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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 10690. Wien, Dienstag, den 29. Mai 1894

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Aus Briefen von Billroth. III.


0002Ed. H.*) In Mailand, wo wir zusammen Verdi’s „Othello“
0005hörten, bewies Billroth so viel ausdauernde Empfänglichkeit,
0006daß er nach der ermüdenden Oper noch das um halb 12 Uhr
0007beginnende Ballet bis zu Ende genoß, während ich mit dem
0008Othello“ vollständig genug hatte. Bald nach seiner Rück-
0009kehr erkrankte Billroth lebensgefährlich. Diese schwere, lang-
0010wierige Krankheit im Frühjahre 1887 bezeichnet einen tief
0011eingreifenden Abschnitt in seinem Leben. In Karlsbad, wo
0012ich damals zur Cur weilte, erhielt ich von Billroth selbst
0013die erste Nachricht von seiner Rettung; einige Zeilen vom
001431. Mai — Brief und Adresse mit Bleistift geschrieben —
0015welche lauteten:


0016„Herzlichen Dank für deine lieben Zeilen! Die Zei-
0017tungen lassen mich wol aufstehen und umherwandeln, in
0018Wahrheit liege ich noch fest im Bette mit der Empfindung
0019eines eisernen Ringes um die Brust. Ich war so froh, schon
0020halb hinüber zu sein, doch da mich der Hades ins Leben zu-
0021rückgeworfen hat, so freue ich mich doch herzlich, daß man
0022mich hier noch so freundlich wieder empfängt. Es war ein
0023harter Stoß!“


0024Sobald es sein Zustand erlaubte, übersiedelte Billroth 
0025in seine Villa nach St. Gilgen. Mit einem Heroismus,
0026den er sich selber nicht zugetraut, befolgte er die strenge
0027Bewegungs- und Entziehungscur, welche eine Entfettung
0028seines Herzens bewerkstelligen sollte. Seine Kräfte nahmen
0029zu, aber daß er sich nie wieder vollständig von dem „harten
0030Stoß“ erholen werde, das sagte ihm nur zu deutlich die
0031eigene unbestechliche Diagnose. In seinen Briefen mehren
0032sich die weichen, melancholischen Stimmungen; das Bewuß-
0033sein der Pflicht gibt ihm jedoch immer wieder neue
0034Kraft, sich aufzuraffen. Am meisten beunruhigen ihn Zweifel
0035an seiner Arbeitstüchtigkeit. Mit kindlicher Freude erfüllt
0036ihn jede Berufung zu einem auswärtigen Kranken; sie
0037beweist ihm, daß man ihn „noch brauche“, obwol er mit
0038großmüthiger Bescheidenheit nicht müde wird, zu versichern,
0039seine Schüler machten jetzt Alles eben so gut wie er selbst. 
0040Billroth kannte keine Regung des Neides auf die Erfolge
0041seiner Schüler oder Collegen. In St. Gilgen und Abbazia 
0042sehen wir ihn unermüdlich mit ernster Lectüre und eigener
0043Forschung beschäftigt. Die darauf bezüglichen Briefe bedürfen
0044nur in zwei Punkten einer kurzen Erklärung. Fürs Erste
0045hatte Billroth in seinem unbarmherzigen Briefe über Fried-
0046rich Nietzsche behauptet, Nietzsche werde nach seinem defini-
0047tiven Abfalle von Richard Wagner sicherlich wieder noch
0048einmal Wagnerianer werden. Mir schien das undenkbar,
0049denn nach meiner Ueberzeugung verfällt man nie wieder in
0050einen Irrthum zurück, aus dem man sich, redlich kämpfend,
0051einmal herausgearbeitet hat. Darauf bezieht sich Billroth’s
0052Entgegnung in seinem zweiten Briefe contra Nietzsche. So-
0053dann werden die Leser wiederholten Andeutungen, auch län-
0054geren Mittheilungen begegnen über ein musikalisch-physio-
0055logisches Buch, das Billroth zu schreiben beabsichtigte. Ich
0056ermunterte ihn eifrig zur Ausführung dieses Planes, da
0057Billroth — Arzt und Musiker in Einer Person — mir
0058ganz einzig dazu berufen schien, Licht zu verbreiten über das
0059geheimnißvolle Grenzgebiet zwischen der Musik und der
0060Physiologie. Billroth hat sich jahrelang mit diesen Ideen
0061getragen, konnte aber nur in langen Zwischenpausen, während
0062der Ferien, die Arbeit wieder aufnehmen. Sie ist leider un-
0063vollendet geblieben, immerhin aber so weit gediehen, daß sie
0064nicht ohne Vortheil bleiben wird für die Welt. Das um-
0065fangreiche Manuscript, dem Billroth noch zwei Tage vor
0066seinem Tode in Abbazia einige Bleistiftzeilen anfügte, ist mir
0067mit dem Beifügen vermacht, ich möge nach meinem Gut-
0068dünken damit schalten. Die beiden ersten Capitel dieser Ab-
0069handlung, welche den Titel führt „Wer ist musikalisch?“
0070sind von Billroth als druckfertig bezeichnet und werden im
0071nächsten October-Hefte der „Deutschen Rundschau“ erscheinen.
0072Ueber das Weitere, das in flüchtiger Niederschrift, theilweise
0073auf losen Einlagblättern, vorliegt, vermag ich heute noch
0074keine Auskunft zu geben. Ich lasse nun einige von den Briefen
0075Billroth’s aus der Periode nach seiner Krankheit folgen:


