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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 11270. Wien, Donnerstag, den 9. Januar 1896

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Philharmonische Concerte.


0002Ed. H. In den beiden letzten Philharmonie-Concerten
0003bekamen wir zwei Novitäten zu hören: ein Clavierconcert 
0004von E. Schütt und eine symphonische Dichtung von
0005Richard Strauß: „Till Eulenspiegel’s lustige Streiche.“
0006Beide haben Interesse erregt und lebhaften Beifall geerntet;
0007eine bleibende Bereicherung des Concert-Repertoires dürften
0008sie schwerlich bedeuten. Herr Schütt gefiel weit mehr
0009durch sein virtuoses Clavierspiel, als durch seine Compo-
0010sition. Er verfügt über ein graziöses Compositions-Talent
0011von bescheidenem Wuchs, das sich in dem Clavierconcert zu
0012anspruchsvoll und gewaltsam streckt. Schütt’s weiches
0013schmiegsames Naturell, seine französisch-russische Eleganz
0014sprechen sich am gewinnendsten in kleinen Formen aus, wie
0015seine bekannteren Clavierstücke darthun. Erfindung und Ge-
0016staltungskraft sind nicht kräftig genug in Schütt, um große
0017symphonische Formen zu erfüllen und zu bewältigen. Die
0018anmuthigen Einzelheiten seines Concerts, vornehmlich des
0019Andante, verschwimmen häufig in dem Wust unruhiger
0020Passagen oder werden erdrückt von einer geradezu mörde-
0021rischen Instrumentirung. In diesem Aufgebot der Bläser
0022und der Lärminstrumente hat sich der Componist offenbar
0023verrechnet, und hier dürfte durch nachträgliche Lichtung eine
0024freiere Aussicht zu gewinnen sein für spätere Aufführungen.
0025Herr Schütt, der sich leider selten öffentlich hören läßt, hat
0026durch seine glänzende Virtuosität das Publicum der Phil-
0027harmonie-Concerte förmlich überrascht.


0028Das folgende (fünfte) Concert begann mit einer der
0029schönsten Symphonien von Mozart, der dreisätzigen in
0030D-dur. Sie wurde fein und lebendig gespielt, hätte aber
0031durch etwas weniger schnelle Tempi, besonders im ersten
0032Satz, noch gewonnen. Die ganz eigene, echt Mozart’sche
0033Grazie geht leicht verloren, wenn man sie auch nur ein
0034wenig zur Eile antreibt. Die Symphonie wurde so stürmisch
0035und anhaltend applaudirt, daß wir uns der Empfindung 
0036nicht erwehren konnten, es stecke eine kleine anticipirte De-
0037monstration darin. War es doch vorauszusehen, daß zwei
0038nachfolgende Nummern allermodernsten Styles einen orga-
0039nisirten Beifallssturm entfesseln würden, und da mochte
0040doch die Majorität des Publicums ihren Mozart nicht allzu
0041schmerzlich von den Herren Richard Strauß und Bruckner 
0042geschlagen wissen. Mendelssohn’s Hebriden-Ouvertüre 
0043hätte den Platz nach der Mozart’schen Symphonie bekommen
0044sollen; unmittelbar nach einem coloristischen Paradestück wie
0045der „Eulenspiegel“ von R. Strauß mußten ihre Farben
0046etwas verblaßt aussehen, und die Farben geben heute,
0047wie es scheint, allein den Ausschlag. Richard Strauß 
0048hat in Einem Orchestersatz (auf den die Bezeichnung „in
0049Rondoform“ nur in weitester Auslegung paßt) eine wahre
0050Weltausstellung von Klangeffecten und Stimmungscontrasten
0051eröffnet. Die Einheit dieser rhapsodischen Einfälle haben wir
0052in der Aufschrift „Till Eulenspiegel’s lustige Streiche“ zu
0053suchen. Niemand wird an derlei poetischen Anregungen
0054Anstoß nehmen, wenn nur (wie Schumann stets betont hat)
0055das Musikstück auch ohne die specielle Ueberschrift verständ-
0056lich, zusammenhängend und reizvoll ist. Auch daß gerade
0057unser Eulenspiegel zu humoristischer Musik verlocken könne,
0058begreift man. Er hat zu einer Anzahl älterer Singspiele
0059(von S. Schmidt, Rungenhagen, Adolph Müller) den Stoff
0060geliefert, von Nestroy’s köstlicher Posse ganz abgesehen. Wie
0061ein echter Tondichter solche Anregung verwerthet, hat uns
0062Schumann in seinen „Klängen aus Osten“ gezeigt. Ihm war
0063bei diesen kleinen Charakterstücken die orientalische Schelmen-
0064figur des Abu Seid vorgeschwebt, den Schumann selbst ein
0065Seitenstück des Eulenspiegel nennt, nur edler und poeti-
0066scher. Streicht man von dem Hefte die Ueberschrift und
0067das kurze Vorwort, so lassen uns die reizenden Clavierstücke
0068Schumann’s keinen auslegerischen Zweifel, keinen unver-
0069standenen Rest zurück. Anders mit R. Strauß’ Orchester-
0070Rondo. Trüge es nicht die Ueberschrift „Till Eulenspiegel“
0071und damit die Nöthigung, nach einem bestimmten Zu-
0072sammenhange zu suchen, hieße es einfach „Scherzo“, so
0073würde der unbelehrte und unhöfliche Zuhörer es vielleicht 
0074kurzweg ein verrücktes Stück nennen. Mit seinem Titel
0075nennen wir es, für unseren bescheidenen Theil — ebenso.
0076Wie viel hübsche, witzige Einfälle tauchen darin auf; aber
0077kein einziger, dem nicht sofort ein anderer auf den Kopf
0078spränge, ihm das Genick zu brechen. Man täuscht sich,
0079wenn man diese maß- und meisterlose Bilderjagd für ein
0080Ueberquellen jugendlicher Genialität halten möchte, für die
0081Morgenröthe einer großen neuen Kunst; ich kann darin nur das
0082Gegentheil erblicken: ein Product der raffinirtesten Décadence.


