Wörter einzeln suchen

Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 11669. Wien, Dienstag, den 16. Februar 1897

[1]

Concerte.


0002Ed. H. Zu Händel müssen wir immer wieder
0003zurückkehren. Nach allen mehr oder weniger geglückten
0004Novitäten begegnen sich die großen Chorvereine von neuem
0005in der Erkenntniß: Händel bleibt doch der feste Punkt,
0006um den die wechselnden Erscheinungen moderner Oratorien-
0007musik kreisen. Die Armuth der letzteren würde Händel den
0008Vorrang erzwingen, wenn seine eigene Größe es nicht thäte.
0009Aus der langen Periode zwischen Händel und Mendelssohn 
0010haben nur die beiden Oratorien Haydn’s sich lebendig er-
0011halten, und nach diesen in den letzten sechzig Jahren
0012Paulus“ und „Elias“. Fest halten wir an dem Grundsatz,
0013daß die Pietät für das Alte und Classische uns die
0014Kenntniß des Neuen nicht verrammeln darf; aber ebenso fest
0015steht die Thatsache, daß die neuesten Oratorien (Tinel’s
0016Franciscus“, Massenet’s „Eva“ etc.) regelmäßig verschwinden,
0017wenn sie die erste Neugierde befriedigt haben. Unsere „Ge-
0018sellschaft der Musikfreunde“ ist im Gegensatz zu den großen
0019deutschen Chorvereinen auf sechs Concerte beschränkt, also
0020auf eine äußerst bescheidene Pflege des Oratoriums; trotz-
0021dem kommt sie mit dem Wechsel von Schöpfung und
0022Jahreszeiten, Paulus und Elias gar bald in Verlegenheit.
0023Daraus kann nur Händel sie nachhaltig erretten, der im
0024Oratorium nicht nur den stärksten Gehalt, sondern auch die
0025reichste Auswahl bietet. Manche seiner Oratorien sind in
0026Wien noch gar nicht gegeben oder längst vergessen: Deborah,
0027Salomo, Jephta, Judas, Saul, Samson, Theodora! Zwei
0028von Händel’s Oratorien (sie führen nur uneigentlich diesen
0029Namen) können wir jenen großen biblischen nicht gleich-
0030stellen; den „Sieg der Wahrheit“ und „Frohsinn und
0031Schwermuth“. Schon die unserem Geschmack völlig ent-
0032fremdete Dichtung, auch manches veraltete Musik-
0033stück hindert ihre einheitliche, siegreiche Wirkung.
0034Herr Director R. v. Perger scheint die Vorliebe gerade
0035für diese beiden Tonwerke aus Holland mitgebracht zu haben.
0036Aus dem „Sieg der Wahrheit“ brachte er im
0037vorigen Jahre weislich nur zwei Chöre zur Aufführung,
0038zwei Prachtstücke von großer Wirkung, während ein Erfolg
0039des ganzen Werkes nicht zu hoffen war. Da treten als 
0040singende Personen nur allegorische Figuren auf: die Zeit,
0041die Weisheit, die Schönheit, das Vergnügen, der Betrug.
0042Was sie einander sagen, gleicht einem förmlichen Proceß,
0043mit Klage und Einrede, Replik und Duplik. Den Richter
0044macht stets „die Weisheit“. Allegorische Dichtungen von
0045solchem Umfang gehören einer ganz überwundenen Geschmacks-
0046richtung an; sie lassen uns völlig kalt. Nicht ganz so un-
0047ergiebig für die musikalische Phantasie und Empfin-
