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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 11303. Wien, Dienstag, den 11. Februar 1896

[1]

Musik.

(Viertes Gesellschaftsconcert.)


0003Ed. H. Massenet’sEva“, ein elegantes Miniatur-
0004Oratorium, ist vom Componisten als „Mysterium“ bezeichnet.
0005So hießen in Frankreich die geistlichen Schauspiele des
0006Mittelalters. In neuester Zeit scheint diese archaïstische
0007Benennung wieder aufzutauchen, wie der „Christus“ des
0008belgischen Componisten Adolph Samuel darthut, ein
0009Mysterium, welches jüngst den bekümmerten Zuhörern in
0010Köln lieber ein Geheimniß geblieben wäre. Massenet,
0011heute der Beherrscher und rührige Versorger der franzö-
0012sischen Opernbühne, hatte nach dem Mißerfolg seiner ersten
0013komischen Oper „Don César de Bazan“ vor 22 Jahren
0014einen leichten geistlichen Anfall verspürt, welcher das Orato-
0015rium „Maria Magdeleine“ verursachte. Die günstige Auf-
0016nahme desselben zeitigte in Massenet rasch ein zweites ähn-
0017liches Werk, die „Eva“. In gleichem Styl wie „Maria Magde-
0018leine“ gehalten, nur von geringerem Umfang, errang „Eve“ 1875 
0019einen glänzenden Erfolg in der Pariser Société de l’harmonie
0020sacrée. Demungeachtet trieb richtige Selbsterkenntniß und altes
0021Herzensbedürfniß den Componisten schnell wieder in den
0022Hafen der Oper, wohin die Magnetnadel des französischen
0023Talentes seit jeher gezeigt und mit ganz vereinzelten Aus-
0024nahmen (Berlioz, César Franck) alle Franzosen unwiderstehlich
0025nachgezogen hat. Mit seinem nächsten Werk, dem „König
0026von Lahore“, ist Massenet wieder entschieden und erfolgreich
0027zur Operncomposition zurückgekehrt. Director R. v. Perger 
0028hatte seinerzeit das holländische Publicum mit Massenet’s
0029Eva“ so gründlich erbaut und entzückt, daß er sie den
0030Wienern glaubte nicht vorenthalten zu dürfen. Wir pflegen
0031uns hier von Pariser Erfolgen gern ein bischen vor-
0032einnehmen zu lassen und in Theaterdingen gewiß nicht
0033ohne Grund. Hingegen auf dem Gebiet religiöser und sym-
0034phonischer Musik beeilen wir uns durchaus nicht mit der 
0035Bekanntschaft noch mit der Ueberschätzung von französischen
0036Novitäten. In diesem Punkte kann man uns
0037nicht nachsagen, was Prosper Mérimée 1854 an seine
0038„Unbekannte“ aus Wien schreibt: „Le monde étant ici
0039gemüthlich, on prend tout ce que dit un Français
0040pour de l’esprit.“ Der „Eva“ gestehen wir Esprit höchstens
0041in der engeren französischen Bedeutung zu; der Geist, der
0042die Bibel begreift und sie mit urkräftigem Leben durchdringt,
0043ist darin nicht zu erkennen. Massenet hat sich auch gehütet,
0044sein feines graziöses Talent zu dem Wuchs oratorischen
0045Styles zu strecken, etwa Händel, Haydn oder Mendelssohn 
0046nacheifernd; was er beabsichtigt, ist offenbar nichts Anderes,
0047als eine biblische Idylle, ein paradiesisches Familienstück —
0048leider mit unglücklichem Ausgang. Daß Massenet, wie alle
0049Franzosen, überall theatralisch denkt und fühlt, beweist nicht
0050blos der Charakter seiner Musik, sondern obendrein die
0051scenische Anweisung vor jeder der drei Abtheilungen. So
0052zum Beispiel: „Ausgestirnter Himmel. Milde Sommernacht,
0053berauschend und duftig. In der Einsamkeit des Waldes geht
0054Eva träumerisch“ u. s. w. Insofern es ihm wesentlich um die
0055Schilderung paradiesischer Naturschönheit und schuldlosen
0056Liebesglücks zu thun war, hat Massenet seinen Stoff gewiß
0057nicht schlecht gewählt. Die Landschaft ist verlockend, aber die
0058Staffage ist bedenklich. Welches Wagstück, die ersten
0059Menschen redend oder singend einzuführen! Wenn sie im
0060Augenblick ihres Werdens schon mit Vorstellungen und
0061Begriffen hantieren, die wir erst nach Tausenden von
0062Jahren allmälig erworben haben, so werden sie für unser
0063modernes Bewußtsein leicht komisch. Wie immer sie sich
0064ausdrücken mögen, ihr Gespräch ist unmöglich und viel un-
0065begreiflicher als im Märchen die redenden Thiere. Nur
0066eine längst verlorene Naivetät fühlt nicht diesen Zwiespalt
0067in einem ernsten Kunstwerk. Je naiver, roher, holzschnitt-
0068mäßiger Adam und Eva auftreten, desto besser für sie und
0069für uns. Wir hören dann ihre Gespräche ungefähr so an,
0070wie wir mittelalterliche kindliche Handzeichnungen vom
0071Sündenfall betrachten. In einem alten geistlichen Singspiel
0072Der geschaffene, gefallene und wieder aufgerichtete Mensch“, 
0073das als Eröffnungsstück der ersten deutschen Oper in Ham-
0074burg (1678) denkwürdig bleibt, erwacht Adam, den Gott 
0075eben in Gegenwart des Publicums geschaffen, mit folgenden
0076Versen:
0077O, noch nie erblickte Sachen, /
0078Die mich ganz erstarren machen: /
0079Himmel, Erde, Thiere, Meer, /
0080Ja das ganze Gottesheer, /
0081Was bekomm’ ich ins Gesicht? /
0082Leb’ ich oder leb’ ich nicht? /


