Wörter einzeln suchen

Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 11443. Wien, Freitag, den 3. Juli 1896

[1]

Billroth in seinen Briefen. IV.

(Schluß.)


0003Ed. H.*) Am 21. Juli 1870 stellte Billroth in der Sitzung
0006des „Oesterreichisch-patriotischen Hilfsvereins in Wien“ den An-
0007trag, ohne Entschädigung sich auf den deutschen Kriegsschau-
0008platz begeben zu wollen, und reiste als Delegirter des Ver-
0009eins mit seinem Assistenten Dr. Czerny wenige Tage später
0010ab. Unermüdlich thätig auf dem Kriegsschauplatze, schrieb er
0011doch, so oft es nur möglich, von Weißenburg, zuletzt von
0012Mannheim nach Hause. Die Briefe sind rührend durch ihre
0013zärtliche Sorgfalt für Frau und Kinder, zugleich voll
0014wichtiger Bemerkungen über die Geschichte des deutsch-fran-
0015zösischen Krieges. Nach diesen Anstrengungen erholt sich
0016Billroth doppelt vergnügt in Wien. „Die hiesigen Kunst-
0017schätze,“ schreibt er im Mai 1871 an Professor His, „sind
0018unerschöpflich, und wer Freude an Musik hat, kann hier
0019schwelgen. Hier singen und musiciren wir und gehen ins
0020Theater und zu Strauß und stecken mit ihm den Kopf
0021in den Sand unserer Gemüthlichkeit. Es ist eine rechte
0022Stadt für Kunst, zumal für Musik. Wissenschaft verlangt
0023weniger fetten und warmen, als festen und trockenen
0024Boden; damit geht es nur mäßig vorwärts, es ist mühsam,
0025solchen Boden zu bearbeiten.“ Der immer steigende Ruhm
0026Billroth’s führt ihm Berufungen an verschiedene auswärtige
0027Universitäten zu; er lehnt jedesmal ab. Auch die Ein-
0028ladung nach Straßburg, welcher er aus Begeisterung
0029für das neugegründete deutsche Reich nicht ungern ge-
0030folgt wäre. „Ich war begeistert für Straßburg,“ schreibt
0031er im October 1872. „Wäre ich Junggeselle gewesen,
0032ich hätte auf meine alten Tage noch den Kampf aufgenom-
0033men; doch so ging es doch nicht. Ich habe nun einmal
0034meine Familie hier in einen gewissen Comfort ohne Ver-
0035schwendung gewöhnt. Und das kann ich doch nur durch die
0036Praxis; keine Regierung kann das ersetzen. So bin ich mit
0037goldenen Ketten gefesselt. Das Leben in einer großen Stadt
0038und mitten im Trubel socialen Daseins consumirt stark,
0039doch so lange man gesund und mitteljung ist oder sich
0040wenigstens so fühlt, so bietet es auch vielerlei für den, der
0041zu genießen versteht und sich die richtige Eintheilung zwischen
0042Arbeit und Genuß zu machen versteht.“ Aber aus dieser
0043Zeit seiner blühendsten Kraft und größten Erfolge finden
0044wir in Billroth’s Briefen schon Zweifel an seiner Kunst
0045und Wissenschaft; Momente des Unbefriedigtseins, wie sie
0046gerade die Unbestechlichsten und Größten heimsuchen. „Daß
0047mich die praktische Verwendung meiner Kunst glücklich
0048mache,“ äußert er gelegentlich der Straßburger Berufung,
0049„kann ich nicht sagen. Ich bin nicht von den bescheidenen
0050Naturen; doch daß mich die besten Erfolge meiner Kunst
0051befriedigen, kann ich nicht sagen. Was ich nicht kann, was
0052mir mißglückt, das quält und wurmt mich, und nicht selten
0053verwünsche ich die ganze Chirurgie. Aber kann man sich der
0054reinen Wissenschaft noch hingeben, wenn man die Praxis
0055kennen gelernt hat? Ich bezweifle es fast.“ Und noch er-
0056greifender klingt sein Bekenntniß an den alten Professor Baum 
0057(1872): „Mir schwankt der chirurgische Boden unter den Füßen,
0058wohin ich tiefer vordringe, finde ich, daß hergebrachte An-
0059sichten zu zerstören sind. Ich bin oft in der Klinik innerlich
0060in Verzweiflung, wenn ich etwas Positives über Therapie
0061sagen soll; ich höre immer Jemand hinter mir, der mir
0062ins Ohr ruft: Das ist ja auch nicht richtig!“ Und dreizehn
0063Jahre später: „Ihr glücklichen Naturforscher! Ihr habt
0064gar keine Ahnung von dem furchtbaren Jammer, der die
0065ganze kranke Menschheit durchzieht, und von dem Katzen-
0066jammer, den man empfindet, wenn man oft täglich mehrere
0067Stunden aus Mitleid und Menschlichkeit immer lügen soll
0068und oft eine Comödie spielen muß, die auf anderem Ge-
0069biete geradezu verächtlich wäre. Wol magst du es Uebermuth
0070nennen, wenn man der glücklich Geheilten kaum noch achtet
0071und sie bald vergißt! Auch haben viele von meinen Col-
0072legen ein glücklicheres Temperament; ich sehe immer nur 
0073die Grenzen meines Könnens und sehe verzweiflungsvoll
0074darüber hinaus. Beim Forschen gibt es ja auch Grenzen;
0075doch wenn sie endlich nicht zu überschreiten sind, so gibt
0076man es ärgerlich auf. Bei uns steht aber hinter jeder
0077Grenze das höhnisch grinsende Gesicht von Freund Hein!
0078Nimmt man trotzdem den Kampf mit ihm auf und ringt
0079ihm ein armseliges Menschenleben ab — wie bald und wie
0080grausam rächt er sich dafür in anderen Fällen!“


