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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 11653. Wien, Sonntag, den 31. Januar 1897

[1]

Zum Schubert-Jubiläum. II.

(„Der vierjährige Posten“ und „Die Verschworenen“ im Hofoperntheater.)


0003Ed. H. In dem Martyrium von Schubert’s Erden-
0004wallen bilden seine Opern eine eigene Leidensstation. Uner-
0005schöpflich im Produciren, unabgeschreckt von zahllosen Ent-
0006täuschungen sehen wir Schubert unermüdlich im Arbeiten
0007für die Bühne. Nicht weniger als vierzehn Opern und Sing-
0008spiele hat er hinterlassen. Mit Bewunderung und Trauer
0009blicken wir auf die reiche dramatische Thätigkeit Schubert’s.
0010Wenn man dies unerschöpfliche Talent zu benützen gewußt
0011hätte, was konnte Schubert der deutschen Bühne werden!
0012Während sein ungestümer Schaffensdrang sich wahllos an
0013das albernste Textbuch, an die erstbeste Gelegenheitsarbeit
0014für ein Vorstadt-Theater hingab, hätte es von der Einsicht
0015eines Opern-Directors abgehangen, Schubert zu einem
0016Schmucke, zu einem ganzen Schmuckkästchen der deutschen
0017Oper zu machen. Zumal der komischen Oper im weiteren
0018Sinne, welche ja ernste und gefühlvolle Momente nicht aus-
0019schließt. Mit seinem Melodiensegen und seiner Vorliebe für
0020das Lied schien dieser goldhelle, heitere Geist für das musika-
0021lische Lustspiel wie geschaffen. Das beweisen die beiden Singspiele,
0022mit welchen sich das Hofoperntheater heute an der Schubert-
0023Feier betheiligt hat: „Der vierjährige Posten“ und
0024Die Verschworenen“. Zu beiden hat der Zufall ihm
0025die Textbücher in die Hand spielen müssen. In Theodor
0026Körner’s Theaterstücken fand Schubert das einactige
0027Singspiel „Der vierjährige Posten“ — ein bescheidenes
0028kleines Ding, auf das trotzdem ein Halbdutzend Componisten
0029sich gierig gestürzt hat. Darunter außer Schubert Hiero-
0030nymus Truhn in Berlin, Jacob Schmölzer in Graz,
0031Karl Reinecke in Leipzig. Das andere Libretto hieß „Die
0032Verschworenen“; bei diesem Worte zitterte die Censur und
0033verwandelte es in „Häuslicher Krieg“. Castelli hatte es
0034in einem Mode-Almanach veröffentlicht mit der lakonischen 
0035Mahnung an die Componisten: „Ihr klagt immer über
0036den Mangel an heiteren Operntexten; da habt ihr
0037einen!“ Schubert componirte das Libretto und —
0038legte die Partitur zu den übrigen. Herbeck, der
0039glückliche Entdecker, brachte den „Häuslichen Krieg“ im Jahre
00401860 zuerst in Concertform zur Aufführung. In diesem
0041Concert kam ich neben den alten Castelli zu sitzen, der von
0042seiner Ueberraschung sich nicht erholen konnte. Er hatte
0043erst jetzt von dieser Composition seines Operntextes er-
0044fahren — zweiunddreißig Jahre nach Schubert’s Tod!
0045Schubert hatte ihn stillschweigend mit in die Unsterblichkeit
0046eingekauft. Zum Reclamehelden war er jedenfalls verdorben.
0047Ein Jahr später, am 19. October 1861, folgte unter
0048Dessoff’s Leitung die erste scenische Aufführung der „Ver-
0049schworenen“ im Kärntnerthor-Theater. Eine genügende, doch
0050keineswegs glänzende Vorstellung. Den Hauptrollen Lud-
0051milla, Helena, Astolf fehlten reizvolle, frische Stim-
0052men; Jugend und Talent vereinigten sich damals in
0053Walter (Udolin), Mayerhofer (Graf Herbert)
0054und Friederike Fischer (Isella). Die Oper er-
0055hielt sich ziemlich lang auf dem Repertoire und in der
0056Zuneigung des Publicums. Da fiel es in den Siebziger-
0057Jahren einem späteren Director ein, sie in einem neuen
0058Gewand vorzuführen. Schubert’s „Verschworene“, waren
00591868 unter dem Titel „La croisade des dames“ in Paris 
0060in dem kleinen Theater „des Fantaisies Parisiennes“ mit
0061französischem Text von V. Wilder erschienen. Eine willkür-
0062liche und geschmacklose Verarbeitung, welche für Wien über-
0063setzt und vom Hofoperntheater adoptirt wurde. Während
0064man gewöhnlich den allzu redseligen Dialog in älteren Opern
0065kürzt, zum Vortheil der deutschen Sänger und des Werkes
0066selbst, geschah hier plötzlich das Gegentheil: ein lästiger
0067Haufen gesprochener Prosa ward hineingeschoben. Ueberdies
0068hatte der französische Bearbeiter eine auf unsinnigen Vor-
0069aussetzungen basirte höchst unverständliche Intrigue
0070hinzugedichtet. Für unsere Leser, von denen die
0071wenigsten sich jener Bearbeitung erinnern dürften,
0072möchte ich ein einziges kleines Beispiel citiren.
0073In Schubert’s Oper kommen zwei Tenorpartien vor: der
0074vom Kreuzzug heimkehrende Ritter Astolf und sein Knappe
0075Udolin. Ersterer repräsentirt die ideale und sentimentale 
0076Seite, Letzterer sorgt für den Spaß und hat natürlich eine
0077Liebschaft mit dem Kammermädchen. Um nun mit Einem
0078Tenoristen auszulangen, verschmolz der französische Bearbeiter
0079die beiden Rollen Astolf’s und Udolin’s und ließ diesen auch
0080die Partie des Ersteren singen. Während also bei Schubert 
0081Ritter Astolf mit seiner langvermißten jungen Frau Helene 
0082ein jubelndes Liebesduett anstimmt, singt in der Pariser Be-
0083arbeitung Helene dieses Liebesduett statt mit dem Gatten 
0084mit — seinem Reitknecht! Eine Barbarei, auch in Paris;
0085in Wien, der Vaterstadt Schubert’s, ein ästhetisches Ver-
0086brechen. Den Ideen des französischen Arrangeurs zu folgen,
0087statt denen Schubert’s, hieß in der That, wie Helene, den
0088Bedienten für den Herrn nehmen. Der Director einer tenor-
0089armen Provinzbühne soll nach diesem Muster überlegt haben,
0090ob sich das große Duett in „Fidelio“ nicht so arrangiren
0091ließe, daß Leonore es statt mit Florestan mit Jacquino singt,
0092der ihr eiligst die Freudenbotschaft überbringt, ihr Gatte sei
0093amnestirt.


