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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 10893. Wien, Donnerstag, den 20. December 1894

[1]

Hofoperntheater.

(„Hänsel und Gretel“, Märchenspiel in drei Bildern von E. Humperdinck.)


0003Ed. H. Das Geschwisterpaar Hänsel und Gretel hat
0004gestern in Wien vollständig gesiegt, wie früher schon in den
0005vornehmsten Musikstädten Deutschlands. Der Name Humper-
0006dinck
ist trotz seines stoßweise rumpelnden Klanges bereits
0007populär geworden; die Welt hat ihn aussprechen gelernt.
0008Ein so großer, an den verschiedensten Orten, unter recht
0009ungleichen Verhältnissen behaupteter Erfolg — ein Erfolg,
0010wie ihn seit Neßler’s „Trompeter“ keine deutsche Oper
0011errungen hat — ist ohne ein entsprechendes Verdienst nicht
0012denkbar. Freilich braucht dieses Verdienst weder ein eminent
0013musikalisches noch selbst ein ungemischt künstlerisches zu sein.
0014Aber etwas Neues mußte es unserer rasch verzehrenden
0015Generation jedenfalls geboten haben. Der „Trompeter von
0016Säkkingen“ machte seine Eroberungen hauptsächlich durch die
0017allbeliebten Scheffel’schen Gedichte; indem der Componist
0018(nach Paul Heyse’s Wortspiel) sein Lichtchen auf den Scheffel
0019gestellt hatte, zog es die gefühlvollen Hörer wie Mücken an
0020sich. Herr Humperdinck wiederum erkannte scharfsichtig das
0021völlig Neue, Ueberraschende, das darin lag, ein schlichtes
0022Kindermärchen auf die Opernbühne zu bringen. Der Effect
0023lag zunächst in dem Contrast dieses Stoffes gegen das
0024ganze uns geläufige Opern-Repertoire. Der erste Gegenschlag
0025wider die lange Herrschaft einer bereits ermüdenden Kunst-
0026richtung wirkt mit fast unwiderstehlicher Gewalt. Im Rück-
0027schlag gegen die vierstündigen großen Opern haben unter
0028Mascagni’s Vortritt die tragischen Einacter gesiegt. Und zu diesen
0029uns bereits lästig gewordenen blutigen Miniatur-Tragödien ist
0030wieder der stärkste Gegensatz — das Kindermärchen. Dort
0031Verbrecher, Selbstmörder, betrogene Liebes- und Eheleute;
0032hier ein kleines Geschwisterpaar, sein einziges Leid der
0033Hunger, seine höchste Wonne ein Stück Zuckerbrot! Keine
0034Leidenschaft, keine Liebesgeschichte, keine Verwicklung. Es ist
0035wirklich eine andere Welt, in die uns der Dichter führt,
0036und eine bessere.


0037Neben diesem stofflichen Contrast, in den sich Humper-
0038dinck’s Märchenspiel gegen das moderne Opernwesen stellt,
0039birgt es aber noch einen zweiten innern Gegensatz, der
0040bedenklicher ist: der Contrast zwischen dem Stoff und seiner 
0041musikalischen Behandlung. Also ein falscher Contrast, ein
0042Stylwiderspruch. Herr Humperdinck konnte sich nicht ver-
0043hehlen, daß ihm das schlichte Märchen zwar ein neues, viel-
0044versprechendes Sujet entgegenbringe, zugleich aber ein starkes
0045Hinderniß. In der Kindlichkeit lag der Reiz, aber zugleich die
0046Gefahr dieses Opernstoffes. Wer „Hänsel und Gretel“ aus dem
0047Grimm’schen Familienbuch kennt, der kann sich als Schau-
0048platz für ihre Dramatisirung wol nur ein Kindertheater vor-
0049stellen; ein Theater, das nicht blos für Kinder, sondern
0050von Kindern gespielt wird. Wirklich soll die Bearbeiterin
0051von „Hänsel und Gretel“, Frau Adelheid Wette,
0052geborene Humperdinck, ursprünglich nicht entfernt an
0053ein Opernlibretto gedacht haben; sie wollte das be-
0054kannte Märchen blos für ihre Kinder dramatisiren.
0055Also eine ganz anspruchslose Kindervorstellung im
0056Familienzimmer, allenfalls mit einer Singspielmusik im
0057Geschmack von Adam Hiller oder Grétry. Allein damit war
0058Herrn Humperdinck natürlich nicht gedient. Mit seinen
0059kleinen Kindern wollte er die großen Kinder packen und
0060nicht daheim zu Hause, sondern im Operntheater. Da wäre
0061er mit einer kindlich einfachen Musik und spärlich andeuten-
0062den Decorationen nicht weit gekommen. Nach den ersten
0063zwei Scenen hätte unser Opernpublicum einige Langweile
0064und ein heftiges Verlangen nach pikantem Gewürz empfun-
0065den. Also: ein Kindermärchen, aber mit blendendem Aufputz,
0066großem Orchester und modernster, womöglich Wagner’scher
0067Musik. Gedacht, gethan. Der Componist stellte sich diese
0068Aufgabe, und er hat sie behend und mit glücklichstem Erfolg
0069gelöst. Sein Ziel ist erreicht — ob mit künstlerisch unbe-
0070denklichen Mitteln, darüber kann gestritten werden. Die
0071Naivetät des Kindermärchens sträubt sich meines Er-
0072achtens gegen den durchaus reflectirten Wagner-Styl;
0073zwischen dem Stoff und seiner Ausführung besteht ein innerer
0074Widerspruch, über den sich Niemand täuschen kann. Auch der
0075Componist nicht, welcher diesen Widerspruch gewollt und ihn
0076ja für seinen Erfolg gebraucht hat. Das große Publicum,
0077das sich an den Stoff und an die paar Kinderlieder ge-
0078fangen gibt, übersieht leicht jenen falschen Contrast; ästhetisch
0079empfindlichere Naturen fühlen sich trotzdem unbehaglich, wenn
0080ein überkünsteltes, pompöses Orchester die Scheltworte der
0081Mutter illustrirt oder eine direct von Wagner’s „Nibelun-
0082gen“ stammende Musik das Erdbeerpflücken der Kinder be-
0083gleitet. Indem Herr Humperdinck diese Gegensätze muthig 
0084zusammenschweißte, hat er ebenso klug, wie seinerzeit Wagner,
0085den herrschenden Zeitgeist begriffen und befriedigt. Er gibt
0086dem Publicum, das sich nach etwas stofflich ganz Neuem
0087sehnt und doch zugleich noch am Wagnerismus hängt. Beides
0088aus Einer Hand.