0083Es fehlen die neuen bedeutenden Gedanken, musi-
0084kalischen Ideen und die sie gestaltende Kraft. Diesen Mangel
0085ersetzen uns keine Aeußerlichkeiten, keine Geistesblitze, und
0086wären es die glänzendsten. Wir besitzen ein Buch von dem
0087Grazer Wagnerianer Hausegger: „Die Musik als
0088Ausdruck
“; dafür gäbe Strauß-Eulenspiegel ein prächtiges
0089Beispiel ab. Jede Figur, jede Modulation soll etwas „aus-
0090drücken“. Was? Darüber mögen wir uns den Kopf zer-
0091brechen. In der Partitur wimmelt es von suggestiven Vor-
0092tragsanweisungen, die mitunter ans Komische streifen:
0093„liebeglühend, wüthend, leichtfertig, schattenhaft, entstellt,
0094kläglich“. Sogar ein einzelner Ton, das tiefe F der Contra-
0095bässe und Posaunen, soll „drohend“ vorgetragen werden!
0096Anders kann man ihn doch nicht geigen oder blasen, als
0097wenn einfach forte oder ff darunter stünde. Es müßten denn
0098die Orchestermitglieder ein drohendes Gesicht dazu machen.
0099Vielleicht kommt auch das noch einmal in die „Musik als
0100Ausdruck“.


0101Die Tyrannei der „Musik als Ausdruck“ beginnt uns
0102etwas langweilig zu werden; wir möchten nicht ungern auch
0103wieder einmal „Musik als Musik“ hören. Damit ist ge-
0104sunder Humor und allerhand Eulenspiegelei wohl verträg-
0105lich. Nur müssen unsere jüngsten Musik-Symbolisten die
0106Jean Paul’sche Definition vom Humor, der mit einem
0107Auge lacht, mit dem andern weint, nicht wörtlich übertragen
0108wollen und es für Humor ausgeben, wenn sie uns ins
0109rechte Ohr D-dur, ins linke D-moll blasen. Till Eulen-
0110spiegel war ein lustiger armer Teufel; die Schelmenstreiche,
0111mit denen er Bauern und Spießbürger aufsitzen ließ, hatten [2]
0112nicht die geringste Aehnlichkeit mit dem Einbruche der Eng-
0113länder im Transvaal oder dem Kriege der Italiener in
0114Massauah. Es darf uns demnach verwundern, daß
0115R. Strauß für seinen „Eulenspiegel“ eine so furchtbare
0116Armee von Orchester-Instrumenten ausrücken läßt. Flöten,
0117Oboen, Clarinetten, alle vierfach, dazu acht Hörner, sechs
0118Trompeten, drei Posaunen nebst Baßtuba, Pauken, große
0119Trommel, Tambour, Becken, Triangel und — eine große Ratsche!
0120Solche Ehren hat sich Eulenspiegel sein Lebtag nicht träumen
0121lassen. Mit dieser Armee operirt der Componist außerordent-
0122lich gewandt; wir kennen ihn längst als einen glänzenden
0123Virtuosen der Mache. Seine speciellen Talente schmücken
0124auch das „Eulenspiegel“-Scherzo. Es ist verschwenderisch in
0125Klangeffecten, pikant in seinen überraschenden Contrasten,
0126voll contrapunktischer Kunststückchen, origineller Rhythmen
0127und witziger Modulationen; Alles furchtbar geistreich und
0128wahnsinnig schön.


