Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 10561. Wien, Donnerstag, den 18. Januar 1894
[1]Concerte.
0002Ed. H. Einen selteneren Leckerbissen hätten die „Phil-
0003harmoniker“ in ihrem letzten Concert uns nicht credenzen
0004können, als eine Novität von — Cherubini! Es ist un-
0005gefähr achtzig Jahre her, daß Cherubini seine „Concert-
0006Ouvertüre“ für die Philharmonic society in London com-
0007ponirt hat. Sie ist außerhalb Englands gänzlich unbekannt
0008geblieben und jetzt erst veröffentlicht worden. Ihre Meister-
0009schaft läßt sich nicht verkennen, aber auch ihr Alter nicht.
0010Cherubini, der fast nur noch durch seine Ouvertüren fort-
0011lebt — die Opern selbst sind, bis auf den „Wasserträger“,
0012nahezu vergessen — zeigt uns auch in dem neu entdeckten
0013Orchesterstück die bekannte würdige Physiognomie und er-
0014fahrene Meisterhand. Mit seinen bekanntesten Ouvertüren
0015theilt auch die neue den feierlichen Schritt, das echt fran-
0016zösische, theatralische Pathos, das kühle Feuer. Auch ihr
0017hängt wie eine unabsehbare Schleppe die lange, in Wieder-
0018holung derselben Schlußphrasen schwelgende Coda an, wie
0019wir sie als unentbehrlichen Schmuck in den Ouvertüren
0020von Méhul, Sacchini, Boïeldieu und vollends in
0021der gefeierten Semiramis-Ouvertüre von Catel finden.
0022Wir haben Cherubini mit Interesse und Hochachtung
0023gelauscht — ein stärkeres Echo vermag der aka-
0024demische Pomp seiner Concert-Ouvertüre in den Herzen
0025unserer Zeitgenossen nicht zu wecken. ... Es folgte Liszt’s
0026„Orpheus“, dem Umfang nach die kleinste, dem Inhalt nach
0027die ruhigste und einheitlichste seiner symphonischen Dichtungen.
0028Sie wirkt keineswegs abstoßend durch Häßlichkeiten oder
0029Orchesterlärm, wie „Mazeppa“, „Die Hunnenschlacht“,
0030„Faust“, entbehrt aber andererseits des packenden Realis-
0031mus und der glänzenden Aeußerlichkeit ihrer symphonischen
0032Schwestern. Die Composition gleicht weniger einem ge-
0033schlossenen Symphoniesatz, als einer melancholisch fortbrüten-
0034den Phantasie über ein recht bescheidenes Thema. Nach
0035Liszt’s „Vorwort“ müsse seine Orpheus-Symphonie eigent-
0036lich eine menschheitbefreiende ethische That bedeuten. Streiten
0037wir nicht über Liszt’s Entdeckung, daß Orpheus in Eury-
0038dice „das Symbol des in Uebel und Schmerz untergegan-
0039genen Ideals beweint“ — wir glauben, daß er einfach
0040seine Frau beweinte. Aber die vermeintliche Bedeutung
0041des Ganzen beruht auf einem Irrthum. Seinen Schluß-
0042worten zufolge beabsichtigte Liszt, „den verklärten
0043ethischen Charakter der Harmonien, welche von jedem
0044Kunstwerke ausstrahlen, zu vergegenwärtigen, die Zauber
0045und die Fülle zu schildern, womit sie die Seele über-
0046wältigen, wie sie wogen gleich elysischen Lüften, Weih-
0047rauchwolken ähnlich mälig sich verbreiten, den lichtblauen
0048Aether, womit sie die Erde und das ganze Weltall wie mit
0049einer Atmosphäre, wie mit einem durchsichtigen Gewand un-
0050säglichen mysteriösen Wohllauts umgeben“. Der Satz ist
0051charakteristisch für Liszt’s Prosa, wie für seine Musik.