0076St. Gilgen, Juli 1887.
0077Wie du aus dem Parere meiner Aerzte ersiehst, geht
0078es mir jetzt relativ recht gut; ich fühle mich muskelkräftig
0079und trainire mich ohne zu viel Ermüdung fürs Bergsteigen;
0080auch das wenig essen macht mir keinen Kummer. Aber,
0081aber, das „wenig trinken“ ist für mich, der ich gewohnt
0082bin, große Mengen von Flüssigkeiten zu mir zu nehmen, 
0083zumal im Sommer, wo ich bei der Hitze transspirire, eine
0084solche Tortur, daß ich nicht weiß, ob ich es durchsetzen werde.
0085Mir den Trunk kalten Quellenwassers versagen, wenn mir
0086die Zunge am Gaumen klebt, beim Speisen und Abends
0087weder Bier, noch Wein, noch Wasser trinken, das halte ich
0088nicht aus; ich habe mir früher einige Energie zugetraut,
0089doch war es immer nur Energie des Handelns; in der
0090Energie des Entsagens war ich nie ein Held, und habe diese
0091Tugend auch nicht geübt, da ich keine Veranlassung dazu
0092hatte. Es ist sonderbar, daß ein solches Verbot, den Genuß
0093von Flüssigkeiten auf das äußerste Maß zu beschränken, zur
0094Folge hat, daß der Trieb dazu sich fortwährend steigert. Der
0095fortdauernde Kampf macht mich in einem Grade nervös,
0096wie ich es kaum je war. Den Tag über bis zum Abend
0097geht es noch, aber Abends, wo ich gewohnt bin, gemüthlich
0098im Kreise meiner Familie am Tische sitzen zu bleiben und
0099mindestens eine Flasche Gumpoldskirchner zu trinken (Goethe 
0100trank jeden Tag bei Tisch drei Flaschen Rheinwein) — da
0101halte ich es nicht aus, wenn ich nicht vom Tisch aufspringe
0102und alles Getränk schnell entfernen lasse. Dann faßt mich
0103aber zuweilen vor dem Schlafengehen auf meinem Zimmer
0104ein förmlicher Durst-Paroxismus, dem ich endlich nachgeben
0105muß, um schlafen zu können; ich würde sonst zur Morphium-
0106spritze greifen, was wol schlimmer wäre, als mein inneres Fett.


