Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 10820. Wien, Sonntag, den 7. October 1894
[1]Hofoperntheater.
(„Mara“, Oper von F. Hummel. „Die Hochzeit im Frisirsalon.“ Ballet.)
0003Ed. H. Die Drachensaat der „Cavalleria“ geht recht
0004üppig auf. Mascagni, der mit dieser einactigen Dorftragödie
0005ein neues Operngenre und sich selber einen jungen Ruhm
0006geschaffen, hat diesen Pfad sofort wieder verlassen, um zwei
0007rührende Familiengeschichten („Freund Fritz“ und „Die
0008Rantzau“) zu illustriren, in welchen kein Tröpfchen Blut ver-
0009gossen wird. Aber sein erster Erfolg wirkt noch immer ver-
0010lockend, fast möchte ich sagen verheerend auf die jüngeren
0011Componisten. In Italien drängten sich die Opern „Santa
0012Lucia“, „Pagliacci“, „Mala Vita“, „Tilda“, „Festa
0013a Marina“ — um nur die bei uns bekannt gewordenen zu
0014nennen. In Deutschland erhielt der natürliche Nachahmungs-
0015trieb noch einen unverhofft gewaltigen Vorschub durch die Preis-
0016ausschreibung des Herzogs Ernst von Coburg. Von
0017den zweihundert eingereichten Einactern sollen mehr als
0018drei Viertel tragische Stoffe behandelt haben. Nach der preis-
0019gekrönten „Rose von Pontevedra“, einer Oper von ab-
0020schreckend brutalem Inhalt, dürfen wir ungefähr auf die
0021Beschaffenheit der übrigen schließen. Die Componisten haben
0022Blut geleckt und lechzen nach Grausamkeiten. Sie erinnern
0023mich an jenen Parlamentsrath aus Bordeaux in der Re-
0024volutionszeit, der sich bei herrlichem Wetter die Hände rieb
0025und ausrief: Voilà un beau jour pour une exécution! „Mara“
0026drängt in den allerengsten Rahmen ein erschütterndes Trauer-
0027spiel zusammen: zwischen zwei mörderischen Flintenschüssen
0028rollt sich die ganze Geschichte in drei Viertelstunden ab. Mit
0029dem ersten Schuß streckt Eddin seinen Schwiegervater nieder,
0030mit dem zweiten Mara ihren Gatten. Der erste Schuß
0031knallt schon in der Ouvertüre; er gehört zur Partitur
0032und ist als ein neuer realistischer Effect charakteristisch.
0033Diese gewaltthätigen Einacter machen fast alle den Eindruck
0034eines letzten Actes, dem die früheren zwei oder drei ampu-
0035tirt worden sind. Es fehlt die erklärende Exposition und die
0036Entwicklung der Handlung. Auch in der „Mara“ belehrt
0037uns erst die dritte Scene über das Verhältniß der Personen,
0038über die Vorgeschichte und über den pikanten Schuß in der
0039Ouvertüre. Wenn die Sänger, wie es zu geschehen pflegt,
0040undeutlich aussprechen, so mag man sich selber zurechtfinden.
0041Eddin, ein junger Tscherkesse, hat im Handgemenge mit
0042einem feindlichen Stamm seinen Schwiegervater erschossen.
0043Auf der Flucht vor den Verfolgern stürzt er atemlos in
0044seine Hütte, wo sein junges Weib, Mara, ihn verbirgt. Bald
0045ist der feindliche Anführer Djul, der Bruder Mara’s, mit
0046seinem Anhang zur Stelle, um den Flüchtigen zu suchen.
0047Der Chor der Tscherkessen singt:
0048Hört ihr das Mahnen des edelen Blutes —
0049Hier hat der Pesthauch des Mörders geweht!
0050Sühnet es, Brüder, unbeugsamen Muthes,
0051Rache, ja Rache es zürnend erfleht.