0129Die Strauß’sche Novität, welche die vollendetste Virtuo-
0130sität in Anspruch nimmt, wurde unter Hanns Richter’s 
0131Leitung bewunderungswürdig gespielt. Ein ähnliches Meister-
0132stück lieferten die Philharmoniker in ihrer jüngsten Auf-
0133führung der „Sinfonie pathétique“ von Tschaikowsky.
0134Wir haben das wunderliche Werk auch zum zweitenmal
0135gern gehört; es ist doch Seele darin, nicht bloßer Witz.
0136Auch eine der durch ihre erhabene Länge berühmten Bruck-
0137ner
’schen Symphonien kam neuerdings zur Aufführung.
0138Diesmal war es „Die Romantische“ in Es-dur. Nachdem
0139sie bereits dreimal in Wien gespielt worden ist, darunter
0140zweimal unter Hanns Richter, so dürfen wir wol heute an
0141ihr respectvoll vorübergehen.


0142Unter den jüngsten bekannten Wiederholungen im
0143philharmonischen Programm fiel uns das Vorspiel zu
0144Parsifal“ auf. Wenn Wagner, der Dramatiker par
0145excellence, durchaus auch im Concert als Instrumental-
0146Componist vertreten sein muß, dann erscheint jede seiner
0147Ouvertüren passender dazu, als gerade diese. Das „Parsifal“-
0148Vorspiel findet seine einzig richtige Stelle und Wirkung in
0149unmittelbarem Anschluß an das Drama. Wer letzteres nicht 
0150kennt — und die große Mehrzahl der Wiener war ja nicht
0151in Bayreuth — dem bleibt das Vorspiel völlig unverständ-
0152lich und unerquicklich. Sollte hier vielleicht die neueste
0153Wagner-Mode, die Exaltation für das religiöse Element
0154in Wagner, mitspielen? Dann dürften wir uns eigentlich
0155wundern, daß die Wagner-Apostel diese heilige Musik über-
0156haupt in einen profanen Concertsaal zulassen. Vor Wagner’s
0157letztem Werk, dem „Parsifal“, ist es Niemandem eingefallen,
0158von der Religiosität und der „Gottinnigkeit“ Wagner’s
0159zu sprechen, für die auch wirklich „Tannhäuser“, „Walküre“,
0160Tristan und Isolde“ wenig passende Beispiele darboten. Mit
0161gewissen frommen Strömungen neuester Zeit mag es zu-
0162sammenhängen, daß nun auch die „Religiosität“ als höchste
0163bewegende Kraft in Wagner gefeiert wird. Ein Franzose,
0164der Abbé Marcel Hébert, Director der Ecole Fénélon
0165in Paris, veröffentlicht soeben ein eigenes Buch über „das
0166religiöse Gefühl in Wagner’s Werken
“.*) Darin
0169kämpft er mit pietistischen und dilettantisch-philosophischen
0170Ueberschwänglichkeiten und mit zahllosen Citaten aus den
0171Wagnerianern E. Schuré, Chamberlain, Kufferath, H.
0172Dinger, Noufflard und Wolzogen für die Heiligkeit Wagner’s.
0173Freiherr Hanns v. Wolzogen führt das Buch mit einer
0174Vorrede ein, worin er es „wohlthuend bemerkt, wie das
0175Verständniß für den religiösen Grund der Wagner-
0176schen Kunst auch bei den Vertretern der Religion selbst
0177zunimmt“. Nach Herrn von Wolzogen „beruht Wagner’s
0178Kunst (wie Parsifal’s Wissenschaft) auf dem religiösen
0179Grund der Erkenntniß des Erlösers“. (!) Und welchen classi-
0180schen Zeugen für Wagner’s frommen Christenglauben führt
0181Wolzogen auf? Den Berliner Hofprediger Stöcker!
0182Dieser habe „die schönsten Worte über das Bühnenweih-
0183festspiel geschrieben“. Wagner würde sich ohne Zweifel gegen
0184die Zusammenstellung mit einem Subject wie Stöcker ge-
0185wehrt haben. Ich gehöre nicht zu den Intimen Wagner’s,
0186dennoch thut es mir in der Seele weh’, wenn ich ihn in der 
0187Gesellschaft seh’.

Fußnoten
  • *)Deutsche Uebersetzung von A. Brunemann, München, bei
    A. Schupp, 1895.