0048dung, immerhin doch steif und gekünstelt ist die
0049Dichtung zum „Allegro e Pensieroso“, den Herr
0050v. Perger (abgesehen von einigen Kürzungen) vollständig
0051im dritten Gesellschaftsconcerte zur Aufführung brachte. Be-
0052kanntlich führte Milton’s berühmtes, von Händel com-
0053ponirtes Gedicht einen Fröhlichen (l’Allegro) und einen
0054Schwermüthigen (Il Pensieroso) in einer Reihe von con-
0055trastirenden Stimmungsbildern und Betrachtungen vor.
0056Dieses Thema von den Temperamenten war bei den
0057Dichtern und Malern des achtzehnten Jahrhunderts sehr
0058beliebt. Der Fröhliche lobt den erfrischenden Morgen,
0059den Gesang der Lerche; er schildert die Freuden der Jagd,
0060die Lustbarkeit auf einer Kirmeß; er vergnügt sich
0061an dem „Gewühl volkreicher Städte“, wo er auch das
0062Theater besucht und Shakespeare bewundert. Der Schwer-
0063müthige
hingegen lauscht nur dem schmelzenden Gesang
0064der Nachtigall, sucht einsame Spaziergänge und schwelgt
0065Abends bei der Studirlampe in den Poesien der alten
0066Griechen. In dem Gedicht von Milton sind die Freuden
0067des „Allegro“ und des „Pensieroso“ in zwei besonderen
0068Abtheilungen geschildert; eine Anordnung, welcher Händel,
0069um der Gefahr der Monotonie zu entgehen, nicht folgte.
0070Er läßt die beiden Personen oder Personificationen abwechseln
0071und setzt je einem Ausbruch der Lust einen Monolog der
0072Schwermuth entgegen. So wird durch den Reiz der Anti-
0073these die Aufmerksamkeit des Hörers stets rege erhalten. Zu
0074diesen beiden Abtheilungen hat Händel’s Freund, der Guts-
0075besitzer Charles Jennens, einen vermittelnden dritten Theil:
0076„Il Moderato“ (Der Gemäßigte) für Händel hinzugedichtet.
0077Die goldene Mittelstraße zwischen Fröhlichkeit und Melan-
0078cholie als das eigentliche Ziel des Philosophen zu feiern,
0079mag dem Dichter ziemen; beim Musiker muß sie als ge-
0080mächliches Phlegma, als bloße Mäßigung reizlos erscheinen.
0081In Wahrheit hat Händel mit seinem „Moderato“ 
0082weder den Allegro noch den Pensieroso gesteigert, sondern
0083beiden nur kaltes Wasser über den Kopf gegossen. Diese
0084Verklärung der beiden Gegensätze in einem vermeintlich
0085höheren Dritten kann musikalisch nur zur traurigen Negation
0086jeder starken lebendigen Empfindung werden, der schwer-
0087müthigen sowol wie der fröhlichen. An Händel und an
0088Gluck können wir überdies beobachten, wie verschiedene
0089Zeitalter verschieden auf dieselben Reize reagiren. Für
0090unser an viel heftigere Erregungen gewöhntes Gefühl klingen
0091sowol der Frohsinn wie die Schwermuth Händel’s schon an
0092sich so maßvoll, daß es einer herabstimmenden Correctur
0093der beiden durch einen eigens angestellten „Moderato“ gar
0094nicht bedarf. In wie viel stärkere und schärfere Contraste
0095hat sich unsere Musik in den anderthalb Jahrhunderten seit
0096der Composition von „Allegro und Pensieroso“ gespalten!