0107St. Gilgen, 7. Juli 1887.
0108Bis jetzt habe ich noch sehr wenig Bedürfniß für
0109geistige Beschäftigung. Wie immer, wenn ich hier bin, lebe
0110ich ganz in der Natur. In meinen Gärten hier interessirt
0111mich jeder Strauch, jede Blume. Die Pracht der Rosen ist
0112herrlich; meine Kämpfe mit den Ameisen sind höchst ernst-
0113haft; meine Gartenerdbeeren sind vortrefflich gerathen. Ich
0114habe wieder die kleinen Pariser Radieschen (roth mit weißer
0115Spitze, äußerst weich und zart und doch pikant) angebaut;
0116im vorigen Jahre waren sie trefflich gerathen. Der Salat
0117macht mir viel Sorge; ich bringe es nicht zu festen Köpfen.
0118Woran liegt es? Am Samen, zu wenig oder zu viel Mist,
0119zu viel Sonne u. s. w.? Das sind meine Gedankenkreise!
0120Lache mich darüber aus; aber ich befinde mich dabei viel
0121besser, als bei der aufreibenden Sorge um kranke Menschen
0122in Wien. Könnte ich, wie ich wollte, ich legte schon jetzt
0123mein Amt nieder und bliebe den größten Theil des Jahres
0124hier, lebte einige Wintermonate bald in dieser, bald in jener
0125großen Stadt, ohne eigene Wirthschaft zu führen.

[2]


0126St. Gilgen, 31. Juli 1888.
0127Endlich sitze ich ruhig in meinem Tusculum. Wir haben
0128eben zu Nacht gespeist und ich habe mich auf mein Zimmer
0129zurückgezogen. Nach zweimonatlicher Zerstreuung der ein-
0130zelnen Familienglieder in drei Gruppen sind wir endlich
0131wieder beisammen, und ich fühle mich vollkommen als
0132Patriarch. Ich schreibe bei offenen Fenstern um 10 Uhr
0133Abends. Sternklar ist die Nacht. Wunderbar friedlich die
0134Stille ringsumher; nur der Brunnen plätschert fort;
0135die Quelle fließt seit Jahrtausenden und wird nach
0136Jahrtausenden ebenso fließen. Wie klein und kurzlebig
0137ist doch der Mensch gegenüber dieser großen, ewigen
0138Natur.


0139Du weißt doch immer etwas Besonderes zu finden,
0140was mich freut; die Aussprüche von Moriz Hauptmann 
0141sind mir wie in eigener Seele entstanden und empfunden.
0142Wir tadeln so oft Componisten, wenn uns ihre Werke ge-
0143quält und gesucht erscheinen, und merken das als einen der
0144stärksten Fehler an. In den letzten Quartetten Beethoven’s
0145kann ich nicht finden, daß das gewiß ernste Streben, immer
0146Neueres und Schöneres neuer und schöner zu gestalten,
0147erreicht ist; mir scheint, daß hier das musikalisch Schöne
0148aufhört. Von den späteren Claviersonaten muß ich immer
0149noch den einen oder andern Satz als wunderbar schön be-
0150zeichnen; es kommen da gewisse Inventionen vor, die mich
0151entzücken. Zum Beispiel der erste Satz der letzten Sonate 
0152in C-moll, auch das Thema zu den mich wenig erfreuenden
0153Variationen, dann das Adagio der B-dur-Sonate mit der
0154gräßlichen Schlußfuge; das Adagio der Neunten Symphonie 
0155ist für mich ein vollendet schöner Satz, in dem sich Erfin-
0156dung und interessante Gestaltung in einer Weise verschmilzt,
0157daß ich nichts Schöneres und Interessanteres in der Musik
0158zu nennen wüßte. — Bei großen pathetischen Compositionen
0159unseres Freundes Brahms werde ich auch zuweilen stutzig,
0160wüßte aber bisher keine solchen Verirrungen ins musikalisch
0161Unschöne in ganzen Sätzen oder ganzen Compositionen zu
0162nennen, wie die drei bis vier letzten Quartette Beethoven’s
0163sie aufweisen, von der Fuge für Streichquartett gar nicht
0164zu reden. Ich kenne von Beethoven überhaupt nur Eine
0165schön klingende Fuge, das ist der letzte Satz aus dem großen
0166C-dur-Quartett. Was mich jetzt bei Brahms hinreißt, sind
0167Sachen, in welchen die schönsten Erfindungen mit schönst
0168klingenden Polyphonien verbunden sind, wie neuerlich in 
0169dem C-moll-Trio und den Zigeunerliedern. Wie in den
0170Liebesliedern mit Begleitung à quatre mains wirst du auch
0171bei den Zigeunerliedern gewiß nicht nur den glücklichen
0172Griff, sondern ebenso sehr die meisterhafte Gestaltung in
0173jeder einzelnen Singstimme bewundern. Diese immer wieder
0174von Zeit zu Zeit auftauchende frische Unmittelbarkeit läßt
0175mich hoffen, daß Brahms noch lange dauern wird; in den
0176kleinen Formen zeigt er oft mehr vollendete Meisterschaft,
0177wie in den großen Werken, in welchen er, wie mir scheint,
0178den Höhepunkt erreicht hat.