0052Dieser „unsäglich mysteriöse“ Orpheus besteht aus lauter
0053zerfließend weicher Musculatur und hat kein Rückgrat. Es
0054scheint ihm im Philharmonischen Concert auch nicht gelungen
0055zu sein, „aus versteinten Herzen brennende Thränen zu
0056locken“. — Großes Aufsehen erregte der jugendliche Violon-
0057cellist Jean Gérardy aus Brüssel. Der etwa zwölf- bis
0058vierzehnjährige Knabe verschmäht das Nachsichts-Privilegium,
0059auf welches „Wunderkinder“ Anspruch haben, und tritt als
0060vollwichtiger „Herr Gérardy“ auf. In Wahrheit stellt er
0061als bedeutender Virtuose und echter Musiker jetzt schon
0062seinen Mann. Sein Ton ist freilich schwach, wie nicht
0063anders zu erwarten; mit dem Virtuosen selbst wird er
0064schon wachsen, und dann bleibt uns nichts zu wünschen
0065übrig. Der junge Gérardy spielt mit perlender Geläufig-
0066keit, glockenrein selbst in schwierigen Doppelgriffen und
0067Flageoletstellen; er phrasirt mit Geschmack und Empfindung
0068und benimmt sich durchaus natürlich, sicher, unaffectirt. Man
0069lauscht ihm mit Vergnügen und schaut gern in sein hübsches,
0070intelligentes Gesicht. Jean Gérardy ist zweifellos ein großes
0071musikalisches Talent. Seinen Erfolg hat er nur zum kleinsten
0072Theile dem Raff’schen Concert zu danken, das er vortrug.
0073Es gibt so wenig brauchbare Violoncell-Concerte, daß man
0074füglich mit jedem zufrieden sein muß. Warum versucht man
0075es nicht einmal mit dem Concert von Svendsen?
0076Interessirt hat es uns, Joachim Raff, den geschworenen
0077Zukunftsmusiker, plötzlich so zahm geworden zu sehen. Sein
0078Violoncell-Concert, reines Virtuosenstück, ist so wenig
0079symphonisch gedacht, daß das Orchester nirgends selbst-
0080ständig auftritt, sondern durchwegs nur als unterthäniger
0081Begleiter des Solisten. Man schmachtet förmlich nach etwas
0082Polyphonie und Contrapunkt, ja nach ein paar Accorden
0083der Bläser. Das Andante, eine Romanze im Sechsachtel-
0084tact, läßt sich gefällig an, geräth aber bald in breiteste
0085Weitschweifigkeit. Der dritte Satz beginnt mit einem Thema
0086von hausbackener Lustigkeit — ist trotzdem ein gar trauriges
0087Stück. Ein halbwegs gutes Violoncell-Concert ist ohne eine
0088reichere und reizvolle Orchesterpartie nicht denkbar. ...
0089Die stets mit Jubel aufgenommene A-dur-Symphonie von
0090Beethoven machte den glücklichen Schluß des Concertes.
0091Die vortrefflichen Leistungen der Brüder Thern,
0092sowie jene der Sängerin Nicklaß-Kemper sind durch
0093deren alljährlichen Concerte zu sehr bekannt, als daß wir von
0094ihnen diesmal etwas Anderes berichten könnten, als die
0095Thatsache eines vollen Saales und einhelligen, stürmischen
0096Beifalls. Von letzterem entfiel im Concert Thern auch ein
0097gut Theil auf Fräulein Albertine Beer, eine talentvolle
0098Sängerin von anmuthigster Persönlichkeit und wohlklingen-
0099der Stimme.
0100Das Concert des Herrn Eduard Gärtner war ich zu
0101besuchen verhindert, kenne ihn aber von früheren Produc-
0102tionen als einen tüchtigen Gesangskünstler. Seine Stimme
0103ist freilich weder groß noch umfangreich, nicht einmal von
0104hervorragendem Wohlklang. Es ist ein hoher, weicher und
0105gut ausgebildeter Bariton und steht, was sehr viel bedeutet,
0106in der Macht eines ungemein musikalischen und talentirten
0107jungen Mannes. Sehr bemerkenswerth war Herrn Gärtner’s
0108Programm. Er sang auch nicht ein Stück, das auf der
0109gewöhnlichen Heerstraße der Concertsänger liegt. Von
0110Schubert’s Liedern und Löwe’s Balladen hatte er
0111durchaus weniger bekannte gewählt, ebenso aus dem reichen
0112Liederschatze von Schumann und Brahms. Herr
0113Gärtner soll sehr gefallen haben und von Herrn Joll
0114vortrefflich begleitet worden sein.
