Wörter einzeln suchen

Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 11238. Wien, Freitag, den 6. December 1895

[1]

Waldmeister.“

Operette in drei Acten von G. Davis, Musik von Johann Strauß.


0003Ed. H. Wieder ein neuer Blüthenzweig von Strauß’
0004unverwüstlicher Jugend. Kaum ein Jahr, nachdem er
0005zu seinem „Apfelfest“ geladen, bescheert er uns schon eine
0006neue Oper! Und, gottlob, eine durchaus lustige. Strauß 
0007zählt nicht zu den Componisten, die im Alter kirchlich fromm
0008werden oder wenigstens fromme Kirchenmusik schreiben, wie
0009Gounod, Liszt, Rossini. Auch Rubinstein mit
0010seinem „Christus“, Wagner mit seinem „Parsifal“ ge-
0011hören im Grunde dazu. Eher läßt uns Strauß an
0012Verdi’sFalstaff“ denken, nur mit dem Unterschied, daß
0013Strauß sein Lebenlang immer lustig war, während Verdi 
0014es erst mit 80 Jahren geworden ist. Der „Waldmeister“
0015steckt von einem Ende bis zum andern voll Heiterkeit. Das
0016unterscheidet ihn von seinen Vorgängern: dem „Zigeuner-
0017baron“, „Simplicius“, „Pazman“, „Apfelfest“, die wenigstens
0018scenenweise auf der gefährlichen Spitze tragischen oder senti-
0019mentalen Styles schaukeln und damit den arglosen Zuschauer aus
0020der Stimmung werfen. „Waldmeister“ biegt vielmehr in
0021das Geleise von Strauß’ wirksamster Operette „Die Fleder-
0022maus“ zurück, sowol mit seinem harmlos bürgerlichen Stoff
0023wie mit dem consequent festgehaltenen Lustspielcharakter der
0024Musik. Wo die Handlung spielt? Darüber schweigt das
0025Textbuch. Aber die Musik sagt es uns ganz unzweifelhaft:
0026es ist ein österreichisches, ein gut wienerisches Stück.


0027Auf einer Landpartie wird eine lustige Gesellschaft von
0028plötzlichem Unwetter überrascht und flüchtet in eine Mühle.
0029Sämmtliche Damen, die in jedem Sinne vielbeklatschte
0030Sängerin Pauline an der Spitze, beeilen sich, ihre durch-
0031näßte Toilette mit den Bauernkleidern der Müllerin zu
0032vertauschen. Der Müller scheint gleichfalls eine unge-
0033wöhnlich stattliche Garderobe zu besitzen, denn auch
0034die Herren der Gesellschaft, meistens Forstzöglinge, er-
0035scheinen alsbald in Müllerburschen umgewandelt. Diesen 
0036etwas undisciplinirten jungen Forsteleven folgt der erzürnte
0037Ober-Forstrath Tymoleon v. Gerius auf den Fersen, allein
0038er kann seine Strafpredigt nicht anbringen, da die Schul-
0039digen sich alle rechtzeitig versteckt haben. Nur die muntere
0040Pauline bleibt in ihrer Verkleidung allein in der Stube,
0041entschlossen, als Müllerin sich für die bösen Nachreden zu
0042rächen, welche der gestrenge Tymoleon andernorts gegen
0043die Sängerin geführt hat. Sie legt es darauf an, ihn
0044schleunigst verliebt zu machen, was ihr nicht allzu schwer
0045fällt. Während die Beiden sich zärtlich umschlungen halten,
0046nähert sich leise die ganze Gesellschaft zum Triumph der
0047Sängerin, dem Ober-Forstrath zur Beschämung. Vorher
0048noch ist in der Mühle eine andere Figur aufgetaucht, die
0049nicht zur Landpartie gehört: der sächsische Professor und
0050Botaniker Herr Müller. Professoren sind im Leben zuweilen
0051lächerlich, im Lustspiel immer. Unser Gelehrter trieft vom
0052Regen; auch für ihn ist in dieser wunderbaren Rothberger-
0053Mühle noch ein passender Anzug vorhanden, in welchem er
0054für den wirklichen Müller gehalten wird. Was nun der
0055zweite Act an Verwicklungen und Ueberraschungen producirt,
0056läßt sich hier blos andeuten; diese drolligen Mißverständ-
0057nisse sind nur auf der Bühne ganz verständlich und
0058von unfehlbar komischer Wirkung. Es treten da neue
0059Personen auf: der Amtshauptmann Heffele, seine Frau
0060Malvine und seine Tochter Freda. Letztere feiert eben wider-
0061willig ihre Verlobung mit dem ihr durchaus unangenehmen
0062Tymoleon. Welches Entsetzen für ihn, als unerwartet Pauline,
0063die vermeintliche Müllerin, eintritt! Sie setzt unerschrocken
0064ihre Comödie fort: nach dem Tête-à-tête mit Tymoleon sei
0065sie von ihrem Manne verstoßen worden und eile nun dem
0066Geliebten nach, um sich nie mehr von ihm zu trennen. Der
0067Professor, von Tymoleon für den Müller gehalten, geht auf den
0068Spaß ein und spielt, Genugthuung fordernd, den beleidigten
0069Ehemann. Diese Verwirrungen benützt der junge Forsteleve
0070Botho v. Wendt und macht der heimlich angebeteten Freda 
0071mit gewünschtem Erfolge seine Liebeserklärung. Zu rechter
0072Zeit wird ein Maitrank gebraut, der die ganze Gesellschaft
0073bald in übermüthigste Heiterkeit versetzt. Man singt und
0074tanzt und jubelt — ungefähr wie in der berühmten Ball-
0075scene der „Fledermaus“. Der dritte Act zeigt uns die ganze
0076Gesellschaft, wie sie von ihrem Waldmeisterrausch sich am
0077Kaffeetisch ernüchtert. Dabei nehmen die Liebesaffairen den
0078günstigsten Fortgang. Die in den früheren Acten verwickelten
0079Verhältnisse werden heiter gelöst, und die Comödie der
0080Irrungen schließt mit einer dreifachen Heirat: Tymoleon 
0081geräth für immer in das Netz der schönen Sängerin, der
0082Professor unter den Pantoffel der Kammerjungfer Jeanne,
0083und Botho bekommt seine Freda.