0179Die Quelle rauscht draußen immer fort. Es hat wol
0180seine guten Gründe, daß der griechische Mythos den Pegasus,
0181das Dichterroß, aus einer Quelle trinken ließ. Die Dichtung
0182ist doch die einzige Kunst, die so lange existirt, als es Men-
0183schen gegeben hat. Sie hängt so sehr mit der Religionsbil-
0184dung zusammen, mit der Vermenschlichung der Naturkräfte,
0185mit der Furcht und Freude der Menschen über die ihnen
0186günstigen und gefährlichen Naturkräfte, daß sie davon lange
0187nicht zu trennen ist; ist doch die Religion in ihren verschie-
0188densten Formen die schönste Dichtung. Ja selbst unsere mo-
0189dernste Naturforschung steht auf einem Berge, von welchem
0190sie mit klarem Auge nach einer Seite Alles klar vor sich
0191sieht; doch wendet sie sich um, so steht sie vor einem Wolken-
0192meere. Wer nicht befriedigt ist mit dem Blick in die klare
0193Ebene, sondern sich immer auf die andere Seite wenden
0194muß, der muß eben dichten, glauben. Es war immer so,
0195so lange sich Menschen aufwärts bewegt haben; wir sind
0196etwas höher gestiegen, doch die Wolken bleiben auf der
0197andern Seite immer dieselben.


0198Die bildenden Künste sind immer nur eine Repro-
0199duction unserer Augenwelt; sie bilden eben nach, was
0200unseren Augen schön erscheint. — Mit unserer Gehörwelt
0201ist es ein ganz eigen Ding. Da das Gehörschöne nichts
0202nachahmt, nichts nachbildet, so hat es doch eine nahe Ver-
0203wandtschaft zum reinen Anschauen der Natur, das eben einen
0204schönen Eindruck auf uns macht, ohne daß wir irgendwo
0205einen Maßstab dafür fordern, mit dem wir ein Richtiges
0206oder Falsches ausmessen könnten. Das „musikalisch Schöne“
0207ist so vergänglich fast wie das „Conventionelle“, wenn wir
0208das Triviale von diesem fatalen Worte abstreifen können —
0209man könnte wol besser sagen, die musikalischen Menschen
0210sind gleich einem Freimaurerbund mit unbewußtem Bande
0211mysteriös verbunden.


0212Wer ist musikalisch? Das wäre so eine Ueberschrift für
0213ein Essay für dich. Wie complicirt ist dieser Begriff! Der
0214Eine hat vorwiegend rhythmisches Talent und Empfindung
0215(das elementar-rhythmische Moment im Menschen ist der
0216Herzschlag), der Andere hat vorwiegend melodisches Talent
0217(Melodie ist vom Rhythmus nicht zu trennen; die Gliede-
0218rung des menschlichen Körpers, seine Doublirung nach hori-
0219zontaler und verticaler Richtung ist ein Theil seiner elemen-
0220taren Grundlage); wieder ein Anderer erscheint musikalisch
0221durch ein eminent technisches und mechanisches Talent
0222(elementares Moment: die Freude an der Ueberwindung
0223von Schwierigkeiten als Hauptprincip des gesteigerten Selbst-
0224bewußtseins); wieder ein Anderer erscheint musikalisch durch
0225eine Uebertragung seines intensiven Temperaments im dra-
0226matischen Ausdruck (elementares Element: Wunsch, so groß-
0227artig wie möglich zu erscheinen, wie etwa der Pfau, der
0228sein Rad vor dem Weibchen schlägt); wieder ein Anderer
0229durch colossales Tonformen- und Rhythmen-Gedächtniß,
0230wieder ein Anderer durch Hingabe an die sinnliche Gehörs-
0231wirkung u. s. w.