0094Die Pariser Verunstaltung erhielt sich in Wien einige
0095Jahre, bis man ihr endlich den verdienten Abschied gab und
0096reuig zu dem Original zurückkehrte. Seither hat der „Häus-
0097liche Krieg“ wieder volle sechzehn Jahre geruht. Die Wogen
0098des Schubert-Jubiläums treiben jetzt das versunkene Kleinod
0099wieder an die Oberfläche. Selbstverständlich in seiner ur-
0100sprünglichen echten Fassung. Nur den Knappen Udolin sehen
0101wir zum erstenmale einer Sängerin zugetheilt, ob mit Recht
0102oder Unrecht, bleibt insoferne streitig, als Schubert in dem Ein-
0103gangsduett mit Isella den Udolin (ganz sach- und stimmgemäß)
0104dem Tenor zugetheilt hat, im späteren Verlaufe hingegen
0105einer Sopranstimme. Ueber die Oper selbst haben wir nichts
0106Neues zu sagen; wer kennt und liebt sie nicht? Sie gleicht
0107einem Garten voll Blumenduft und Sonnenschein. Ritter-
0108licher Muth, zärtliche Hingebung, verliebte Neckerei, schalk-
0109hafter Humor — das Alles lebt und sprudelt in dieser
0110Musik, die in ihrer naiven Genialität und Herzlichkeit stärker
0111und nachhaltiger wirkt, als manches Musikdrama jüngster
0112Zeit. Dieser bescheidene Einakter ist als Kunstwerk reiner
0113und dauerhafter, auf der Bühne effectvoller, als Schubert’s
0114große, heroische Opern, welche trotz köstlicher Einzelheiten
0115uns doch unbefriedigt, ermüdet entlassen und zu erneuerten
0116Aufführungen kaum einladen. „Alfons und Estrella“ sowie [2]
0117Fierrabras“ leiden an der Armseligkeit ihrer Textbücher und
0118ihrem überquellenden Reichthum liedmäßiger Lyrik. Die „Ver-
0119schworenen“ hingegen bleiben uns ein Muster heiteren Opern-
0120styls; geistreich, gemüthvoll, nirgends zur Posse herabsinkend
0121und nirgends hinaufstrebend zu dem Pathos der großen
0122Oper. In der großen Wüste, welche in der Geschichte der
0123deutschen komischen Oper den Zwischenraum zwischen Mozart 
0124und Lortzing bezeichnet, ist Schubert’s „Häuslicher Krieg“
0125so ziemlich die einzige Blume, die heute noch glänzt und
0126duftet.


