbel oder R. Wagner jeden
0226nicht blindlings Zustimmenden bedenken. Wie dankbar er jedes
0227anerkennende Wort aus gegnerischem Lager aufnahm, bezeugen
0228zwei seiner Briefe an den Schreiber dieser Zeilen über Liszt’s
0229Buch „Les Bohémiens“ und sein Erscheinen beim Wiener
0230Mozartfest. Im Jahre 1858 schreibt Liszt nach Leipzig, daß
0231eine Aufführung von seinen „Undingen“ ihm dort unzeitig
0232erscheine und er darauf gefaßt sei, die Sachen lieber in Ver-
0233gessenheit gerathen zu lassen, als seine Freunde damit zu [3]
0234belästigen. Auch an Herbeck schreibt er (1858), es scheine
0235ihm gerathener, mit dem „Prometheus“ noch zu warten.
0236„Ich habe keineswegs Eile, in das Publicum zu dringen,
0237und kann ganz ruhig das Gefasel über meine verfehlte Com-
0238positionssucht sich weiter ergehen lassen. Nur insofern ich
0239Dauerndes zu leisten vermag, darf ich darauf einigen be-
0240scheidenen Werth legen. Dies kann und wird immer die Zeit
0241entscheiden. Vorläufig möchte ich aber keinem meiner Freunde
0242die Unannehmlichkeiten aufbürden, welche die Aufführung
0243meiner Werke, bei den allerwärts sich breitmachenden Voraus-
0244setzungen und Vorurtheilen dagegen, mit sich führen.“ Die-
0245selbe Melodie, nur noch weicher, rührender, klingt 24 Jahre
0246später aus Liszt’s Brief an Saint-Saëns, dem er den
0247Mephisto-Walzer zuschickt: „Niemand fühlt mehr als ich das
0248Mißverhältniß zwischen dem guten Willen und dem erreichten
0249Resultat in meinen Compositionen. Trotzdem fahre ich fort,
0250zu schreiben — nicht ohne Anstrengung — aus innerem Bedürf-
0251niß und alter Gewohnheit. Hohes anzustreben ist nicht ver-
0252boten, die Erreichung des Zieles bleibt immer ein Fragezeichen.“
0253Mit den Jahren wächst sein Fleiß, oft ins Unheim-
0254liche. „Im Notenschreiben,“ meldet er dem Onkel Eduard
0255im November 1878, „bin ich gräßlich fleißig seit Mitte Sep-
0256tember. Ich sitze und wandle darin wie ein Besessener!“
0257Und, fragen wir, welcher materielle Gewinn ist ihm für
0258seine beispiellose Thätigkeit als Virtuose, Schriftsteller, Lehrer
0259und Dirigent geblieben? Liszt hat nicht viel mehr hinterlassen,
0260als die silbernen Lorbeerkränze, die juwelenbesetzten Tactir-
0261stäbe und goldenen Tabatièren, die wir in der letzten Wiener
0262Musikausstellung gesehen haben. Seine Uneigennützigkeit und
0263sein Edelmuth gehören zu Liszt’s schönsten Eigenschaften.
0264Bekannt ist sein Brief an das Bonner Beethoven-Comité,
0265worin er, damit endlich das Monument des großen Ton-
0266dichters zu Stande komme, den ganzen Rest der noch unge-
0267deckten Summe — ein kleines Vermögen! — aus Eigenem
0268beisteuert. Und an der Neige seines Lebens schreibt er an
0269Marie Lipsius: „Seit Ende 1847 habe ich keinen Heller
0270mit Clavierspielen, Unterrichten und Dirigiren verdient;
0271Alles dieses kostete mir vielmehr Zeit und Geld.“ Sein
0272letzter Brief ist vom 3. Juli 1886 an die Pianistin Sophie
0273Menter gerichtet, der er ein Rendezvous in Bayreuth
0274gibt „zwischen dem 20. Juli und 7. August“. Es war Liszt
0275nicht beschieden, diesen Endtermin einzuhalten; am 31. Juli
0276schloß er in Bayreuth für immer die Augen.
0277So bringt uns denn die Liszt’sche Briefsammlung viel
0278des Interessanten und Anziehenden. Dennoch ist sie nicht
0279blos quantitativ unvollständig — es fehlen die Briefe an
0280Berlioz, Wagner, Tausig u. A. — sie ist es noch weit mehr
0281und empfindlicher in qualitativer Hinsicht. Von den folgen-
0282reichsten, seelisch eingreifendsten Erlebnissen Liszt’s erfahren
0283wir nichts. Wo sind die Briefe an seine vieljährige geist-
0284volle Lebensgefährtin Gräfin d’Agoult und an seine intimste
0285Freundin Fürstin Wittgenstein? Warum berührt Liszt
0286mit keiner Sylbe seinen Uebertritt in den geistlichen Stand
0287oder die Trennung seiner Tochter Cosima von seinem Liebling
0288Bülow und ihre Verheiratung mit Richard Wagner? Ueber
0289diese Herzenssachen und Seelenkämpfe existiren ohne Zweifel
0290briefliche Aeußerungen Liszt’s, aus denen wir erst eine voll-
0291ständige Kenntniß des Menschen gewinnen würden. Alle
0292vorliegenden Briefe drehen sich nur um musikalische
0293Angelegenheiten, und größtentheils um solche, die für uns
0294ihr Interesse verloren, zumeist auch nur für die Correspon-
0295denten ein Interesse gehabt haben. Die bemerkenswertheren
0296Aussprüche Liszt’s über Musik und Musiker, sowie über sich
0297selbst habe ich ziemlich vollständig herausgehoben; was übrig
0298bleibt, gehört fast nur der musikalischen Geschäftspraxis:
0299Vorbereitung für Musikfeste, angenommene oder abgelehnte
0300Einladungen zum Dirigiren oder Spielen, Weisungen an
0301Dirigenten, Verleger, Copisten, Claviermacher, Redacteure
0302von Musikzeitungen. Unter Letzteren figurirt auffallend häufig
0303Franz Brendel in Leipzig, dessen Musikzeitschrift Liszt
0304liebevoll überwacht und mit Rath und That unausgesetzt
0305unterstützt. Der fleißigen und verdienstvollen Arbeit der Frau
0306La Mara gebührt alle Anerkennung. Dennoch kann ich nach
0307der langwierigen Durcharbeitung dieser 659 Briefe den Ge-
0308danken nicht unterdrücken, daß ein kräftiges Durchsieben der-
0309selben auf den Umfang Eines Bandes die Zahl und Dank-
0310barkeit der Leser erheblich vermehrt und die Pietät für Liszt
0311nicht um ein Haar vermindert haben würde.