0083Das ist nicht viel komischer, als wenn Massenet’s 
0084Adam, die Eva erblickend, im galantesten Französisch aus-
0085ruft: „Oh, séduisant mystère; quelle forme éclatante a
0086passé devant moi!“ Es thut Einem die Wahl weh. Louis
0087Gallet, der Dichter des Mysteriums, ist vorsichtig be-
0088müht, Allem auszuweichen, was streng dogmatisch
0089und unseren Vorstellungen allzu widersprechend wäre;
0090er läßt weder Gott Vater, noch die Schlange singen.
0091Außer Adam und Eva tritt nur noch „der
0092Sprecher“, auf, als Erzähler und Erklärer des Zu-
0093sammenhangs; dazwischen ein Chor der Naturstimmen und
0094der Höllengeister. Wunderlich fälscht Gallet die Bibel für
0095seine lyrischen Zwecke: nicht die Erkenntniß des Guten und
0096Bösen, welche Eva der Gottheit gleich machen werde, ver-
0097sprechen ihr die Höllengeister, sondern — die Liebe. Die
0098Liebe sei die verbotene Frucht, welche Eva vom Baume
0099pflücken soll. Wozu Eva eigentlich geschaffen wurde, wenn
0100ihr die Liebe verboten blieb, das ist Herrn Gallet’s Ge-
0101heimniß. Der Form nach ist Massenet’s „Eva“ ein Ora-
0102torium in Taschenformat. Diese gedrängte Fassung hat ihr
0103Gutes; sie läßt uns den Mangel an Handlung und Ab-
0104wechslung weniger fühlen. Im Oratorium, sei es aus dem
0105Alten oder Neuen Testament, sind wir an mächtige Be-
0106gebenheiten, an große Charaktere, an den gewaltigen Einklang
0107oder Widerstreit ganzer Völker gewöhnt. So sehr auch das
0108Oratorium seit Mendelssohn in den Hintergrund getreten
0109ist, man kann nicht behaupten, daß die Empfänglichkeit
0110dafür nicht wieder aufwachen könne, wenn eines Tags eine
0111mächtige musikalische Kraft sich dafür begeistert. Diese hole [2]
0112sich getrost Menschen aus der Bibel — nur nicht die
0113beiden ersten.