0127Die Aufführung ging unter Director Fuchs’ sorg-
0128fältiger Leitung vortrefflich von statten und gab insbesondere
0129den Damen Renard, Sedlmair, Forster, den Herren
0130Ritter und Dippel Gelegenheit, sich auszuzeichnen. In
0131der Ausschmückung und Auffrischung der „Verschworenen“
0132hätte man, dem Jubiläum zu Ehren, wol ein Uebriges
0133thun können. Vor Jahren hat schon L. Speidel vorgeschlagen,
0134es möchte die reizende Balletmusik aus Schubert’s „Rosa-
0135munde“, die zum ewigen Stillschweigen in der Partitur
0136verdammt ist, in die „Verschworenen“ hinüber gerettet und
0137zum Ergötzen für Aug’ und Ohr vor den Schlußchor ein-
0138gelegt werden. Aber die vis inertiae der Operndirectoren ist
0139jederzeit stärker als alle Stimmen der Kritik.


0140Das einactige Singspiel „Der vierjährige
0141Posten
“, ein Jugendwerk des 18jährigen Schubert, zählt
0142jetzt 82 Jahre. In diesem hochrespectablen Alter hat das
0143Werk heute seine allererste Aufführung erlebt. Dem Text-
0144buch von Theodor Körner liegt eine hübsche Idee zu Grunde.
0145In einem Moment kriegerischen Gedränges hat man einen
0146Posten abzulösen vergessen. Duval, so heißt der junge
0147Soldat, vermag nach dem eiligen Abmarsch seines Regiments
0148dasselbe nicht mehr einzuholen; er bleibt in dem Dorfe,
0149heiratet die Tochter des Schulzen und wird Landmann.
0150Nach vier Jahren kommt sein Regiment wieder in dasselbe
0151Dorf, der Hauptmann erinnert sich Duval’s und will ihn
0152als Deserteur kriegsrechtlich erschießen lassen. Duval aber
0153marschirt in Uniform, Hahn im Arm, auf seinem alten
0154Posten auf und ab und behauptet, seit vier Jahren da auf
0155seine Ablösung zu warten. Ein gutes Glück führt den
0156General herbei, welcher Duval pardonnirt und ihn seiner
0157Familie zurückgibt. Das Stück, ganz in Versen geschrieben, 
0158sollte nach des Dichters Absicht vollständig durchcomponirt
0159werden, nach Art eines Finales. Damit schien Schubert 
0160nicht einverstanden; er componirte nur fünf Gesangstücke
0161lyrischen Inhalts und ließ die den dramatischen Fort-
0162gang vermittelnden Scenen durchaus sprechen. In dieser
0163Originalgestalt macht Schubert’s Werk doch eine gar zu
0164dürftige Figur. Der bescheidene Umfang des „Vierjähri-
0165gen Postens“, dessen kurze Musikstücke sich überdies be-
0166eilen, gesprochenen Scenen Platz zu machen, mußten einen
0167Erfolg bei unserem heutigen Publicum zweifelhaft erscheinen
0168lassen. Dennoch empfahl sich gerade zur Jubiläumsfeier die
0169Wahl eines noch unbekannten Singspiels, das zwei gefeierte
0170Namen vereinigt: Theodor Körner und Franz Schubert.
0171Ueber die unerläßlichen Mittel zu diesem Zweck durfte man
0172freilich nicht allzu engherzig denken; eine Art Be-
0173arbeitung erschien unvermeidlich. Herr Dr. Hirschfeld 
0174hat sie mit Einsicht und Bescheidenheit ausgeführt.
0175Ohne an Schubert’s Tonsatz oder Instrumentirung zu
0176rühren, gab er dem Ganzen mehr Fülle und Bewegung
0177durch Einschaltung eines Winzerchors aus dem Schubert-
0178schen Singspiel „Die beiden Freunde von Salamanca“
0179und eines scherzhaften Frauenchors aus dem Fragment
0180Die Spiegelritter“. Bedenklicher mochte es auf den ersten
0181Blick erscheinen, daß der Bearbeiter die große Arie
0182Käthchen’s in Es-dur gänzlich cassirt und durch eine Arie
0183der Oliva aus den „Freunden von Salamanca“ ersetzt hat.
0184Wer aber die beiden Gesangstücke unbefangen prüft, wird
0185zugeben, daß Schubert’s Singspiel an der schwierigen und
0186vom Styl des Ganzen etwas abirrenden Original-Arie
0187wenig verloren, hingegen an dem Ersatzstück ansehnlich ge-
0188wonnen hat. In letzterem herrscht ein satteres Colorit
0189und eine romantische Stimmung, die in den chroma-
0190tischen Harmonien der Einleitung schon leise an
0191Spohr anklingt. Eine selbstständige Aufgabe ward
0192dem Bearbeiter durch die Verwandlung des Prosa-
0193dialogs in Recitative, vollends in der langen, dramatisch
0194bewegten Scene vor dem ganz kurzen Schlußchor. Hier fand
0195Dr. Hirschfeld einen äußerst glücklichen Ausweg, indem er
0196einen ganzen wesentlichen Theil der Ouvertüre unverändert
0197als Fundament ins Orchester legte, über welchem sich
0198zwanglos die Verse Körner’s im Recitativ bewegen. Ich 
0199glaube, Schubert selbst dürfte zu diesem Einfall Bravo
0200rufen. Daß er ihn nicht selber ausführte, lag theils im
0201Zeitgeschmack, noch mehr vielleicht an der unglaublichen
0202Schnelligkeit, mit welcher Schubert das ganze Singspiel
0203niederschrieb. Er, der das einactige Singspiel „Fernando“
0204in sechs Tagen fix und fertig componirt hat, wird zu
0205dem „Vierjährigen Posten“ schwerlich mehr als zwölf ge-
0206braucht haben.