0115Die portugiesische Kammersängerin Regina Pacini
0116hat mir mehr den Eindruck eines interessanten Phänomens [2]
0117— um nicht zu sagen Curiosums — gemacht, als den einer
0118fertigen Künstlerin. Sie imponirt durch ihren ungewöhn-
0119lichen, dritthalb Octaven umspannenden Stimmumfang und
0120eine gleichfalls ungewöhnliche wilde Kehlenfertigkeit. Die
0121Stimme selbst ist ziemlich schwach und reizlos. Einigen
0122Wohllaut kann man ihr nur im Mezza voce und den schnel-
0123len Pianissimoläufen zugestehen; sobald die Sängerin eini-
0124germaßen „Ton geben“ will, klingt das Organ rauh und
0125unedel. Ihre Coloratur glückte am besten im Staccato;
0126die Legato-Passagen hingegen geriethen häufig ungleich und
0127verwischt. In dem Vortrage der Pacini herrscht eine
0128gewisse Kühnheit, aber kein geläuterter Geschmack. Ihren
0129Mangel an feinerer Empfindung verrieth insbesondere die
0130Walzer-Arie aus Gounod’s „Mireille“. Wem der Vortrag
0131dieser Arie durch Adelina Patti unvergessen ist, der wird
0132mit seinem Lobe für Fräulein Pacini haushälterisch um-
0133gehen. An starkem Beifall hat es der Sängerin übrigens
0134nicht gefehlt. Sie mußte sogar die bekannten Proch’-
0135schen Variationen da capo singen, welche schon ohne
0136Wiederholung um einmal zu viel sind. — Der
0137Violin-Virtuose Herr Simonetti, welcher in dem Concert
0138der Pacini mitwirkte, bildet in mancher Hinsicht ein Gegen-
0139stück zu dieser. Sein Spiel ist nicht kühn, nicht groß, aber
0140von tadelloser Sauberkeit und feinem Geschmacke. Turiner
0141von Geburt, aber in London ansässig, scheint Simonetti
0142weniger italienisches Temperament beibehalten, als englisches
0143aufgenommen zu haben. Er ist vollkommener Gentleman,
0144natürlich ein sehr musikalischer, was man bekanntlich nicht
0145jedem englischen nachsagen kann. Wir hörten von ihm die
0146bekannte Romanze von Svendsen und zwei kleinere ge-
0147fällige Salonstücke eigener Composition: „Mazurka“ und
0148„Madrigal“. Letzterer Titel, für ein Violin-Solo mehr
0149neu als passend, streitet gegen unsere musikgeschichtliche Vor-
0150stellung von „Madrigal“. Der ungemein süße Ton, den
0151Simonetti seiner kostbaren Geige entlockt, erinnert an
0152Sarasate, und zwar an den noch nicht übermüdeten Sara-
0153sate der früheren Jahre. Er hat vor diesem die solidere
0154musikalische Bildung voraus, welche gegen das Vordrängen
0155kleinlicher, verblüffender Kunststückchen reagirt. Simonetti’s
0156Bogen besitzt mehr Geschmeidigkeit und Mannigfalt, als
0157Kraft — wenigstens empfindet er keinen inneren Drang,
0158diese geltend zu machen. So glänzenden Passagenflitter er
0159auch leichter Hand ausstreut, seine schönsten Wirkungen
0160ruhen doch im gesangvollen Vortrage. Cantilenen in so
0161reinen Linien, mit so wenig sentimentalen und koketten Zu-
0162thaten bekommt man nicht von jedem Virtuosen zu hören.
0163Es ist, so lange das Quartett Rosé besteht, vielleicht
0164noch nicht vorgekommen, daß in seinem ganzen, acht Abende
0165umfassenden Programm nur eine einzige Novität gestanden
0166hat. In diesem negativen Resultate wird Rosé’s Quartett
0167noch übertroffen von dem Hellmesberger’schen, welches
0168in dieser Saison gar nichts Neues bringt. Die Production
0169auf dem Gebiete der Kammermusik scheint augenblicklich zu
0170stocken. „Wenn an 130 Componisten Preisopern schreiben,“
0171ruft der Redacteur der „Signale“ aus, was kann da viel
0172für den Concertsaal übrig bleiben?“ Herr Rosé hat mit
0173seinem diesjährigen Solitär wenigstens guten Geschmack be-
0174wiesen: er spielte mit Herrn Ignaz Brüll eine neue Suite
0175für Violine und Clavier von Goldmark. Für diesen
0176Namen war er der Sympathie aller Musikfreunde sicher.