0052Diese grausamen Verse belehren uns, daß Eddin der Blut-
0053rache verfallen ist. Die Rächer stürmen „unbeugsamen
0054Muthes“ gegen die Hütte an, worin Mara’s Söhnchen
0055schläft — da tritt Eddin aus seinem Versteck und liefert
0056sich selbst aus. Er bittet nur um eine rasche Hinrichtung
0057durch Pulver und Blei. Die Bitte wird ihm abgeschlagen;
0058lebendig soll er vom Felsen in den Abgrund gestürzt werden.
0059Mara sieht Eddin gefesselt auf der verhängnißvollen Felsen-
0060spitze ankommen. Da ergreift sie die Büchse und erschießt ihn.
0061Das Textbuch ist in seiner Gedrängtheit geschickt ge-
0062macht, und wer es liebt, eine ganze Oper hindurch ununter-
0063brochen gemartert zu werden, der mag sich daran erfreuen.
0064Nicht die grausame Katastrophe allein ist’s, was uns die
0065Seele aufwühlt, sondern die qualvolle Todesangst, in der
0066wir erhalten werden vom Anfang bis zu Ende. Wir fühlen
0067tief mit Eddin und Mara, zwei in treuer Liebe verbundenen
0068Menschen, die sich in verzehrender Seelenqual vor uns auf-
0069reiben. Mit dem Auftreten Eddin’s wissen wir auch, daß er
0070sterben muß — in fünfzehn oder in zwanzig Minuten, die
0071sich uns zu einer qualvollen Ewigkeit ausdehnen. An den
0072Anfang und das Ende seiner Tragödie stellt der Dichter
0073eine rührende Kinderscene. Vielleicht wollte er durch diesen
0074Contrast das Gräßliche der Handlung mildern; für mein
0075Gefühl hat er es nur verschärft.
0076Der Musik zu „Mara“ ist manches Gute nachzu-
0077rühmen. Herr Ferdinand Hummel, obgleich erst jetzt
0078durch seine Erstlingsoper bekannt geworden, zählt als Com-
0079ponist glücklicherweise nicht zu unseren Allerjüngsten. Er hat
0080Sinn für Form und Wohlklang und opfert Beides nur
0081ausnahmsweise dem dramatischen Effect. Im Besitze aller
0082modernen Mittel, insbesondere der Instrumentation, erweist
0083er sich vielfach als ein guter Musiker der älteren Schule.
0084Seine Partitur zeugt von Effectkenntniß und theatralischem
0085Blick. Leider ist seine Erfindung weder reich noch originell.
0086Kommt es daher, daß Herr Hummel anfangs im Opern-
0087orchester, dann als Musikdirector im königlichen Schauspiel-
0088hause zu viel fremde Musik gespielt und dirigirt hat? Er
0089entlehnt nicht die Worte anderer Meister, aber er spricht
0090mit ihren Stimmen, insbesondere mit der des jüngeren
0091Wagner. In den Duetten zwischen Eddin und Mara werden
0092wir die Lohengrinklänge im Gesang und Orchester keinen
0093Augenblick los. Hin und wieder glauben wir Mascagni zu
0094vernehmen, auch die Verschwörungsscene aus den „Hugenotten“
0095klingt deutlich nach in Djul’s Es-dur-Strophe. Auffallend
0096genug fehlt jede Localfärbung, jeder nationale Anklang in
0097der Musik. Am glücklichsten erscheint mir Herr Hummel in
0098den zarten lyrischen Stücken. Vor Allem in der einleiten-
0099den Scene Mara’s mit dem Kinde. Das Büblein neckt die
0100Mutter, indem es sich versteckt und wiederholt Kukuk! ruft.