0084Das Libretto des Herrn Gustav Davis bewegt sich in
0085dem gemüthlichen Tempo und heiteren Behagen des älteren
0086deutschen Lustspiels. „Waldmeister“ gehört zu den besseren
0087neuen Operettentexten, von denen ja die meisten vergessen,
0088daß witzloser Blödsinn ebensowenig unterhaltend ist wie
0089stofflose Witzjagd. Unter den Personen des Stückes finden
0090wir wenig neue Originale, aber zum Glück auch keine
0091widerwärtigen. Im „Waldmeister“ herrscht weniger die
0092Komik der Charaktere als die der Situationen, Verwick-
0093lungen und Ueberraschungen. Diese wachsen reichlich und
0094ungezwungen aus der recht glücklichen Exposition. Für den
0095sächsischen Professor hat vornehmlich das Talent des Dar-
0096stellers zu sorgen; für die Handlung ist er ein fünftes Rad
0097am Wagen, thut aber seine komische Schuldigkeit, wenn die
0098anderen versagen. Noch gibt es da ein sechstes Rad, das uns
0099weniger Achtung abzwingt: die für Botanik schwärmende
0100Frau Amtshauptmannin Heffele. Sie erinnert an die lächer-
0101liche alte Gräfin in Lortzing’s „Wildschütz“, welche uns mit
0102der Declamation griechischer Tragödien belästigt. Aber die
0103Passion der Frau Heffele, eine nicht existirende Species
0104schwarzen Waldmeister zu entdecken, ist doch noch viel
0105uninteressanter. Im Ganzen hat das Textbuch trotz mancher
0106Längen und Lückenbüßer doch den werthvollen doppelten
0107Vorzug, weder in sentimentales Pathos noch in lascive
0108Gemeinheit zu verfallen. Wie wenige unserer Operetten
0109wissen sich ohne diese beiden fatalen Gewürze zu behelfen!


0110Der gemüthlich heitere Charakter des Textbuches hat
0111auch sehr günstig auf die Composition eingewirkt. Wie be-
0112reits erwähnt, schlägt Strauß zu unser Aller Freude hier
0113wieder den Grundton der „Fledermaus“ an. Daß dieser [2]
0114Ton, bei aller einschmeichelnden Süße, im „Waldmeister“
0115doch nicht mehr ganz so neu und üppig klingt, wie
0116in jener unverwüstlichen Operette, wird Niemanden er-
0117staunen. Genug, daß der siebzigjährige Johann Strauß noch
0118heute sämmtliche lebenden Operetten-Componisten übertrifft.
0119Er ist wirklich jünger, als sie alle, nur nicht mehr so jung,
0120wie seinerzeit der junge Strauß. Er darf sich des
0121zweifachen Glückes rühmen, daß man seine Jahre weder ihm
0122selbst anmerkt, noch seiner Musik. Der Duft des „Wald-
0123meister“ ist noch immer würziger echter Strauß, nur durch
0124Abliegen milder geworden; er hat uns nicht toll berauscht,
0125wie die Gesellschaft des Herrn Heffele, aber sehr angenehm
0126belebt, erwärmt und erheitert.