0177Wol in Erinnerung daran, daß eine Violinsuite (op. 11)
0178es war, die nebst der „Sakuntala“-Ouvertüre seinen Ruhm
0179begründete, ist Goldmark jetzt wieder zu jener Form zurück-
0180gekehrt. Das neue Werk entfernt sich übrigens in Form
0181und Inhalt so weit als möglich von unserer Vorstellung
0182einer Suite; mit seinen vier umfangreichen Sätzen: Allegro,
0183Andante, Scherzo, Finale, ist es noch immer mehr Sonate
0184als Suite. Es ist natürlich, daß die fortschreitende Zeit alle
0185Kunstformen weiter entwickelt, bereichert, umgestaltet; die
0186moderne Suite besteht längst nicht mehr, wie die Bach’sche,
0187aus sechs bis acht kurzen Tanzstücken von gleicher Tonart.
0188Aber irgend ein Element ihres ursprünglichen Wesens sollte
0189doch beibehalten bleiben, wenn man den Namen beibehalt. Für
0190die zumeist charakteristische Eigenschaft der Suitenform halten wir
0191die leichtere, melodiösere Fassung, den volksthümlich anklingen-
0192den Inhalt, das Durchklingen von Tanz, Lied, Marsch. Selbst
0193die ausgeführtesten modernsten Werke dieser Form, wie die
0194beiden Serenaden von Brahms, sogar Goldmark’s eigene
0195„Ländliche Hochzeit“ haben echteren Suitencharakter als dessen
0196neueste Kammer-Composition. Diese beginnt (wie die erste Suite)
0197mit einem Allegro, das nach einem gesangvollen Mittelsatz un-
0198verändert repetirt wird, also in Form der üblichen Scherzos.
0199Goldmark setzt mit einem markirten, marschartigen Thema
0200ein, verliert aber schnell die Lust, es in gleich faßlicher ge-
0201fälliger Rhythmik weiterzuführen und abzurunden; er zieht
0202uns in die Unruhe leidenschaftlicher Modulation und Chro-
0203matik. Glücklicher wirkt der zweite Satz, ein sehnsüchtig
0204singendes Andante der Geige über synkopirten Accorden.
0205Die Stimmung wird aber nicht festgehalten, sondern zwei-
0206mal unerwartet durchbrochen — anderer Tact, andere Ton-
0207art, anderes Tempo — bis schließlich die erste Melodie
0208zurückkehrt. Der dritte Satz ist der einzige, dessen Thema an
0209die Tanzform mahnt, eine Art bekümmerter Ländler in B-moll;
0210sein zweites Motiv in Des-dur gibt Anlaß zu einem lang
0211durchgeführten interessanten Canon all’ ottava. Der leb-
0212hafteste, auch umfangreichste Satz ist das Finale; mehr das
0213Product geistreicher Arbeit, als leicht und reichlich fließender
0214Erfindung. Die rhythmische Monotonie der sechs Achtel und
0215das zähe Festhalten an einer und derselben Figur beginnen
0216eben die Totalwirkung zu gefährden, da führt ein schmettern-
0217des Hornmotiv uns gleichsam ins Freie und beschließt das
0218Ganze in fröhlichem Aufschwung. Die kräftige Originalität
0219und Jünglingsfrische von Goldmark’s Erster Violinsuite
0220oder seinem Clavierquintett möge man von der Zweiten
0221nicht erwarten; doch wird man auch dieses, von geistreichen
0222Wendungen reich durchzogene Werk durchaus mit lebhaftem
0223Interesse hören und sich namentlich an den beiden mittleren
0224Sätzen erfreuen. Die Novität wurde von den Herren Rosé
0225und Brüll vortrefflich gespielt; insbesondere hat es uns ge-
0226freut, Ignaz Brüll, das Muster eines ebenso feinfühligen
0227und bescheidenen, als technisch tadellosen Interpreten ernster
0228Musik, wieder einmal am Clavier zu sehen. Die Novität ist
0229überaus günstig aufgenommen worden. Goldmark mußte
0230nach jedem Satz aus seinem Versteck hervorgeholt werden,
0231um für den stürmisch anhaltenden Beifall des Publicums
0232zu danken.