0101(Nebenbei bemerkt: Warum verschwieg der Componist, der
0102gewiß oft den Kukuk gehört hat, dem Kleinen das Geheimniß,
0103daß dieser populäre Vogel stets die tiefere kleine Terz intonirt, und
0104nicht die obere Quart oder Quint?) Diesem Spiel zwischen
0105Mutter und Kind, welches sich auf einer zarten ländler-
0106artigen Melodie schaukelt, folgt ein gleichfalls gelungenes
0107Schlummerlied von weicher, blos durch den Querstand in
0108den beiden ersten Tacten leicht gestörter Anmuth. Nur zu
0109lange dauert dieses Lied; die sich langsam hinziehende
0110Melodie wird so oft wiederholt, daß ihre einschläfernde Wir-
0111kung sich schließlich über das Kind hinaus auf Andere aus-
0112dehnt. Der Componist beutet seine Motive über Gebühr
0113aus, wie schon die Ouvertüre beweist. Es ist unmöglich,
0114haushälterischer zu sein. Die ganze Scene zwischen Mutter
0115und Kind ist überaus fein instrumentirt. Von da an durch-
0116bricht das Orchester alle Schranken; wir werden über-
0117fluthet von den stärksten, dicksten Schallwellen; unausgesetzt,
0118athemlos arbeiten die vier Hörner sammt Trompeten, Po-
0119saunen und Tuba, mit Pauken und Trommel zusammen.
0120Zu diesen leidenschaftlichen „hochdramatischen“ Stellen ist
0121Herr Hummel weniger ein Dichter in Tönen, als vielmehr
0122effectkundiger Theatermaler. Conventionell gewordene, be[2]-
0123währte Phrasen und grelle Klangwirkungen müssen hier die
0124eigene Inspiration, die unmittelbar überzeugende tiefere
0125Empfindung vertreten.
0126Von der günstigen Aufnahme der Novität im Hof-
0127operntheater haben wir bereits in Kürze berichtet. Das Ver-
0128dienst der Aufführung wog dabei nicht leichter als das des
0129Componisten. Frau Schläger (Mara) und Herr
0130Winkelmann (Eddin) ließen keinen Effect der Compo-
0131sition unbeachtet und wirkten wie diese durch möglichst
0132starken Farbenauftrag. Frau Schläger scheint leider auf zwei
0133unschöne Ausschmückungen nicht verzichten zu wollen, welche
0134wir schon aus ihrer Santuzza und ähnlichen Kraftrollen
0135hinweggewünscht; es ist der weithin kreischende gelle Auf-
0136schrei und das platte Niederfallen, eigentlich Hinplumpfen auf
0137den Boden. Ich möchte wissen, ob Frau Schläger oder eine
0138ihrer Colleginnen je eine Frau, insbesondere eine kräftige
0139Bäuerin, gesehen hat, welche bei einer schmerzlichen Ueber-
0140raschung ohneweiters als lebloser Sack zu Boden fällt, um
0141gleich darauf wieder stramm und munter mit einem hohen C
0142aufzustehen? Gewöhnlich pflegt die Betroffene zu schwanken, sich
0143auf ihre Nachbarin zu stützen, an einen Stuhl zu halten, oder auf
0144eine Bank hinzusinken. Jedenfalls reicht das hin für dra-
0145matische Darstellung, die uns mit absolut Häßlichem, wo es
0146nicht nöthig ist, verschonen soll. In der kleineren Rolle des
0147Tscherkessen Djul wirkte Herr Ritter vortrefflich durch
0148seine herrliche, diesmal auch maßvoll behandelte Stimme,
0149wie durch seine deutliche Aussprache und charakteristisches
0150Spiel. Es bleibt abzuwarten, ob die Zuversicht der Direc-
0151tion, welche alle Rollen in „Mara“ doppelt besetzt hat, sich
0152rechtfertigen und der Novität ein langes Leben sichern werde.
