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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 10701. Wien, Samstag, den 9. Juni 1894

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Aus Briefen von Billroth. VI. (Schluß.)


0002Ed. H.*) Die Briefe aus Billroth’s letzten Jahren geben
0006uns ein treues Bild von der geistigen Spannkraft und all-
0007seitigen Empfänglichkeit, welche der bereits Schwerkranke sich
0008bis ans Ende bewahrt hatte. Kämpfend mit einem Herz-
0009leiden, das jeden Andern zu muthloser Passivität nieder-
0010gedrückt hätte, bethätigt Billroth unausgesetzt den lebendigsten
0011Antheil an den Erscheinungen der Literatur, Musik, Politik.
0012Dieses Interesse bleibt nicht blos aufnehmend, es wird zu-
0013gleich productiv in seiner oft zu kleinen Abhandlungen an-
0014wachsenden Correspondenz, in seinem eisig fortgesetzten
0015Essay über Musik, in seinen epochemachenden Reden im
0016Herrenhause. Unter dieser erstaunlichen, vielseitigen Geistes-
0017thätigkeit strömt aber in Billroth’s letzten Jahren ein merk-
0018würdiger neuer Zug: sein inniges Sich-Eins-fühlen mit der
0019Natur. Es ist dies ein ganz Anderes, als Billroth’s Natur-
0020genießen in seinen bewegteren jüngeren Tagen, wo er land-
0021schaftlicher Schönheit objectiver, mehr als beschauender
0022Künstler gegenüberstand. Auf unseren gemeinsamen Reisen
0023sah ich ihn manche Gegend bewundern, auch wol, wenn sie
0024seinen Erwartungen nicht entsprach (wie der Vesuv oder die
0025Blaue Grotte), humoristisch kritisiren, aber sie blieb ihm
0026doch Object, wie ein Gemälde, und mußte bald seinem
0027Drange weichen, wieder Anderes, Neues zu sehen. In seinen
0028letzten zwei Jahren wandelt und vertieft sich dieses Ver-
0029hältniß; wir beobachten an Billroth ein unmittelbares,
0030inniges Mitfühlen der Naturstimmung, ein stilles, dabei
0031leidenschaftliches Versenken in ihre Einzelheiten. Sein Puls
0032pocht in geheimnißvoller Sympathie mit dem Pulse der
0033Natur. In dem engen Umkreise von St. Gilgen und
0034Abbazia, über den hinaus es ihn nicht mehr drängte, wird
0035er Eins mit dem Leben der Landschaft. „Ich fühle mich
0036als Stück der Natur, als Fels, als Woge, als Baum, als
0037Himmel.“ Dieser Zug hatte für mich etwas tief Ahnungs-
0038volles, dabei rührend Großartiges, indem Billroth’s Natur-
0039schwärmerei nie in thatlosem Quietismus erschlaffte, sondern
0040in steter Wechselwirkung blieb mit geistiger, oft angestrengt
0041geistiger, productiver Thätigkeit.