0207Schubert’s „Vierjähriger Posten“ hat im Hofopern-
0208theater einen freundlichen Eindruck gemacht. Dem klein-
0209bürgerlichen Stoff und Costüm gemäß ist die Musik
0210durchaus knapp und einfach gehalten; den romantischen
0211Duft, den chevaleresken Glanz, welcher den „Häuslichen
0212Krieg“ so warm vergoldet, darf man hier nicht suchen. „Der
0213vierjährige Posten“, Schubert’s erster Bühnenversuch, ist
0214neun Jahre vor dem „Häuslichen Krieg“ geschrieben, und
0215neun Jahre bedeuten für Schubert einen langen Zeit-
0216raum. In ihrer melodiösen und harmonischen Einfach-
0217heit mahnt diese Musik vielfach an die damals flori-
0218renden Wiener Operncomponisten Weigl und Gyrowetz 
0219und durch diese hindurch auf ihre französischen Vor-
0220bilder in der Opéra Comique: Monsigny, Philidor,
0221Dalayrac. Nur einzelne anmuthige Wendungen und kräftige
0222Modulationen verkünden den späteren reifen Schubert.
0223Was dem kleinen Singspiel an erregender Kraft abgeht,
0224das that die Feststimmung des Publicums hinzu, die starke
0225Strömung, welche jetzt alles Schubert’sche stürmisch in die
0226Höhe hebt. Fräulein Abendroth und Herr Dippel 
0227waren wie in den „Verschworenen“ so auch hier das blonde
0228Liebespaar und widmeten ihren wenig dankbaren Rollen den
0229löblichsten Eifer. Die kleineren Partien des Capitäns und
0230des Schulzen werden von den Herren Schittenhelm 
0231und Hesch gut dargestellt; sogar der gnadenspendende
0232milde General, der aussah wie ein blutdürstiger Tiger, schien
0233die heitere Stimmung des Publicums eher zu verstärken
0234als zu stören. So hat der Erfolg des „Vierjährigen
0235Postens“ sich heute so günstig, als man nur wünschen
0236konnte, gestaltet. Trotzdem glaube ich, daß dieser Schubert’sche
0237Posten viel früher als erst in vier Jahren am Hofopern-
0238theater abgelöst werden wird.