Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 11331. Wien, Dienstag, den 10. März 1896
[1]Musik.
(Viertes Gesellschafts-Concert. Siebentes Philharmonie-Concert.)
0003Ed. H. Das Gesellschafts-Concert gewann ein besonderes
0004Interesse und individuellen Charakter durch die Mitwirkung
0005von Dr. Karl Reinecke aus Leipzig. Er hat Wien zuletzt
0006im October 1885 besucht, wo ihn aber nicht das Concert-
0007Publicum, sondern nur eine Commission von Musikgelehrten
0008zu sehen bekam: die vom Unterrichtsminister Dr. v. Gautsch
0009einberufene „Conferenz zur Herbeiführung eines einheitlichen
0010musikalischen Normaltons“. Reinecke stimmte damals mit
0011uns für die Beibehaltung des französischen Diapasons, und
0012hat so zu dem glücklichen Resultate mitgeholfen, daß nicht,
0013einer mathematischen Schrulle zulieb, die bereits erreichte
0014Uebereinstimmung aller musikalisch hochstehenden Nationen
0015in Bezug auf die Stimmgabel wieder vernichtet wurde.
0016Jetzt ist er in dreifacher Eigenschaft, als Dirigent,
0017Componist und Clavierspieler, vor das Publicum ge-
0018treten. Sein Dirigentenruhm stammt bekanntlich von den
0019Leipziger Gewandhaus-Concerten, welche Reinecke seit dem
0020Jahre 1860 geleitet hat, bis er ganz kürzlich sie in die Hände
0021eines jüngeren Nachfolgers, Arthur Nikisch, zurücklegte.
0022Als Componist seit früher Jugend außerordentlich fruchtbar,
0023schrieb er an dritthalbhundert Werke, von denen insbeson-
0024dere die in ihrer Art unübertrefflichen „Kinderlieder“, die
0025„Alpensee-Phantasie“ (aus Schumann’s „Manfred“) und die
0026humoristische Ouvertüre „Nußknacker und Mäusekönig“, po-
0027pulär geworden sind. Reinecke’s Orchester-Ouvertüren zu
0028„Dame Kobold“, „Aladin“, „König Manfred“ schmücken
0029das Repertoire der meisten deutschen Concertvereine, auch
0030mehrere seiner Opern behaupten sich auf einigen Bühnen.
0031Als Clavier-Virtuose ist Reinecke in früheren Jahren viel
0032gereist und überall als einer der feinsten, geschmackvollsten
0033Spieler anerkannt worden. Insbesondere sein Vortrag
0034Mozart’scher Compositionen galt als unübertrefflich; Reinecke
0035theilte mit Ferdinand Hiller den Ruhm des besten Mozart-
0036spielers in Deutschland. Als Dritten in dieser Veteranenreihe
0037nennen wir mit gutem Gewissen unseren Julius Epstein.
0038Unter den Jüngeren würden wir diese Kunst als ausgestorben
0039beklagen, hätte uns nicht Marie Baumayer durch ihren
0040Vortrag des B-dur-Concertes eines Besseren belehrt. Mit
0041dem Mozart’schen „Krönungsconcert“ (so genannt, weil es
0042Mozart während der Krönungsfestlichkeiten Kaiser Leopold’s II.
0043in Frankfurt 1790 gespielt hat) trat auch Reinecke in dem
0044letzten Gesellschafts-Concert auf. Alle Reize der Composition
0045kehrte er glänzend hervor, zugleich alle Vorzüge seines
0046Spieles, dessen perlende Geläufigkeit, Klangschönheit, Frische
0047und Anmuth das Alter des jetzt 72jährigen Künstlers Lügen
0048straften. Das Concert „floß wie Oel“, wie Mozart zu sagen
0049liebte, und ward für Reinecke zu einem Triumph, wie man
0050ihn so großartig in diesen Räumen selten erlebt hat. Das
0051Concert, ein Prüfstein für das Stylgefühl, die Anmuth
0052und Zierlichkeit des Spieles, ist es heute nicht mehr
0053für die Bravour, da seine Technik sich auf Scalen,
0054Arpeggien und Triller beschränkt. Welche Kluft liegt zwi-
0055schen den virtuosen Anforderungen dieses Concerts und
0056jenes Rubinstein’schen, das wir kurz zuvor von Busoni
0057gehört! Zwischen diesen Concerten — beide sind „fin de
0058siècle“ — liegen genau hundert Jahre. Wo wird in aber-
0059mals hundert Jahren die Clavier-Virtuosität angelangt sein?