0081Mitten in anstrengendster Berufsarbeit, in regstem An-
0082theil am musikalischen, theatralischen und geselligen Leben
0083Wiens schreibt Billroth (1875) sein berühmtes Buch „Ueber
0084das Lehren und Lernen der medicinischen
0085Wissenschaften
“. Er kann nicht ruhen, der alte Wahlspruch:
0086„Rast’ ich, so rost’ ich“ paßte für ihn. Er nennt es einen
0087seiner Hauptfehler, viel zu viel zu wollen. „Die rechte Resigna-
0088tion fehlt mir immer noch; ich meine immer noch, nun
0089müsse doch bald etwas aus mir werden, Kaiser oder Papst! ...
0090Da wundern sich die Leute, daß ich so viel arbeite; es ist
0091doch nur ein Vorwand, allein mit meiner Phantasie sein
0092zu dürfen. Entweder muß ich toll arbeiten, oder mich toll
0093im Menschenstrudel herumdrehen. Mir ist jede innere Ruhe
0094abhanden gekommen. Wenn ich den Leuten noch so ruhig,
0095gemessen und wohlwollend vorkomme, kocht in mir oft Alles
0096von Leidenschaft, und ein psychisches Feuer durchschauert mich.“
0097Alles, was er leistet, dünkt ihm noch zu wenig! Im Herbst 1878 
0098stürzt er sich in eine neue Phase seiner Thätigkeit: die Be-
0099gründung des Rudolphiner Krankenhauses zur
0100Ausbildung von Pflegerinnen aus besseren Ständen. „Meine
0101Klinik und Privatpraxis,“ schreibt er darüber an Professor
0102Czerny, „füllen doch nur wenig Zeit aus, lassen zumal
0103meinen Geist frei; da muß ich etwas Neues haben!“