0127Gleich der erste Act ist voll Leben und graziöser Me-
0128lodie. Das beherzte Jagdlied, mit dem sich Pauline einführt,
0129noch mehr ihr Duett mit Tymoleon sind allerliebste Stücke.
0130Auch das Entréelied Herrn Streitmann’s „Im Walde,
0131wo die Buchen rauschen“ und Girardi’s sächsische Couplets
0132fanden lebhaften Beifall. Der zweite Act ist musikalisch noch
0133reicher ausgestattet. Ein Terzett der Pauline mit den zwei
0134sittenstrengen Amtspersonen wirkt durch seine graziöse
0135Schelmerei ganz köstlich. Noch mehr das Finale, von
0136dessen langsam wiegenden Walzermotiven der feurige Schluß
0137sich überaus effectvoll abhebt. Auf den lieblichen „Trau-
0138schau-wem“-Walzer dieses Finales hat uns schon die Ouver-
0139türe aufmerksam gemacht, wo das Thema in Terzen von
0140zwei Flöten geblasen und von den Geigen anmuthig
0141contrapunktirt wird. Mit dem Finale des zweiten Actes
0142ist das dramatische Pulver so ziemlich verschossen; es bleiben
0143dem Componisten eigentlich nur drei, mit der Scene sehr
0144locker zusammenhängende Lückenbüßer: die Couplets Tymo-
0145leon’s und Müller’s, dann das Kaffee-Septett. Hier hilft
0146die Musik uns und dem Textdichter angenehm über
0147das Stillestehen der Handlung hinweg; insbesondere thun
0148es die von Herrn Josephi mit wohlthuender Wärme
0149gesungenen Strophen „So wunderschön!“. Mit der
0150Aufzählung dieser effectvollsten Gesangsstücke sind die Vor-
0151züge der Partitur keineswegs erschöpft; zahlreiche Details
0152im Orchester, die sich hier schwer beschreiben lassen, bereiten
0153dem lauschenden Musiker ein Extravergnügen. Wenn der 
0154gleichmäßige Rhythmus eines Stückes monoton zu werden
0155droht, schiebt Strauß schnell eine weiche Flötenpassage da-
0156zwischen, oder eine Pizzicato-Figur der Geigen, oder einen
0157unerwarteten hellen Accord der Waldhörner. Längere ge-
0158sprochene Scenen im dritten Acte werden von einer so feinen
0159melodramatischen Musik begleitet, daß man fast mehr darauf
0160achtet, als auf die Reden der Schauspieler. Mit welchem
0161Vergnügen haben wir wieder im „Waldmeister“ der reiz-
0162vollen, stets vornehmen und natürlichen Instrumentirung
0163gelauscht, welche jede, auch die kleinste Composition von
0164Johann Strauß auszeichnet. Es ist wahrlich keine musikalische
0165Majestäts-Beleidigung, wenn wir behaupten, es herrsche in
0166seinem Orchester Mozart’scher Goldklang.


0167Die Aufführung des „Waldmeister“ gehört zu den besten
0168des Theaters an der Wien. Fräulein Dirkens — um
0169geziemend mit den Damen zu beginnen — war uns als
0170Pauline eine neue und durchaus erfreuliche Bekanntschaft.
0171Sie behandelt ihr zartes Stimmchen sehr geschickt, fein und
0172geschmackvoll. Ob sie nun singt, spielt oder tanzt, immer ist
0173sie graziös, decent und von natürlicher Lebendigkeit. Fräulein
0174Pohlner (Freda) bewährte sich als gute Sängerin, und
0175Frau Biedermann machte mit der bekannten über-
0176triebenen Beweglichkeit ihres Mienen- und Geberdenspiels
0177gerade als Kammerkätzchen Jeanne viel Effect. Von den
0178Herren stand Girardi als sächsischer Professor im Vorder-
0179grunde durch seine unwiderstehliche Drolligkeit; er ist die
0180komische Seele des ganzen Stückes. Die beiden größeren
0181Gesangspartien, Botho und Tymoleon, kommen durch Herrn
0182Streitmann und Herrn Josephi zu voller Geltung,
0183sowie die komischen Nebenrollen durch die Herren Kern-
0184reuter
, Lunzer und Lindau. Ein besonderes Lob
0185verdienen das Orchester und dessen Dirigent Herr Adolph
0186Müller. Nur würde manchen Nummern ein weniger
0187schleppendes Tempo zu statten kommen: dem Liebesduett,
0188dem zweiten Finale, insbesondere den beiden Couplets von
0189Girardi. Ueber den Erfolg des „Waldmeister“ können
0190wir nur wiederholen, was unsere gestrige Notiz bereits ge-
0191meldet: er war nicht blos ehrenvoll, sondern glänzend.
0192Meister Strauß kann mit dem Abend vollauf zufrieden sein.
0193Wir waren es auch.