0060Es ist kaum auszudenken.*)
Als Componist betheiligte sich
0068Reinecke an dem Programm mit einer von ihm selbst diri-
0069girten neuen Symphonie in G-moll. Die G-moll-Symphonie
0070von Mozart umgibt eine Art Heiligenschein, der die be-
0071deutendsten Componisten thatsächlich bisher abgehalten hat,
0072eine Symphonie in G-moll zu schreiben. „Dir, der Un-
0073berührbaren“ mochte Keiner dicht an die Seite treten.
0074Reinecke, der Mozartianer vor Allen, sucht sich der Ver-
0075gleichung dadurch zu entziehen, daß er seiner G-moll-
0076Symphonie einen wesentlich verschiedenen Charakter auf-
0077prägt. Es wallt kaum ein Mozart’scher Blutstropfen
0078darin, und doch gehört dieser zu Reinecke’s ursprünglicher
0079Natur. Diese scheint der Componist in seiner neuesten Sym-
0080phonie verleugnen und sich als Fortschreitender zeigen zu
0081wollen. Aber nicht jeder Fortschritt nach jeder Richtung führt
0082zum Heile. Sehr wahrscheinlich schätzt Reinecke diese größer
0083angelegte modernere Symphonie höher, als seine erste in
0084A-dur, die wir im Jahre 1866 unter Dessoff’s Direction
0085hier zu hören bekamen. Ich empfinde gerade umgekehrt und
0086gebe dem anspruchsloseren älteren Werke unbedingt den
0087Vorzug. Der Componist nahm darin keinen hohen Flug, aber
0088die Flügel waren ihm angewachsen. In der neuen Symphonie
0089sind es künstliche Ikarusflügel, die wir angsterfüllt an mehr
0090als Einer Stelle schmelzen sehen. Wie sich von einem er-
0091probten Meister wie Reinecke von selbst versteht, ist auch
0092seine G-moll-Symphonie ein wohlgeformtes, musikalisch
0093sehr tüchtiges Werk, stellenweise anmuthig, stellenweise
0094kräftig. Sie verdient manches Lob, nur das Eine
0095nicht, das wir seinerzeit der A-dur-Symphonie
0096gezollt: daß Reinecke es verschmäht, sich größer zu
0097strecken, als er gewachsen ist. Die trotzigen, zackigen Themen
0098des ersten und letzten Satzes, der mit Posaunen- und Pauken-
0099donner erkünstelte Heroismus, die weit über die Bedeutung
0100des Inhalts hinausgedehnte Form, dies Alles verräth, daß
0101der Componist sich angestrengt hat, die Gaben, die er von
0102der Natur erhalten, gewaltsam zu vermehren, anstatt, wie
0103ehemals, damit vernünftig Haus zu halten. Als ein im Alter
0104geschaffenes Werk erzwingt Reinecke’s G-moll-Symphonie
0105allerdings unsere Anerkennung, ja Bewunderung. Ueppig
0106quellende Erfindung und jugendlichen Reiz hatten wir ja
0107kein Recht, davon zu erwarten: Tondichter, die als Siebziger
0108noch jugendlich blühende Musik schreiben, wie Haydn in
0109den „Jahreszeiten“, sind seltene Ausnahmen. Das Publicum
0110hat übrigens Reinecke’s Symphonie beifällig auf-
0111genommen und den hochverdienten Meister durch wieder-
0112holten Hervorruf geehrt.