0232In mir ist Alles Chaos. Ich täusche mich gern darüber,
0233daß ich nur phantasmagorire; ich könnte auch einmal etwas
0234Vernünftiges über Dinge schreiben, die außer meinem
0235Beruf liegen; die kurzen Ferien seien nur daran schuld,
0236daß sich nichts in mir zur Reise ausbildet. Ich bilde mir,
0237wie gesagt, solche Dinge gerne ein. Doch bin ich mir dieser
0238Einbildung bewußt. Auch in meiner Special-Wissenschaft
0239habe ich nur anregend, nur als Pionnier und Mineur ge-
0240wirkt; doch wenn das Terrain geebnet, der Weg gefunden,
0241die Mine gesprengt war, dann ließ ich gern Andere dort
0242bauen und Früchte ernten.


0243St. Gilgen, 15. August 1888.
0244Ich habe immer noch zu viel Respect vor der Drucker-
0245schwärze, und es steckt immer noch zu viel vom pedantischen
0246Fachschriftsteller in mir, als daß ich mich zum Schreiben
0247über Dinge hinsetzen könnte, deren Fundamente, Geschichte
0248und Literatur ich nicht beherrsche. Von allen Geisteswissen-
0249schaften haben mich nur Psychologie, Aesthetik und Ethik
0250wirklich interessirt. So oft nun Gedanken aus diesen Ge-
0251bieten in mir aufsteigen und sich concentriren, finde ich
0252daß die Schlüsse aus meinen Speculationen so furchtbar
0253einfach, ja so einfältig und selbstverständlich sind, daß ich
0254mir denke, das ist gewiß schon hundertfältig so gedacht und [3]
0255gesagt; so Alltägliches soll man doch nicht niederschreiben.
0256Nun habe ich, so weit es meine Zeit erlaubt, in den
0257letzten Jahren viel Philosophisches gelesen, um mich über
0258den Stand der Dinge zu orientiren. Jetzt beschäftige ich
0259mich mit den dickleibigen Werken von Wundt, der früher
0260Naturforscher, Physiologe und Anatom war, und dann zur
0261Philosophie überging.


0262Wundt gehört zu den Menschen, die (wie Lotze,
0263Lazarus u. A.) Alles kritisch so zersetzen und auflösen, daß
0264sich Alles zu Flocken verflüchtigt; die Versuche dieser Herren,
0265aus dem zu Dunst aufgelösten und ins Unendliche, Un-
0266kennbare sich Verflüchtigenden wieder irgend etwas Har-
0267monisches zu gestalten, fallen meist sehr schwach aus. Ich
0268gestehe ja gerne zu, daß man auf dem Gebiete der exacten
0269Wissenschaft genau die Grenzen erkennen und bezeichnen
0270muß, wo man ganz einfach sagt: „Wir sind nicht in der
0271Lage, darüber etwas wissen zu können“ (Skoda’s stereotype
0272Redensart), doch da beginnt nun doch das „künstlerische“
0273Gebiet, auf welchem mir eine geistvolle Hypothese lieber ist,
0274als ein leerer Raum. Mit ersterer kann die Wissenschaft
0275wieder anbandeln und dadurch auch wol wieder neues
0276Wissen schaffen; mit dem leeren Raum ist nichts weiter zu
0277machen. — Wenn ich bei meinem Spazierenklettern hier
0278vor eine Felswand komme, so weiß ich auch, daß ich da
0279nicht hinauf kann; ich muß eben wieder etwas zurückklettern
0280und finde einen Umweg, auf dem ich doch vielleicht auf die
0281Spitze der Felswand komme, vor der ich früher rathlos
0282stand. Auf diese Weise bin ich in meiner Special-Wissen-
0283schaft doch zuweilen weiter gekommen, als Andere, und wenn
0284ein Versuch einer Umgehungs-Hypothese mißlang, so suchte
0285ich einen andern.