0114Massenet’s Mysterium zerfällt in drei Abtheilungen.
0115Die erste („Erschaffung des Weibes“), von einem einfachen,
0116recht hübschen Chor eingeleitet, bringt ein gemäßigt zärtliches
0117Duett zwischen Adam und Eva, meist in Terzen; mehr
0118dankbar für die Sänger, als für die Hörer. Wir hören
0119dann ein fein instrumentirtes Vogelgezwitscher und Blätter-
0120rauschen, in welches unsichtbare Geister den Ruf „Eva!“
0121mischen. Der Chor selbst, Frauenstimmen unisono, ist unbe-
0122deutend, wird aber durch die Orchesterfarben belebt. „Die
0123Versuchung“ füllt die zweite Abtheilung. Der vierstimmige
0124Chor a capella in H-dur, überaus wohlklingend, zart und
0125stimmungsvoll, ist das Erfreulichste in dem ganzen Myste-
0126rium. Er wurde von unserem „Singverein“ wunderschön
0127gesungen und hat weitaus am besten gefallen. Von da an
0128wird die Geschichte immer opernhafter und — langweiliger,
0129mag auch Eva, von den Geistern der Hölle umgeben, noch
0130so primadonnenhaft ins hohe H hinaufjubeln. Den dritten
0131Theil („Der Fall“) eröffnet eine moralisirende Arie des
0132Sprechers, worauf Adam und Eva ein Liebesduett Nr. 2
0133singen. In schleppendem Neun-Achtel-Tact sucht es sich fort-
0134während in die Höhe zu heben, sinkt immer wieder herunter
0135und entläßt uns schließlich, trotz der Verstärkung durch einen
0136vollstimmigen Chor, enttäuscht wie nach einem schlechten Opern-
0137duett. Bis hieher ist die Musik fast durchaus weichlich senti-
0138mental, opernmäßig, etwa auf das Diapason von Gounod’s
0139Faust“ gestimmt. Das Liebesduett (wenn es besser wäre)
0140könnten ebenso gut Faust und Gretchen, Romeo und Julie 
0141singen. Ja, die Stelle Eva’s „Je posséderai la puissance“
0142hat ganz genau so Gounod’s Margarethe schon früher ge-
0143sungen. Gegen diese Süßigkeiten braucht nun der Componist
0144dringend einen kräftigen Contrast und Gegenschlag. Er hat
0145sich auch thatsächlich für den Epilog „Der Fluch“ eine
0146imposante Reserve an Effecten aufgespart. Zu dem Chor,
0147welcher, unisono oder in Octaven, fortissimo den Fluch auf
0148das sündige Paar schleudert, rasen die Geigen in chroma-
0149tischen Accorden, schmettern die Hörner, Trompeten und
0150Posaunen, donnern die Pauken und — was wir zum ersten-
0151male erleben — zwei große Trommeln! (Das dürfte in 
0152den Partituren unserer Jüngstdeutschen Nachahmung finden:
0153große Trommeln divisi!) Außerdem läßt Massenet auf einem
0154Tantam ein wüthendes Kettengerassel vollführen. Nach
0155unseren Anschauungen paßt dieser Spectakel ebensowenig zu
0156einem biblischen Stoff, wie die schmachtende Opernverliebt-
0157heit der früheren Theile. Freilich der moderne Opern-
0158componist, der französische zumal, mag weder auf die neuesten
0159Effectmittel verzichten, noch kann er, selbst bei guten Vor-
0160sätzen, aus seiner Haut heraus. Wie aber soll er dann,
0161wird man fragen, Adam und Eva componiren? Antwort:
0162Gar nicht!


0163Trotz des sorgfältigen Vortrages von Fräulein Mora,
0164Herrn Ritter und dem Berliner Concertsänger Herrn
0165von Zur Mühlen vermochte die von Director Perger 
0166musterhaft studirte Novität das Publicum nicht zu erwär-
0167men. Massenet’s Paradies dürfte für Wien ein „ver-
0168lorenes“ bleiben.