0113Einen seltenen Genuß verdanken wir den beiden, vom
0114„Singverein“ so trefflich ausgeführten a capella-Chören:
0115„Abendständchen“ von Brahms und „Regenlied“ von [2]
0116Goldmark. Nur die ungewöhnlich lange Dauer des
0117Concertes hat wol Herrn Director v. Perger veranlaßt,
0118uns mit den Vocalchören so knapp zu halten. Brahms’
0119Chöre und Quartette bieten eine reiche, schöne Auswahl
0120und sind der Mehrzahl nach sehr selten gehört. Wir legen
0121sie dem Director ans Herz; er wird den Zuhörern mehr
0122Freude damit bereiten, als mit manchem modernen Orato-
0123rium. Das Concert schloß würdig mit dem dritten Theil
0124von Schumann’s Faustmusik. Das Werk war sorgfältig
0125studirt, namentlich in den Chören, von denen uns nur das
0126„Gerettet, gerettet“ zu überstürzt im Tempo vorkam. Von
0127den Solosängern hatten Frau v. Türk-Rohn und Herr
0128Sistermans die bedeutendsten Aufgaben und den
0129meisten Erfolg. Die feine, zarte Stimme der Frau v. Türk
0130gelangte besser zur Geltung, als man vermuthen mochte.
0131Herr Sistermans, dessen kräftig schönes Organ diesmal
0132angestrenger, auch häufiger tremolirend klingt, als bei seinem
0133ersten Wiener Besuch, gab als Doctor Marianus eine ge-
0134schickte Copie seines Meisters Stockhausen, ohne die Poesie
0135des Originals zu erreichen. Für Herrn Director v. Perger
0136bedeutet der Abend einen entschiedenen Erfolg.
0137Im siebenten Philharmonie-Concert ist vorerst Gold-
0138mark’s lebensvolle, glänzend ausgestattete „Frühlings-
0139Ouvertüre“ stürmisch applaudirt worden. Einen ebenso be-
0140neidenswerthen Erfolg fand die Violin-Virtuosin Fräulein
0141Gabriele Wietrowetz, die, bereits wiederholt in
0142Wien erwartet, jetzt zum erstenmale hier aufgetreten ist. Sie
0143erwies sich als würdige Schülerin Joachim’s, als eine von
0144den österreichischen Künstlerinnen, welche den musikalischen
0145Ruhm des Vaterlandes im Auslande aufrechterhalten. Ur-
0146sprünglich hatte sie das Brahms’sche Concert zum Vortrage
0147gewählt: nachdem es ihr jedoch von Heerman und sogar
0148zweimal von dem jungen Hubermann vorweg genommen
0149war, mußte sie sich zu Mendelssohn entschließen. Wer hätte
0150es dem Brahms’schen Violinconcert nach seiner ersten Auf-
0151führung prophezeit, daß es über das Beethoven’sche und
0152Mendelssohn’sche hinweg diese Höhe der Popularität er-
0153steigen würde? Ich nicht. Zur Stunde das allerschwierigste
0154Violinconcert, würde es dem Fräulein Wietrowetz eine
0155virtuosere Aufgabe gestellt haben, als das Mendelssohn’sche.
0156Trotzdem konnte sie in letzterem doch ihren unvergleichlich
0157süßen, reinen Ton, ihre fein ausgemeißelte Technik und edle
0158Vortragsweise in helles Licht rücken. Ernst und tiefe Em-
0159pfindung charakterisiren, zu ihrer ganzen Erscheinung stimmend,
0160das Spiel dieser Künstlerin. Daß sie beim Eintritte des
0161Passagenwerkes im ersten und dritten Satze das Tempo auf-
0162fallend beschleunigte, schien weniger beabsichtigt, als durch
0163momentane nervöse Unruhe veranlaßt. Nach ihrem Erfolge
0164im Philharmonischen Concert darf Fräulein Wietrowetz jeder-
0165zeit des besten Empfanges in Wien gewärtig sein.
0166Ein hochinteressantes Werk, in welchem eigenartiges
0167Talent mit tüchtig erworbener musikalischer Bildung fast
0168gleichen Schritt hält, ist Tschaikowsky’s E-moll-Sym-
0169phonie Nr. 5. Sie könnte füglich ebenso gut wie die jüngst
0170gehörte in H-moll-Symphonie die „pathetische“ heißen. Der
0171bald in tiefste Melancholie, bald in wilde Verzweiflung über-
0172springende, düster-leidenschaftliche Charakter ist beiden gemein.
0173Auch lauert hier wie dort ohne Frage ein verschwiegenes
0174Programm im Hintergrunde; zu machen befremdenden
0175Contrasten, geheimnißvollen Vor- und Rückblicken fehlt uns
0176der poetische Schlüssel; der musikalische schließt da nicht auf.