0042Abbazia, 6. Januar 1888.
0043Ich lag bis heute Abends in dem Banne von philo-
0044sophischen Schriften, deren Lectüre ich immer verschoben
0045hatte. Es sind sechs Abhandlungen von meinem Collegen
0046Salomon Stricker, die mich ungemein gefesselt haben.
0047Ich hatte früher nur indirecte Kenntniß davon, doch als ich
0048in diesem Frühjahr nach unserem Zusammensein in Mai-
0049land und Lugano zufällig Nr. 6 dieser Schriften in die
0050Hand bekam, fand ich, daß er nicht aus Eitelkeit, ein
0051Polyhistor zu scheinen, schreibt, sondern aus innerem Be-
0052dürfniß. So zog es mich denn, Alles zu lesen, was er in
0053letzter Zeit veröffentlicht hat; denn ich empfand, daß in ihm,
0054wie in mir der Drang unüberwindlich ist, die sogenannte
0055Philosophie auf anatomisch-physiologische Beine zu stellen.
0056Die Welt hat mich im letzten Decennium bewundert über
0057die neuen Operationen, welche ich, als auf anatomischen
0058Studien basirt, für ausführbar hielt und wirklich ausführte,
0059wie Kehlkopf-Exstirpation, Magen-Resectionen und manches
0060Andere. Ich habe meinen Schülern die Veröffentlichung dieser
0061Operationen überlassen, die anfangs nur als Virtuositäten
0062operativer Technik imponirten, bis die Zunft sich ihrer bald
0063als Handwerk bemächtigte, gerade so wie heute die Liszt’sche
0064Technik jedem jungen Clavierspieler eingeimpft wird und er
0065überhaupt gar nicht daran denken darf, Clavierspieler zu
0066sein, ohne diese Technik zu beherrschen. — Doch so wie
0067Liszt auf diese Dinge gar nichts mehr gab, sondern in einer
0068ganz andern Richtung zu streben sich bemühte, so ging es
0069auch mir. Ich thue in Wien meine Schuldigkeit als Lehrer
0070und Arzt, doch so ich fort von Wien bin, erfassen mich mit
0071unwiderstehlicher Gewalt zwei Probleme: 1. Ist es möglich,
0072dem Ich-Bewußtsein und 2. dem sogenannten „Moralischen
0073im Menschen“ auf anatomisch-physiologischer Grundlage bei-
0074zukommen? ... Noch habe ich nie die Feder angesetzt, um
0075meinen Ideen Form zu geben. Es ist zweifelhaft, ob ich je
0076dazu komme. Aber es lebt eben Jeder in einer gewissen
0077Illusion. Du hast das Talent. ... Mir wird das viel
0078schwerer; mir fehlt dazu die Unmittelbarkeit, die Naivetät.
0079Ich werde zu leicht abgezogen. Die Empfindung für die
0080Natur, das Einswerden mit ihr hemmt auch mich hier wie 
0081in St. Gilgen. Ich fühle die warme Sonne auf dem unter
0082meinem Fuß knisternden Schnee, das tiefblaue Meer, den
0083Himmel wie Email über mir, das tiefe Grün der Lorbeern
0084u. s. w. zu sehr, als daß ich mich auf andere Gedanken
0085concentriren könnte. Ich fühle mich als Stück der Natur,
0086als Fels, als Woge, als Baum, als Himmel, und da ver-
0087flüchtigen sich meine Speculationen. Und in Wien, da herr-
0088schen die Menschengedanken wieder zu sehr vor, und so wird
0089nichts — Alles bleibt Vorempfindung, „unendliches Melo-
0090disiren ohne Melodie“!


0091Wien, October 1888.
0092Sueß’ Rede hat mich heute entzückt. Wenn mir der
0093Inhalt auch nichts Neues brachte, da ich mich seit Jahren
0094mit den von ihm berührten Dingen beschäftige, so war doch
0095die Form meisterhaft, ungemein geistvoll. —


0096— Sorgen um die Zukunft verbittern mein Leben;
0097wie lächerlich ist doch ein alter Mensch, der für die wenige
0098Zukunft, die er noch hat, sich hundertmal mehr Sorgen
0099macht, als ein junger Mensch, der noch eine lange Zukunft
0100vor sich hat! —


0101Wien, Februar 1888.
0102Ich führe ein sehr liederliches Leben. Seit ich von
0103Abbazia zurück bin, war ich keinen Abend zu Hause oder
0104hatte Leute bei mir. ... Du wirst die Achsel zucken und
0105mir zurufen: Chamäleon, Salamander! Nun jedenfalls
0106besser als Kameel und andere Viecher. Ich bin dabei kreuz-
0107fidel und mache mir keine Sorgen. Wie schade, daß ich mich
0108nicht auch noch wie der alte Goethe verlieben kann; doch
0109dazu hat mir immer das Talent gefehlt und sich weder in
0110der Stille noch im Strom der Welt entwickelt. Wenn ich
0111wieder vernünftig bin — Alles kommt bei mir in Anfällen
0112— hoffe ich deiner Nähe und Freundschaft wieder würdig
0113zu werden!