0089Der Componist gliedert seine Oper (wie wir sein
0090„Märchenspiel“ wol nennen dürfen) in drei Aufzüge. Die
0091Ouvertüre führt die meisten Leitmotive aus der Oper ins
0092Treffen, mit einander, gegen einander, verkürzt, verlängert.
0093Natürlich sind alle diese Motive von den Wagnerianern be-
0094reits getauft: Abendsegen-Motiv, Sandmännchen-Motiv,
0095Kinderreigen-Motiv u. s. w. Die Ouvertüre macht durch
0096ihr künstliches polyphones Gewebe und das unruhige Ge-
0097wimmel der Mittelstimmen einen prätentiösen und doch un-
0098entschiedenen Eindruck. Auf ein Kindermärchen würde sie
0099niemals schließen lassen. Sie legt auch eine Methode oder
0100Manier des Componisten bloß, die mehr ein mechanisches
0101Fortsetzen ist als freies musikalisches Schaffen: die maßlose An-
0102wendung sogenannter Rosalien oder Schusterflecke, welche
0103jedes Motiv (oft ein halbdutzendmal) auf den nächst höheren
0104Tonstufen wiederholen. Der erste Act beginnt sehr
0105hübsch: Hänsel und Gretel suchen in Abwesenheit der
0106Eltern sich die Zeit und den Hunger zu vertreiben.
0107Gretel singt das bekannte Kinderlied: „Suse, liebe Suse,
0108was raschelt im Stroh?“, dem bald ein zweites folgt:
0109„Brüderchen, komm’, tanz’ mit mir.“ Wie das die beiden
0110Kleinen zugleich tanzen und singen, ist ganz allerliebst. Alles,
0111was sie dazwischen einander mittheilen, zeigt die unnatürlich
0112herumspringende Declamationsweise der „Meistersinger“, dazu
0113im Orchester dieselbe nervöse Motiverfaserung und contra-
0114punktische Altklugheit. Das bleibt sich die ganze Oper hin-
0115durch in allen jenen Theilen gleich, die man kurz unter
0116„Conversation“ oder „Dialog“ zusammenfassen kann. Die
0117Mutter erscheint scheltend und jagt die Kinder fort in den
0118Wald, Erdbeeren zu pflücken. Nun kommt der Besenbinder 
0119nach Hause, erschrickt, da er die Kinder nicht findet, und eilt
0120dem verrufenen Walde zu, um die Kinder zu suchen. Eine
0121„Hexenritt“ überschriebene Zwischenactmusik malt mit
0122grellen Orchesterfarben die schauerliche Erzählung des
0123Besenbinders aus: ein schwacher Walkürenritt — auf Besen.
0124Beim Aufziehen des Vorhanges sehen wir die Kinder im
0125Walde; wieder beginnt Gretel mit einem hübschen Kinder-
0126liede: „Ein Männlein steht im Walde.“ Die Kinder naschen [2]
0127zuerst fröhlich ihre Erdbeeren auf, dann bei einbrechender
0128Nacht beginnen sie sich zu fürchten. Sandmännchen singt
0129sie in Schlaf, nachdem sie zuvor noch ihren Abendsegen ge-
0130betet („Abends will ich schlafen geh’n, vierzehn Engel um
0131mich steh’n“). Das ist Alles in der Musik ungemein ge-
0132schickt gemacht und stimmungsvoll gehalten. Man bemerke
0133beispielsweise die wirkungsvolle Behandlung des Echo und
0134des Kukuksrufes. In diesem Wald-Idyll zeigt sich Humper-