0153Am zweiten Abend sollen Frau Januschofsky, die
0154Herren Schrödter und Neidl viel Beifall geerntet
0155haben. Eine Zeitungsnotiz, welche obendrein Fräulein
0156Mark als dritte Mara bezeichnet, beruht hoffentlich auf
0157einem Irrthum. Fräulein Mark ist ein großes Talent,
0158aber keine Athletin. Sie hat freilich in einer ähnlichen
0159wilden Kraftrolle, der „Rose von Pontevedra“, einen großen
0160Erfolg errungen — leider. In ihrem Interesse, wie in
0161dem des Operninstituts möchten wir die junge Sängerin
0162sorgsam behütet wissen vor dergleichen Aufgaben, welche
0163ihrer Stimme wie ihrem Geschmack Verderben drohen.
0164Die Direction der Hofoper durfte füglich voraussetzen
0165daß dem Publicum nach den Flintenschüssen der „Mara“
0166ein erheiterndes Nachspiel willkommen sein würde. Dafür
0167schien ein neues Ballet der Herren Regel, Haßreiter
0168und Raul Mader: „Die Hochzeit im Frisirsalon“, wie
0169geschaffen. Ich gehöre selbst zu denen, die gern lachen —
0170aber die Komik dieses Barbierladens war mir doch zu
0171kindisch. Daß ein hitziger Friseur einem Herrn statt der
0172schwarzen Perrücke eine rothe aufstülpt und einem zweiten
0173nicht nur den Kopf, sondern auch den Pelzkragen glatt
0174rasirt, erinnert sehr lebhaft an Circusspässe und Jahrmarkts-
0175Pantomimen. Die Grundidee — wenn ich diesen schmeichel-
0176haften Ausdruck brauchen darf — ist eine matte Parodie
0177der „Puppenfee“. Wenn dort all die zierlichen Puppen
0178durch ein Zauberwort Leben erhalten, die Bleisoldaten zu
0179marschiren, die kleinen Tambours zu trommeln, die Schäfe-
0180rinnen zu tanzen beginnen, so hat das einen Sinn und ist
0181reizend anzusehen. Daß aber Friseurkämme, Puderquasten,
0182Brenneisen, Scheeren und Pomadebüchsen durch einander
0183hüpfen und eine Gavotte aufführen, ist abgeschmackt und
0184gar nicht hübsch. Unter den vielen Intermezzos, welche diese
0185magere Handlung ausschmücken, gibt es neben einigen ver-
0186fehlten (wie das Herumfahren von Vélocipedisten im Friseur-
0187laden!) auch manche effectvolle, überraschende, z. B. das Pas
0188de deux des Fräuleins Sironi mit dem Perrückenstock, ein
0189von Mader graziös componirter, von vier in allen Farben
0190schillernden Ballerinen getanzter „Mantelwalzer“ u. dgl.
0191Endlich: 50 bis 60 reizend costümirte, bildhübsche junge
0192Mädchen — eine Wirkung, so sicher wie bares Geld, in
0193jedem Ballet, es heiße wie es will. „Rouge et noir“,
0194„Burschenliebe“, „Märchenzauber“, „Der Teufel im Pen-
0195sionat“ — zu diesen Minimalgewinnsten, mit welchen das
0196Publicum seit den beiden Haupttreffern „Wiener Walzer“
0197und „Puppenfee“ sich begnügen muß, gehört auch „Der neue
0198Frisirsalon“. Seit längerer Zeit nehmen dergleichen Ballette
0199im Repertoire der Hofoper einen unverhältnißmäßig großen
0200Raum ein. Die Einwendung, daß unsere modernen ein-
0201actigen Opern ebensoviel einactige Ballette zur Ergänzung
0202benöthigen, ist nicht ganz stichhältig. Wir besitzen genug
0203ältere und neuere kleine Opern, welche, theils vergessen,
0204theils hier ganz unbekannt, die Stelle des Frisirladens mit
0205besserem Anstand einnehmen könnten. Ich möchte vor Allem
0206an Bizet’s „Djamileh“ erinnern, eine reizende kleine
0207Oper, in der weder rasirt noch geschossen, aber viel liebens-
0208würdige Musik gemacht wird.