0177Die „Pathétique“ steht übrigens gegen die E-moll-Sym-
0178phonie im Vortheil einer reicher quellenden Erfindung und
0179gedrängteren Form. Der Einfall, ein und dasselbe Haupt-
0180motiv in allen vier Sätzen wiederkehren zu lassen — er
0181beherrscht auch Dvořak’s amerikanische Symphonie — scheint
0182in neuester Zeit sich zum System ausbilden zu wollen. Wir finden
0183solche Reprisen, mehr angedeutet, schon bei Mendelssohn;
0184consequent, doch sehr maßvoll verwendet in Schumann’s
0185D-moll-Symphonie. Ein strafferes, einheitliches Zusammen-
0186fassen der vier Sätze wird damit allerdings erzielt; die
0187Hauptsache bleibt jedoch immer, daß wir diese Wiederkehr
0188des Themas als eine nothwendige empfinden, nicht als einen
0189willkürlichen launischen Aufputz. Sobald diese Methode, wie
0190wir sie bei Dvořak und Tschaikowsky kennen gelernt, zur
0191Mode würde, wären ihr Zauber und ihre überzeugende Kraft
0192auch gebrochen. In Tschaikowsky’s E-moll-Symphonie ist
0193dieses Leitmotiv eine Art Trauermarsch. Das lange, den ersten
0194Satz einleitende Andante beginnt damit; es mündet in ein
0195Allegro im 6/8 Tact. Das Hauptthema, mehr mürrisch als
0196heldenhaft oder tragisch, wird durch den daktylischen Rhythmus
0197sehr einpräglich; aber dieser Rhythmus hält den Componisten
0198fest umklammert, läßt ihn nicht los und macht uns endlich
0199ungeduldig, überdrüssig. Der zweite Satz, ein H-moll-Andante
0200im 12/8 Tact, versenkt uns in eine weichlich melancholische
0201Stimmung, der man sich schwer entwindet, ja um so williger
0202hingibt, als ein eigenartig poetisches Licht sie umfließt
0203und manch reizender musikalischer Gedanke auftaucht. Diese
0204beiden ersten Sätze scheinen mir die bedeutendsten, sie haben
0205am meisten überzeugende Logik und relativ auch den meisten
0206melodischen Gehalt. Das Thema des Scherzos, ein „Walzer“
0207in A-dur, ist nicht weit her, wirkt aber freundlich ab-
0208spannend nach der tiefen Schwermuth der früheren Sätze und
0209macht uns fähiger, den Verzweiflungsausbruch des letzten
0210zu ertragen. Es ist der einzige Satz, der ohne eigentliche
0211Heiterkeit doch nicht schroff pessimistisch klingt. Eine gefähr-
0212liche Eigenthümlichkeit des Componisten, das unersättliche
0213Wiederholen und Ausführen derselben Figur, stellt sich mehr
0214oder minder ermüdend in jedem der vier Sätze ein. Auch
0215der vierte beginnt mit einem Andante maëstoso; es über-
0216geht in ein Allegro vivace, das in trotzigem Kraft-
0217gefühl sich nicht genug thun kann. In seiner ersten
0218Hälfte interessirend, auch imponirend, wird das Finale
0219je weiter, desto betäubender und ermüdender. Da erinnert
0220Tschaikowsky vielfach an seinen Lehrer Rubinstein, der in
0221manchen Finalsätzen auch die Kraft bis zur Rohheit, die
0222Klangfülle zum Getöse steigert. Welches Cyklopen-Spectakel
0223in diesem Finale die Trompeten und Posaunen im Sturme
0224gegen den Aufruhr der Streicher und Bläser vollführen,
0225läßt sich nicht beschreiben; man muß es selbst hören, wofern
0226man noch hören kann. Die Forte-Zeichen wachsen in der
0227Partitur vom f. und ff. zum fff. an, und endlich gar zum
0228vierfach gepanzerten ffff.! Abgesehen von dem stellenweise
0229betäubenden Lärm, ist die Instrumentirung der ganzen
0230Symphonie glänzend und charakteristisch. Sie verlangt ein
0231Orchester von Virtuosen, und das hat sie in Wien gefunden.
0232Die philharmonische Elitetruppe und ihr tapferer General
0233Hanns Richter sind mit Ruhm bedeckt aus dieser Ton-
0234schlacht heimgezogen.