0114Wien, Februar 1889.
0115Hörte im Carl-Theater „Capitän Wilson“. Die
0116Musik ist nur mit Zwang in die Handlung verflochten und
0117sehr schwach. Alles nach der Schablone des „Mikado“.
0118O heiliger Jacques Offenbach! Classischer Heros des musi-
0119kalischen Talents! — Wie sonderbar diese Sechzehntel-
0120Genies! wie Schumann sagt. Welch glücklicher Griff im
0121Mikado“: Stoff, Land, Ausstattung, Humor, Satire,
0122seines Zurückgreifen auf die alte Form des Madrigals, [2]
0123englische National-Melodien Offenbachisch geformt — Alles
0124scheint intensiv Talent! Gerade so Lecocq; wir hörten
0125Angot“ zusammen in Neapel, im gleichen Jahre hörte ich
0126Angot“ in Stockholm. So wurde auch der „Mikado“ ubi-
0127quistisch wie die Schimmelpilze und gewisse Bacterien,
0128Wesen, deren Keime auf den Spitzen des Micimborosso
0129und in den Kohlengruben der Gebrüder Gutmann vorkom-
0130men, eine Art Allgegenwart, in der die Weltseele eine Art
0131Gottheit vermuthen könnte wie im „Mikado“ und in der
0132Angot“! Aber, o weh! Bei Nr. 2 schon Alles aus! Die
0133Gottheit des Talents von Talmi! Man hat die Fata
0134morgana für Wirklichkeit genommen. Wenn das Wesen der
0135Kunst im „schönen Schein“ besteht, so gibt es auch noch
0136eine Kunst, ihr den Anschein eines schönen Scheins zu geben.
0137(Nimm’s nicht zu ernsthaft!)


0138Abbazia, 9. Januar 1892.
0139Draußen furchtbarer Gewittersturm; es blitzt und
0140donnert wie im Juli; die Wogen spritzen hoch in die Höhe
0141in den Park hinein; die ganze Natur im höchsten Aufruhr!
0142Frau und Kinder packen in den Nebenzimmern Alles zu-
0143sammen zur Abreise. Ich wäre zu gern heute mit nach
0144Wien gefahren, da mich das vollkommene Nichtsthun schon
0145sehr ödet. Doch mein Katheder kommt doch noch allzu leicht
0146wieder, und meinen Kräften fehlt noch der gewisse Ueber-
0147schuß, über welchen ich disponiren muß, wenn ich mit Freu-
0148den arbeiten soll. — Dein lieber Brief vom Drei-Königs-Tag
0149hat mir sehr wohl gethan. Wenn mir meine Frau auch zu-
0150weilen den Kopf wäscht über meine Raunzereien, so wirkt
0151das doch nicht mehr viel. Deine freundlich strenge Straf-
0152predigt über meine Ungeduld und Ungeberdigkeit habe ich
0153mir dankbarst hinter die Ohren geschrieben. Doch ich bin
0154oft so tieftraurigen Stimmungen unterworfen, daß ich mir
0155schon selber recht zuwider bin. Ich finde kaum Stimmung
0156zum Lesen; vom Schreiben oder längerem consequenten
0157Denken ist noch gar keine Rede. Den Sitz neben dir am
015817. nehme ich dankbarst an. Auf vergnügtes Wiedersehen!
0159Sophie trage ich auf, in dieser Influenza-Zeit ganz beson-
0160ders auf dich Acht zu nehmen.


0161Wien, März 1892.
0162In Mascagni’s „Amico Fritz“ klingt mir Vieles
0163geradezu widerwärtig; daß man sich an jede musikalische 
0164Klangfratze gewöhnen soll, ist doch viel verlangt. Indeß bin
0165ich überzeugt, daß wir noch lange nicht am Ende sind.
0166Man wird dazu kommen, das beliebige Hin- und Her-
0167schlagen mit Fäusten auf dem Clavier in irgend welchen fünf-
0168oder siebentheiligen Rhythmen auch noch für interessante
0169Kunst zu halten. Erst dann wird man, wenn man ganz
0170ins natürliche bestialische Chaos zurückgefallen ist, wieder von
0171vorne anfangen. So wird es auch mit dem Ethischen und
0172Socialen gehen, das sich die Culturnationen mühsam erworben
0173haben. Man will zum bestialischen Urzustand zurück. Freut
0174mich, daß ich es nicht erlebe. — Das Clarinett-
0175Quintett
von Brahms! Wie anders wirkt dies Zeichen
0176auf mich ein! Freilich gibt es wol kaum ein Kammermusik-
0177stück, was in der vierhändigen Bearbeitung so wenig von
0178dem wonnigen Klangreiz zu bieten vermag, als dieses
0179Quintett. Und doch! Dies Skelet ist von einer so wunder-
0180baren Schönheit für den musikalischen Anatomen, daß es
0181für den, welcher das Original kennt, sich mit Fleisch und
0182Haut bedeckt und zum schönsten Individuum wird. Hier ist
0183Alles ausgesucht schöne Form und Klangschönheit. In der
0184knappen Form aller Sätze vollendete classische und doch
0185interessante Schönheit. Nichts Häßliches und doch viel inter-
0186essanter als der ganze Mascagni mit seinen Fratzen. Ich
0187habe das Stück heute dreimal mit Frau Groll durch-
0188gespielt, und wenn ich danach nicht völlig nervös erschöpft
0189gewesen wäre, so hätte ich gern von vorne angefangen. Es
0190ging das drittemal erträglich; doch ob ich es bis Samstag
0191nicht wieder vergessen habe, dafür möchte ich nicht stehen.
0192Ich habe den Baß gespielt. Mit den Clarinett-Coloraturen
0193im Adagio wirst du dich vorher befassen müssen, wenn wir
0194es spielen wollen. Ich fürchte, du wirst überhaupt an manchen
0195Stellen sehr nervös werden, wo Viertel, Achtel, Triolen,
0196Synkopen etc. immer ganz ungenirt neben einander hergehen
0197und dabei doch das Ganze einen ruhigen Eindruck machen
0198soll. Ich komme Samstag 7 Uhr und freue mich sehr darauf.