0104Es konnte nicht ausbleiben, daß nach Perioden solch
0105fieberhafter Thätigkeit Momente der Abspannung, des Ruhe-
0106bedürfnisses eintraten, welche Billroth, dessen Stimmungen
0107immer häufiger vom Himmelhoch jauchzend bis Zum Tode
0108betrübt umschlugen, pessimistisch als Eintritt des Alters und
0109der Schwäche empfand. Ende der Siebziger-Jahre begegnen
0110wir in den Briefen schon solchen Meditationen. „Lebe ich [2]
0111noch ein paar Jahre,“ schreibt er an Lübke, „so bringe ich
0112auch noch das Wenige fertig, was ich mir vorgenommen
0113habe. Dann werde ich noch einmal die Arie aus dem
0114Elias“ singen: „Es ist genug.“ Das klingt melancholisch und
0115ist es doch keineswegs; es ist ein still sich vorbereitender
0116Sonnenuntergang, wenn man einen kleinen, teleskopisch nur
0117sichtbaren Planeten mit der Sonne vergleichen darf.“ In einem
0118merkwürdigen Briefe an Brahms (Juni 1880) bestellt sich Bill-
0119roth sogar eine Begräbnißmusik. „Ich war neulich,“ schreibt er,
0120„bei einem protestantischen Begräbnisse eines einfachen, aber
0121vortrefflichen, tüchtigen Menschen und war wieder entsetzt
0122über die entsetzliche Leichenrede des Pfarrers. Da habe ich
0123mir vorgenommen, mir so etwas nicht anthun zu lassen
0124und allerlei Bestimmungen darüber aufzuschreiben. Ich wollte
0125dir einen Text suchen für einen kurzen, nicht zu schweren
0126Männerchor, beim Einbuddeln auf dem Kirchhof zu singen.
0127Doch ich finde keinen Text. Ich werde mich, um keine Ver-
0128kehrsstörung in der lebhaften Alservorstadt zu machen, ganz
0129simpel ohne Musik zum Central-Friedhof herausfahren
0130lassen, ohne geistliches Geleite und ohne geistlichen Empfang.
0131Dort wäre Musik mir lieb, dann einige Worte von einem
0132Freunde oder Studenten, dann wieder ein kurzer Musiksatz.
0133Ließe sich der zweite Chor deines Requiems für Blas-
0134instrumente und Männerchor setzen? Zum Schlusse etwas
0135aus Schumann’sFaust“: „Dir, der Unberührbaren“, für
0136Blasinstrumente allein (ohne Gesang), oder der Schluß-
0137chor aus dem zweiten Theile von „Paradies und Peri“ ohne 
0138Gesang. Es kommt mir freilich etwas prätentiös vor, doch
0139ich weiß nichts Anderes. Ich habe wahrlich nichts gegen
0140Religion, auch nicht gegen Confession, so lange sie im Geiste
0141allein lebendig ist; doch wenn sie in praxi auftritt, kann ich
0142mich immer eines inneren Widerspruchs und eines trivialen
0143Eindrucks nicht erwehren.“ Drei Jahre später klagt er:
0144„Ich bin recht unzufrieden mit mir, daß ich den Verkehr
0145mit den Musen von Jahr zu Jahr weniger pflege. Sie
0146sind eben ewig jung, und ich werde leider älter und älter.
0147Ich setze mich sehr, sehr selten ans Clavier; doch in mir
0148klingt es oft genug. Das Schöne empfinden, ist schon ein
0149höchstes Glück.“ Und wie lebhaft, wie intensiv zugleich und 
0150fein empfand er bis an sein Ende das Schöne in jeder
0151Kunst! Wie entzückt schreibt er über den Schauspieler
0152Rossi, über die Bilder des spanischen Malers Velasquez,
0153über Paul Heyse’s Gedicht „Salamander“, über eine
0154Aufführung von Grillparzer’s „Esther“ mit Sonnen-
0155thal
und der Barsescu! Für alles Schöne und Be-
0156deutende bewahrt Billroth ein offenes Auge, ein lebhaftes
0157Empfinden, ein impulsives Mit- und Nachdenken. Er hat dafür
0158ein treffendes schönes Bild: „Mein Gehirn ist mit so vielerlei
0159Verbindungen nach allen Richtungen hin ausgestattet, daß bei
0160der Berührung eines Punktes gleich eine Menge elektrischer
0161Glocken zu läuten beginnen.“ Mit Humor klagt er über
0162seine rastlose geistige Thätigkeit: „Man kann sich eben das
0163verfluchte Denken und Gestalten nicht abgewöhnen, wenn
0164man es sich einmal angewöhnt hat. Die literarische Thätig-
0165keit ist eine Art von Morphinismus; es wird Einem dabei
0166wol manchmal übel, wie auch bei vielem Cigarrenrauchen;
0167man kann es aber doch nicht lassen. Der Teufel hole die
0168Bildung, sie macht den Menschen ganz dumm.“