0286St. Gilgen, 24. September 1887.
0287I. Act. Der miselsüchtige Chirurg. 
0288Ich gehe mit etwas beklommenem Herzen von hier fort,
0289wo ich meine Gesundheit wieder fand und, wie man mir
0290allgemein sagt, meine Lebensuhr scheinbar um einige Jahre
0291zurückgestellt habe; vielleicht nicht nur scheinbar, denn ich
0292fühle mich jünger und kräftiger, als seit Jahren. Und doch
0293plagen mich manche Scrupel. Ich sehe nicht recht ein, was
0294ich in Wien soll. Was erwartet man eigentlich noch von
0295mir, dem müden Manne, der im 59. Jahre steht? Das
0296freie ungebundene Leben hier in der Natur, mit der ich mir 
0297fest verwachsen vorkomme, hat meine Arbeitslust eher ver-
0298ringert als gesteigert; ich fühle mich in Wien unnöthig für
0299meine Wissenschaft und die Praxis. Meine geistigen Söhne
0300wachsen mir über den Kopf, neue zu zeugen fehlt mir Lust
0301und Kraft. Doch jetzt schon meinen Abschied nehmen darf
0302ich nicht wegen meiner Familie; auch wäre es undankbar
0303gegen meine Freunde, deren Zahl und Anhänglichkeit sich
0304bei meiner Krankheit größer erwiesen hat, als ich zu ver-
0305muthen wagte. Ein Redivivus ist selten ein willkommener
0306Gast. Wie wird es mir in der Klinik, in der Praxis gehen?


0307II. Act. Der reisende fröhliche Bader. 
0308Aus dieser Stimmung reißt mich ein Telegramm aus
0309Triest; man wünscht mich dort zu einer Operation und
0310diversen Consultationen, noch bevor ich meine Geschäfte in
0311Wien aufnehme. Man wünscht mich also doch noch irgendwo,
0312nicht nur im Lande, wo der Pfeffer wächst, sondern an der
0313Adria, wo ich so gerne weile! Nun werde ich ganz lustig
0314über Aussee, Bruck, Leoben nach Triest fahren, unterwegs
0315bei meinem Schüler Wölfler einkneipen und Mittwoch in
0316Triest sein. Natürlich werde ich auch mein liebes Abbazia 
0317besuchen.


031818. October 1888.
0319Beifolgend also Fortsetzung und Schluß meiner Apho-
0320rismen: „Was uns die Malerei erzählt.“ Neues ist schwerlich
0321darin. Doch Manches aus dem Metaphysischen ins Psycho-
0322logische übersetzt — eine Art der Bewegung, welche die
0323ganze moderne Philosophie durchzieht. Für mich hat diese
0324Schreiberei die gute Folge gehabt, daß sie mich eine zeitlang
0325von gewissen ästhetisch-psychologischen Grübeleien befreit. Es
0326geht damit wie mit den in Worte gefaßten Melodienzügen:
0327Frühlingsblumen und Duft werden zu Nebelgrauen und
0328schwinden wie ein Hauch! — Freilich dämmern wir lieber
0329im unklaren Scheinen als in den Pappel-Alleen psycholo-
0330gischer Wahrheit bei hellem Sonnenschein. Doch der Tag
0331vergeht, die Sonne sinkt und das Abendroth und die Däm-
0332merung umfangen uns mit neuen Träumereien.


0333Jedenfalls habe ich mich etwas im Ausdruck geübt und
0334manche ästhetische Eindrücke auf einheitlichere Grundwirkungen
0335zurückgeführt. So werde ich denn wol, wenn die Dämme-
0336rung wieder kommt und ich nicht zu müde geworden bin,
0337mich auch einmal an Aehnliches über Musik machen, will
0338es aber dann gleich von Anfang besser ordnen.

Fußnoten
  • *)Siehe Nr. 10675 der „Neuen Freien Presse“ vom 13. Mai
    und Nr. 10685 vom 24. Mai.