0199Abbazia, 3. Januar 1893.
0200Durch eigene Studien und eigenes Grübeln bin ich
0201schon lange zur Ueberzeugung gekommen, daß es für den
0202Menschen absolute Begriffe wie „schön“ und „gut“ seiner
0203ganzen Natur und seinen bisherigen socialen Gestaltungen
0204nach überhaupt nicht geben kann; denn man muß sich doch 
0205immer fragen: „Schön“ für wen? „Gut“ für wen? Es
0206sind im höheren Sinne conventionelle, mit der Veränderung
0207und Cultur der menschlichen Gesellschaften unlösbar ver-
0208bundene, fortwährend wechselnde Begriffe. Sie sind deßhalb
0209nicht weniger werthvoll, weil sie conventionell sind; denn
0210die aus dem Altruismus hervorgegangene Convention ist
0211eine der stärksten Fundamente der Ethik und der Aesthetik.
0212Wenn ich noch einen Moment über diese Dinge im Zweifel
0213gewesen wäre, so würde mich ein Buch, das ich mit Heiß-
0214hunger verschlinge, Herbert Spencer’s „Sociologie“, darüber
0215völlig ins Klare gebracht haben.


0216Ungemein schwierig ist es nun auf dem Gebiete jeder
0217Kunst für den innerhalb einer Zeit Stehenden zu beurtheilen,
0218nach welcher Richtung hin sich eine weitere Entwicklung
0219kundgibt; ja man hat schon oft Fortschritt für Rückgang
0220oder Rückgang für Fortschritt gehalten. Es ist mit den
0221socialen Verhältnissen nicht anders. Die meisten Menschen
0222halten Social-Demokratie und Communismus für Fort-
0223schritt; die sociologischen Historiker sagen, es ist ein Rück-
0224schritt zu bereits überwundenen Formen der Gesellschaften
0225und Staaten. Nur in den Naturwissenschaften wissen wir
0226immer sehr bald, ob eine Beobachtung, eine Zusammenhangs-
0227Erkenntniß neu ist oder nicht.


0228Wir befinden uns zur Zeit mit der Musik, so viel ich
0229es zu beurtheilen vermag, auf einem Punkte, wo eigentlich
0230Niemand sagen kann, was werden wird. (Es ist wol mit
0231den modernen Künsten zur Zeit nicht besser bestellt.) Man
0232denkt sich wol zuweilen, es müßte Jemand kommen, der un-
0233erschöpflich an neuen, bisher noch nicht gehörten Melodien
0234ist. Ist aber unsere jetzige Generation auch noch empfänglich
0235dafür? Das ist mir sehr zweifelhaft. Der Culturmensch will
0236immer etwas Neues von Zeit zu Zeit haben. Was soll ihm
0237die Musik Neues bringen? Sollen die Stücke complicirter,
0238polyphoner werden, um das Interesse an dem Ineinander-
0239winden der Tonformen zu reizen? Man kann die Motive
0240doch nur nacheinander oder nebeneinander bringen, entweder
0241wie sie sind oder in veränderter Form. Man kann das Ein-
0242zelne und das Ganze kürzer oder länger machen. Bruckner 
0243wählt das Letztere. Daß eine Symphonie ein Concert aus-
0244füllt, war wol noch nicht da, es ist neu, die neuen Gene-
0245rationen wollen vor Allem etwas Neues. Die Kritiker wollen [3]
0246auch etwas sein; sie klammern sich an das Neue und kommen
0247sich dabei selbst neu und interessant vor; sie schrauben sich
0248in ihrer bornirten Phantasie zu Vorkämpfern einer neuen
0249Aera hinauf und kommen sich dabei viel wichtiger vor wie
0250der Held, den sie auf ihrem Schild tragen.