0169Dicht neben Massenet’s „Eva“, und davon so ver-
0170schieden wie möglich, erschien ein Fragment aus Händel’s 
0171Oratorium „Sieg der Zeit und der Wahrheit“.
0172Wenn Chrysander darüber klagt, daß dieses Oratorium,
0173welches Händel doch zweier Umarbeitungen werth gefunden,
0174ganz vergessen ist, so erklärt sich das zunächst aus der
0175Dichtung. Da treten als singende Personen ausschließlich
0176nur allegorische Figuren auf: die Zeit, die Weisheit, die
0177Schönheit, das Vergnügen, der Betrug. Was sie einander
0178zu sagen haben, gleicht einer akademischen Disputation oder noch
0179häufiger einem mündlichen Proceß mit Klage und Einrede,
0180Replik und Duplik. Den Richter macht stets „die Weisheit“, eine
0181Acquisition, welche den Neid manches Bezirksgerichtes er-
0182wecken mag. Die Analogie mit einem Proceßverfahren ist
0183um so zutreffender, als bei Händel niemals zwei der Parteien
0184sich zu einem dramatischen Duett vereinigen, sich in dem
0185Principienstreit unterstützend oder bekämpfend, was doch
0186musikalisch so nahe lag. Allegorische Dichtungen von solchem
0187Umfang gehören einer ganz überwundenen Geschmacks-
0188richtung an; sie lassen uns völlig kalt. Wie ist Händel zu
0189diesem Libretto gekommen? Ein in Poesie dilettirender
0190Cardinal übergibt das Gedicht „Il trionfo del Tempo e
0191del Disinganno“ dem 23jährigen Händel, den er in Rom 
0192(1708) protegirt. Nichts ist einfacher und natürlicher, als
0193daß Händel, froh, einen Stoff für sein nach Be-
0194thätigung dürstendes Talent zu bekommen und obendrein
0195seinen mächtigen Beschützer damit zu verbinden, unbe-
0196denklich zugreift und das Gedicht componirt. Chrysander 
0197jedoch, der die künstlichsten Deutungen liebt, wo es die
0198Vergötterung Händel’s gilt, erblickt eine „große geschicht-
0199liche Bedeutung“ darin, daß gerade der junge Händel in
0200Rom aufgefordert wird, „durch seine Kunst den Kampf sitt-
0201licher Mächte mit den Reizen des Sinnenlebens, den Sieg
0202der Wahrheit über eitlen Schein zu feiern“. Es sei „ein
0203äußerst merkwürdiges Zeugniß über Händel’s Jugend, daß
0204seine römischen Freunde schon damals etwas ahnten von
0205seiner Mission, das sittlich rath- und haltlos gewordene
0206Leben wieder geordnet herzustellen“. Was für ein Gesicht
0207wol Händel gemacht hätte, wäre ihm also bewiesen worden,
0208welch hochgegriffene moralische Absichten er bei der Annahme
0209jenes Textbuches verfolgt habe! Händel, der ganz Musiker
0210war, und zwar ein sehr praktischer, würde damals aus
0211den Händen des Cardinals wahrscheinlich ein anderes
0212Gedicht als den „Trionfo“ ebenso willig zur Composition
0213übernommen haben. Sein Triumph war die gute Musik.


0214Aus diesem Oratorium (wohlgemerkt, aus dessen letzter
0215englischer Umarbeitung von 1757) hat Director v. Perger 
0216zwei große Musikstücke herausgehoben: den Lobgesang auf
0217die Jagd, einen ungemein frischen, jubelnden Chor, und
0218hierauf die Tenor-Arie mit Chor: „Dryads, Sylvans with
0219fair Flora“. Beide Stücke machten prächtige Wirkung, ins-
0220besondere durch die echt Händel’sche Klangschönheit und Fülle
0221des Chorsatzes. Die Tenor-Arie sang Herr von Zur Mühlen 
0222(dessen Organ der Klangfarbe nach allerdings ein entschie-
0223dener Bariton ist) mit tüchtiger Gesangstechnik und styl-
0224gemäßen Vortrag. So hat denn Zeit und Wahrheit auch
0225in dem „gemüthlichen“ Wien gesiegt und der alte Händel 
0226den jungen Massenet aufs Haupt geschlagen. Den meisten
0227Beifall entfesselte übrigens, was zwischen den beiden Ora-
0228torien inmitten stand: das von Herrn Hugo Heermann 
0229meisterhaft vorgetragene Violinconcert von Brahms — der-
0230selbe gefährliche Gipfel moderner Geigerkunst, den wenige
0231Tage zuvor der kleine Hubermann ruhmvoll erstiegen hat.