0135dinck wirklich als Poet. Aber der Haupttrumpf wird noch
0136ausgespielt. Ein heller Schein durchbricht den Nebel und
0137beleuchtet eine vom Himmel herabführende goldene Treppe,
0138auf welcher die vierzehn Engel leibhaftig niedersteigen und
0139die schlafenden Kinder schützend umkreisen. Ein ganzer Heer-
0140bann von Engeln erhebt sich hinter ihnen, bis zur Himmels-
0141decke aufsteigend, Erzengel Michael mit Schwert und Rüstung
0142in der Mitte. Ein prächtiges Bild von ungemein poetischer
0143und malerischer Wirkung. Die Musik dazu steht nicht auf
0144der Höhe der vorangehenden Waldscene; sie entfaltet mit
0145ihrem Geschmetter aller Blechinstrumente, in das sich nach
0146dem Recept der Tannhäuser-Ouvertüre eine schrille, zackige
0147Violinfigur einzwängt, einen gar zu derben Pomp. Der
0148dritte Act ist im Verhältniß zu seinem Inhalt offenbar zu
0149breit ausgesponnen und muß trotz einzelner sehr gelungener
0150Stellen, wie das Aufwachen der Geschwister, gegen die zwei
0151früheren Acte abfallen. Die Scenen der Hexe mit den Kin-
0152dern folgen getreu dem Märchen: Gretel schiebt die Hexe 
0153in den brennenden Ofen, der für sie und ihr Brüderchen 
0154bestimmt war, und Beide singen und tanzen vor
0155Freude. Die Eltern finden glücklich ihre Kinder
0156auf, und damit schließt naturgemäß das Märchen.
0157Herr Humperdinck hat aber einen andern Schluß dazu ge-
0158macht, den wir nur mit Zagen erzählen, denn es ist der
0159reine Mißverstand. Vor dem Häuschen der Hexe sehen wir
0160eine lange Reihe von lebensgroßen Marzipanfiguren aufge-
0161stellt. Das sollen die von der Hexe „in Lebkuchen verwan-
0162delten Kinder“ sein, die nun durch Hänsel und Gretel erlöst
0163und wieder lebendig werden. Ohne eine „Erlösung“ geht es
0164bei einem richtigen Wagner-Apostel nicht ab. Bei Wagner 
0165war bekanntlich die Erlösung zur fixen Idee geworden, vom
0166Holländer bis zum Parsifal. Die Lebkuchen-Erlösung klingt
0167fast wie eine Parodie darauf. Zu welchem Zwecke fängt denn
0168die Hexe kleine Kinder? Um Lebkuchen aus ihnen zu 
0169machen? Nein, um sie zu braten und zu verspeisen. Das
0170wird ja fortwährend auf der Bühne erzählt und vor un-
0171seren Augen vorbereitet. Daß die Hexe die Kinder nicht
0172verspeist, sondern in Marzipanfiguren verwandelt, um sie
0173als Staketenzaun vor ihr Haus zu stellen, das straft alles
0174Frühere Lügen und wirft eigentlich das ganze Märchen um.
0175Und dieser Unsinn, der wie ein großer Klecks das Werk
0176verunstaltet, ist blos einem äußerlichen und nichts weniger
0177als hübschen Theatereffect zuliebe gemacht. Das Publicum,
0178das sich von Anfang bis zu Ende so gut unterhalten, ließ
0179sich freilich diesen Widerspruch nicht anfechten und brach am
0180Schlusse der Oper in einen Beifallssturm aus, wie wir
0181ihn nur selten im Opernhause erlebt haben.