0251Es wäre wol ganz interessant, zu hören, was für Musik
0252man in hundert Jahren machen wird, doch wir werden wol
0253kaum Aussicht haben, hier am Karst oder sonstwo, wie der
0254Meister von Palmyra, einem Geist zu begegnen, der uns
0255ein ewiges Leben schenkt; so thun wir wol am besten, uns
0256an dem zu erfreuen, was wir haben, und übrigens dem
0257Grundsatze zu huldigen: „Mensch, ärgere dich nicht!“


0258Abbazia, 3. März 1893.
0259Ueber mich weiß ich dir nichts Neues zu erzählen, als daß
0260ich mit größtem Behagen das Studium von Herbert Spencer’s
0261Sociologie“ fortsetze; es scheint mir wie ein Buch der
0262Bücher, wie eine Bibel. Freilich ist auch letztere nicht nach
0263Jedermanns Geschmack. — Am 9. April will ich nach Wien 
0264zurück, eine Woche für die Vollendung des Rudolphiner-
0265hauses betteln gehen, dann für das Haus der Gesellschaft
0266der Aerzte und dann für meine Zukunftsklinik arbeiten: drei
0267Nägel zu meinem Sarge. Ich wollt’, ich läge erst drin;
0268denn das langsame Hinabkriechen ist gar nicht nach meinem
0269Geschmack.


0270St. Gilgen, 11. Juli 1893.
0271Hoffentlich besuchst du mich bald. Es geht mir augen-
0272blicklich recht leidlich. Ich hatte jetzt in Wien fünf Wochen
0273strenger Arbeit; vier Wochen lang ging es gut; die letzte
0274Woche war ich sehr müde und abgespannt. Mit Hilfe von
0275Digitalis habe ich mich wieder aufgepulvert; ohne dieses
0276merkwürdige Mittel will mein altes Herz nicht mehr recht
0277arbeiten. Man gewöhnt sich auch daran. Jedenfalls geht es
0278mir besser als im vorigen Jahre. Mein Tagwerk ist voll-
0279endet, Alles von mir Geschaffene so organisirt, daß es nun
0280auch ohne mich geht. An der „Manie d’être“ leide ich nicht.
0281Fühle ich mich nach Ablauf der Digitalis-Wirkung oder nach
0282angestrengter Arbeit recht elend, so habe ich heiße Todes-
0283sehnsucht; geht es mir mit der Digitalis besser, so finde ich
0284das Leben stellenweise noch ganz angenehm. Ein solcher
0285Moment würde eintreten, wenn du mich bald einmal
0286besuchtest.