0169Im Frühling 1887 sank der kräftige Mann, der so
0170vielen Kranken geholfen, selbst, von schwerer Krankheit ge-
0171troffen, hilflos danieder; nahe, ganz nahe stand der Tod
0172an seinem Bette. In einem ergreifend rührenden Brief
0173an Brahms schildert der kaum Genesene seinen Zustand:
0174„Als wir uns zum letztenmale sahen und uns für den
0175Sommer Adieu sagten, hatte ich die Empfindung, daß ich
0176dich kaum wiedersehen würde, so krank fühlte ich mich schon
0177damals innerlich. Beinahe wäre vor Kurzem meine Ahnung
0178in Erfüllung gegangen. Ich nahm an einem Tage Abschied
0179von den Meinen, von meinen nächsten Schülern und den
0180Freunden, die mich umgaben; ich sendete durch Seegen 
0181letzten Gruß an Hanslick und durch ihn an dich, da kein
0182directer Vermittler zwischen uns Beiden um mich war. ...
0183Ich lag längere Zeit in einem nicht unangenehmen Halb-
0184schlummer, manchmal wol dabei ärztlich mich beobachtend,
0185wie die Athemzüge immer rasselnder, immer flacher wurden
0186und mein Geist zu wandern schien. Ich weiß ganz deutlich,
0187wie ich aus einem deiner Lieder sprach: „Mir ist, als ob
0188ich schon gestorben bin etc.“ Und das Alles war 
0189so milde und schön, ich schwebte und sah die
0190Erde und meine Freunde so ruhig und freundlich unter
0191mir! — Mit einemmale rüttelte man mich empor; ich
0192mußte wie ein Soldat auf Commando athmen, allerlei
0193Zeug schlucken. Ich bat: laßt mich! mir ist so gut! Doch
0194umsonst, immer rüttelte man mich auf, und aus vielen
0195Stimmen, dies und das zu thun, hörte ich dann die
0196Stimme meiner Frau: „So thu’s doch um der Kinder
0197willen!“ So ließ man mich über eine Woche lang nie zum
0198festen Schlaf kommen — mein Schlaf hatte wol eine zu
0199große Aehnlichkeit mit seinem Zwillingsbruder. — — Die
0200halb träumerische, durch die Krankheit bedingte Stimmung
0201brachte mich über diese Dinge leichter hinweg, als man
0202meinen sollte. Der Mensch vergißt zum Glück auch das
0203Unangenehme bald. Der Schlaf, der mich in den letzten
0204Jahren schon oft floh, ist mir auch jetzt noch nicht hold;
0205ich muß mich mit drei bis vier Stunden begnügen und
0206habe mich gewöhnt, damit zufrieden zu sein. Das wird
0207hoffentlich Alles besser werden draußen in der freien Natur,
0208in der frischen Bergesluft.“


0209Es ist wirklich besser geworden, zeitweise sogar recht
0210gut, aber völlig erholt hat sich Billroth nicht wieder seit
0211jenem verhängnißvollen Jahre 1887. Tage, ja Wochen hoff-
0212nungsfreudigen Aufleuchtens wechselten mit Momenten
0213trübster Resignation. Letztere gewannen allmälig die Ober-
0214hand. Mit der ihm eigenen Milde und Zartheit verhehlte
0215der unrettbare Kranke es standhaft seiner Umgebung, daß
0216er sich selbst längst aufgegeben. Sollten wir neuerdings den
0217Schleier von dieser letzten Leidenszeit Billroth’s hinweg-
0218ziehen, die in unserer Erinnerung noch schmerzlich wie eine
0219offene Wunde nachblutet? Wir wollen lieber mit den schönen
0220Worten schließen, die Billroth seinem verstorbenen Lehrer
0221Baum nachrief und die so vollständig auf ihn selber passen:
0222„Sein Schatz von Liebe und Wohlwollen war so groß, daß
0223er mit vollen Händen austheilen konnte und immer noch
0224für neue Generationen genug hatte. Seine unendliche geistige
0225Regsamkeit und seine lebhafte innerliche Theilnahme an allem
0226Schönen und Guten war stets ein freilich unerreichbares
0227Beispiel.“

Fußnoten
  • *)Siehe Nr. 11405, 11427 und 11442 der „Neuen Freien
    Presse“.