0182Niemand wird diesen Erfolg einen unverdienten schelten.
0183Herr Humperdinck ist nicht blos ein begabter und äußerst
0184geschickter Musiker, er ist ohne Frage ein Mann von Geist
0185und Bildung, ein Künstler mit poetischer und malerischer
0186Phantasie. Was aber seine schöpferische musikalische Kraft
0187betrifft, so will sie mir nach dieser Oper — ich kenne nichts
0188weiter von ihm — nicht stark erscheinen. Er ist kein musika-
0189lischer Erfinder im eminenten Sinn, kein „Originalgenie“,
0190wie man früher sagte. Nur die glückliche Idee, ein be-
0191kanntes Kindermärchen auf die große Oper zu verpflanzen,
0192ist ganz sein. Der musikalischen Erfinder in „Hänsel und
0193Gretel“ sind zwei: zuerst jene unbekannten, unberühmten
0194Mütter und Ammen, von denen die Kinderlieder herrühren,
0195sodann Richard Wagner als directes Vorbild des Styls,
0196der Declamation, der Orchester-Behandlung. Humperdinck’s
0197Persönlichkeit geht völlig in Wagner auf, was sich ja auch
0198biographisch erklärt. Persönlich aufs engste verbunden mit
0199Wagner Vater und Wagner Sohn, schwebt er zur Stunde
0200als Heiliger Geist über dem deutschen „Musikdrama“. Er
0201componirt nicht blos genau nach Wagner’scher Methode,
0202seine Partitur wimmelt förmlich von Reminiscenzen aus
0203den „Nibelungen“ und den „Meistersingern“. Sie sind so kennt-
0204lich und so zahlreich, daß sie aufzuzählen weder nothwendig
0205noch möglich ist. Die unruhige Modulation und vor-
0206herrschende Enharmonik, das polyphone Gewebe in der Be-
0207gleitung, welches den leitenden Gedanken oft ganz verdeckt,
0208die in entlegenen Intervallen herumstolpernde Declamation
0209mit dem Quint-Sext-Accord oder verminderten Septim-
0210Accord am Schluß einer Phrase, die unstet wechseln-
0211den Instrumente und raffinirten Orchester-Effecte — das
0212Alles ist bis ins innerste Mark Richard Wagner. Herr
0213Humperdinck hat die Kinderlieder, welche ganz originalgetreu
0214oder in leichter Umwandlung vorkommen, vortrefflich aus-
0215gewählt; sie bilden den unwiderstehlichen Zauber des ganzen
0216Werkes. Was er als melodiöser Erfinder aus eigenen Mitteln
0217vorbringt, ist recht unbedeutend, von wohlfeiler Sentimen-
0218talität. Es ist mir keine einzige von Humperdinck herrührende
0219Melodie in der ganzen Oper als schön und originell auf-
0220gefallen. Um so hervorragender hebt sich seine dramatische
0221und malerische Begabung heraus. Sein Verdienst schätze ich
0222nicht gering und freue mich des großen, allgemeinen Er-
0223folges, den ein junger deutscher Componist mit seiner
0224Erstlingsoper so schnell errungen hat. Dies hindert nicht,
0225daß man sich gegen die Uebertreibungen verwahrt, in denen
0226die meisten Musikzeitungen sich im Preise von „Hänsel und
0227Gretel“ gefallen. „Seit Mozart,“ lesen wir in einer Wochen-
0228schrift, „hat die dramatische Kunst keinen so sonnigen Humoristen
0229mehr gesehen, wie Humperdinck!“ Und „geniale Tondichtung“,
0230„epochemachendes Meisterwerk“ sind die geläufigsten Bezeich-
0231nungen für Humperdinck’s Partitur. Auch ein Urtheil des
0232jungen Siegfried Wagner geht durch alle Zeitungen: „Hänsel
0233und Gretel“ sei die bedeutendste deutsche Oper seit „Parsifal“.
0234Also das Beste seit vollen zwölf Jahren? Ein ärgerliches
0235Wort, und das Aergerlichste daran — daß es wahr ist.


0236Ueber den glänzenden Erfolg und die vollendete Auf-
0237führung der (von Director Jahn geleiteten) Novität ist
0238bereits in Kürze berichtet worden. Voran sind Frl. Renard 
0239(Hänsel) und Frl. Mark (Gretel) zu nennen, die sich in
0240ihren schwierigen Rollen wieder als Talente allerersten
0241Ranges bewährt haben. Kein Lob ist zu groß für den Geist,
0242mit dem sie ihre Aufgabe erfaßt, und für die reizenden
0243Details, womit sie dieselbe verschwenderisch ausgeschmückt
0244haben. Welche besser sei, die Renard oder die Mark? Ich
0245glaube, alle Beide. Mit einer vortrefflichen, ganz über-
0246raschenden Leistung gesellt sich ihnen Fräulein Lehmann 
0247als Hexe zu. Gestalten voll Kraft und Naturwahrheit sind
0248Frau Kaulich und Herr Ritter als Besenbinderpaar,
0249anmuthige Märchenfiguren die Sängerinnen Lederer und
0250Abendroth. Dazu das virtuose Hofopern-Orchester und
0251die blendende Ausstattung — was konnte da noch fehlen zu
0252einem vollständigen Erfolg?