0287Wien, 20. December 1893.
0288Für die Empfehlung des Böhmischen Quartetts 
0289bin ich dir sehr dankbar. Lag es an meiner Stimmung
0290oder war es wirklich so: ich hatte den Eindruck, noch nie
0291einen so schönen Zusammenklang gehört zu haben, und doch
0292habe ich die Gebrüder Müller, Spohr’s Hausquartett mit
0293dem Meister als Primgeiger, das Pariser Quartett (in
0294Berlin vor fünfundzwanzig Jahren), Joachim-Quartett,
0295Becker-Reckmann-Quartett gehört, also wol das Beste, was
0296man in den letzten fünfundvierzig Jahren hatte. Vollkommene
0297Reinheit, einfacher, unverkünstelter Vortrag, geschmackvolle
0298Phrasirung ohne Uebertreibung. Ob sie die psychische und tech-
0299nische Kraft haben, wie sie etwa für das D-moll-Quartett 
0300von Schubert und manche energische Stücke von Brahms 
0301nöthig ist, lasse ich dahingestellt. Das bescheidene Auftreten,
0302zumal des Primarius, berührt besonders angenehm. Kurz,
0303Alles zusammen wirkt im höchsten Grade musikalisch und
0304wohltuend, so rein künstlerisch. Das Es-dur-Clavier-
0305Quartett von Dvořak ist wol keine von seinen genialsten
0306Compositionen, doch hat es mir — so gespielt, so einheitlich
0307vorgetragen — sehr gut gefallen. — Vom böhmischen
0308Quartett zu böhmischen Volksliedern ist kein zu großer
0309Schritt. Man sagt meist, die Slaven seien ein melancho-
0310lisches Volk und haben deßhalb vorwiegend Volkslieder in
0311Moll. Brahms behauptet, es sei nicht wahr, daß die sla-
0312vischen Volkslieder vorwiegend in Moll seien. Er theilte mir
0313aber mit, daß du eine besonders zahlreiche Sammlung sla-
0314vischer Lieder habest. Du würdest mir einen großen Gefallen
0315erweisen, wenn du beliebig die ersten hundert Stücke heraus-
0316nehmen und abzählen möchtest, wie viele davon in Moll
0317stehen. Es kommt mir viel darauf an, das Factum zu
0318constatiren, weil ich schon im Begriffe war, auf den Anfang
0319aller Musik mit Moll psychologische Theorien zu construiren;
0320ich gerieth dabei in Opposition mit Helmholtz, der, wie
0321mir scheint, gar zu viel in Betreff der Tonleitern und
0322Harmonien aus den Obertönen ableiten will. Man muß
0323sich vorsehen, einem Manne wie Helmholtz zu opponiren,
0324der selbst ganz unmusikalisch geneigt ist, Alles aus physi-
0325kalischen Gründen zu erklären, und dabei das psychologische,
0326conventionelle und rein musikalische Moment unterschätzt.
0327Helmholtz ist in der Vielseitigkeit seines Wissens und Gestaltens 
0328neben Goethe mit einer der Größten unter den Großen; doch
0329die Zeit schreitet vor, und auch die Größten irrten zuweilen,
0330wie die Kritik der Späteren mit neuen Forschungen und Ent-
0331deckungen neuer Thatsachen oder Betrachtung auch älterer
0332Thatsachen von anderen Gesichtspunkten aus aufweist. Es gibt
0333keine ewigen Größen, sondern immer nur Größen in einer be-
0334stimmten Zeit und unter bestimmten Verhältnissen. Ich quäle
0335dich heute sehr: kannst du mir sagen, in welchem Jahre
0336Cherubini seine drei Streichquartette geschrieben hat?


0337In alter Liebe und Treue dein gelähmter Kranich.


0338Das Concert des „Böhmischen Quartetts“ war die
0339letzte Musik, die Billroth gehört, sein Brief darüber der
0340letzte, den er vor seiner Abschiedsfahrt nach Abbazia ge-
0341schrieben hat. Welch lebendiges Interesse an der Musik
0342quillt da noch aus jeder Zeile! Von Bekannten und Un-
0343bekannten ward mir in zahlreichen Zuschriften das dankbare
0344Geständniß, sie hätten aus Billroth’s intimen Briefen erst
0345den ganzen großen Menschen kennen und verehren gelernt.
0346Der medicinischen Welt hat Billroth Wunderdinge geboten,
0347die wir Laien nicht verstehen können; uns Anderen über-
0348häufte er mit Schätzen des Geistes und Herzens, die Jeder
0349versteht und die Jeden beglücken. So war es denn wohl-
0350gethan, diese Briefe, welche die Bewunderung und Liebe
0351Tausender für Billroth vermehrt haben, zu veröffentlichen,
0352gerade jetzt zu veröffentlichen, wo sie ohne Commentar
0353allgemein verständlich sind und Billroth’s ideale Gestalt
0354noch lebendig vor unseren Augen steht, der Ton seiner
0355Stimme noch deutlich in uns nachklingt.**) Wir werden
0361nimmer Seinesgleichen sehen. An der Schwelle des
0362prosaisch-praktischen neuen Jahrhunderts steht Billroth als
0363der ganz einzige große Arzt, den ein poetischer und roman-
0364tischer Hauch umwittert und von dessen Künstlernatur und
0365reinem Menschenadel ein alle Herzen bezwingender Zauber
0366ausging. Nothnagel hat ihn schön und treffend mit
0367einem geschliffenen Edelstein verglichen: „Von welcher Seite
0368man ihn betrachten mag, immer leuchtet er in neuer Pracht.“

Fußnoten
  • *)Siehe Nr. 10675 der „Neuen Freien Presse“ vom 13. Mai,
    Nr. 10685 vom 24. Mai, Nr. 10690 vom 29. Mai, Nr. 10691 vom
    30. Mai und Nr. 10694 vom 2. Juni 1894.
  • **)Eine anonyme „Billroth-Verehrerin“ kann ich mit der Ver-
    sicherung beruhigen, daß kein einziger von Billroth’s Briefen aus
    meinen Händen gekommen ist, noch jemals kommen wird. In die
    Druckerei der „Neuen Freien Presse“ sind nur von mir verfertigte
    Abschriften gelangt.