0097Es charakterisirt den „Allegro“, daß er nicht wie die
0098eigentlichen (biblischen) Oratorien Händel’s als ein ge-
0099schlossenes Ganzes wirkt, sondern in eine Reihe von Einzel-
0100heiten zerfällt, von denen man ohne Gefahr für den Zu-
0101sammenhang nicht wenige überspringen kann. Dazu entschließt
0102man sich auch um so leichter, als hier der Chor keine
0103selbstständige, dramatisch eingreifende Rolle spielt, sondern
0104hinter den Arien so im Hintergrunde steht wie im „Israel“
0105der Einzelgesang hinter den Chören. Die erste Abtheilung
0106(welcher keine Ouvertüre vorangeht) eröffnet der Frohsinnige,
0107indem er „den Trübsinn, den Freudenstörer“ weit weg von
0108sich scheucht. Wer dieses Recitativ hört, ohne die Worte zu
0109verstehen, könnte darauf schwören, daß nicht der Fröhliche,
0110sondern der Melancholiker es singt, der, weit entfernt, den
0111Trübsinn zu verbannen, sich darin überaus wohl fühlt. Eine
0112der berühmtesten Nummern ist die Lach-Arie mit Chor;
0113in ihr steckt der größte, originellste Gesangseffect. Daß
0114dieser Effect — „das Lachen, das vor Wonne stöhnt“ (wie
0115es in Gervinus’ Uebersetzung lautet) — ganz und gar
0116nicht herauskam in unserem Sonntags-Concert, lag an
0117dem Sänger. Die charakteristischen Staccato-Figuren dürfen
0118nicht mit trockenem Ernst, sondern ausgelassen lustig vorge-
0119bracht, sie müssen mit Einem Worte gelacht und nicht ge-
0120sungen werden. Der berühmte Tenorist Michael Kelly,
0121der 1789 für die Ancient concerts in London engagirt war,
0122erzählt in seinen Memoiren sehr hübsch, wie er zum ersten-
0123mal die Lach-Arie öffentlich gesungen. Sein Vorgänger in [2]
0124diesen Concerten, Harrison, war ein vorzüglicher Sänger,
0125in seinem keuschen Vortrag makellos. „Aber in den leb-
0126haften Gesängen Händel’s war er ungenügend. Ich hörte ihn
0127die Lach-Arie singen, ohne einen Muskel zu bewegen, und
0128entschloß mich, obwol dies ein großes Wagniß war,
0129das Stück ganz nach meiner eigenen Weise vorzutragen.
0130Anstatt es mit der ernsten Zahmheit Harrison’s zu geben,
0131lachte ich das Stück hindurch, wie ich glaubte, daß es ge-
0132sungen werden müsse und des Componisten Absicht gewesen
0133sei. Das steckte an: die Majestäten wie die ganze Versamm-
0134lung und das Orchester geriethen in schallendes Gelächter,
0135und aus der königlichen Loge wurde das Zeichen zur Wieder-
0136holung gegeben, und ich sang es abermals mit noch gestei-
0137gerter Wirkung.“ Der Chor unseres trefflichen „Singver-
0138eins“ faßte die Sache schon herzhafter an, obgleich noch
0139immer zu bescheiden und verschämt. Eine bekannte Perle
0140des Werkes ist die Nachtigallen-Arie „Sweet bird“, einst
0141ein glänzendes Concertstück der Jenny Lind. Unwillkürlich
0142denkt man bei diesem sentimental-koketten Wetttrillern und
0143Wettschluchzen zwischen einer Flöte und einer Singstimme
0144an die geputzten und gestelzten Rococo-Schäferinnen des
0145achtzehnten Jahrhunderts. Chrysander preist diese Arie
0146als die „Krone aller Nachtigallenlieder“, als „ein Wunder-
0147bild von Idealität und Naturtreue“ und voll „Ergüssen der
0148Gemüthstiefe“! Für meinen Geschmack muß sie der Nachtigallen-
0149Arie in Haydn’s „Schöpfung“ weichen, wie überhaupt die
0150zahlreichen Tonmalereien im „Allegro“ unbedingt jenen
0151in der Schöpfung und den Jahreszeiten. Man kennt die
0152maßlose, einseitige Verherrlichung jeder Händel’schen Arie
0153bei Chrysander und bei Gervinus, und die Neigung dieser
0154beiden Gelehrten, neben Händel jeden späteren Tondichter
0155gering zu achten. Sie haben mit diesen herausfordernden
0156Uebertreibungen ihrem Abgott mehr Kritiker und Skeptiker
0157als Anhänger zugeführt. Ein Seitenstück zu dem Nachti-
0158gallengesang ist die mit halsbrecherischen Coloraturen noch
0159schwerer überladene E-dur-Arie „von Orpheus Sang, der
0160Laute wirbelnd klang, daß Pluto’s eisern Auge
0161thränt“! Sie blieb bei der Aufführung weg; fehlt es doch
0162heute für dergleichen an virtuosen Sängern wie an dank-
0163baren Zuhörern. Wir hören in der ersten Abtheilung
0164noch ein frisches Jagdlied; dann folgt die lustige Kirmeß
0165mit Gesang und Tanz. Sehr schön wirkt der Schlußchor, wie 
0166der Schlummer sich allmälig auf die Augen der ermüdeten
0167Tänzer senkt. Ich finde ihn eigenartiger und musikalisch be-
0168deutender als das eigentliche Fest selbst. Man kann eben
0169nicht vergessen, welchen ungeheuren Fortschritt Haydn 
017060 Jahre später auf gleichem Felde mit seinem „Winzerfest“
0171gethan — und 60 Jahre scheinen dafür eine kurze Zeit.
0172Wie das ländliche Fest in der ersten Abtheilung, so ist in
0173der zweiten die „Stadtscene“ berühmt mit ihrem rührigen
0174Treiben und heiteren Glanz. Ein stattliches kräftiges Musik-
0175stück, dem nur für unsere heutige Empfindung der Puls
0176nicht rasch genug schlägt. Besonders der langsame D-moll-Satz
0177von den „holden kranzspendenden Frauen“ scheint sich aus dem
0178Repertoire des Schwermüthigen in das des Fröhlichen ver-
0179irrt zu haben. Eine Bravour-Arie für Tenor („Deine Hand
0180kann Lust verleih’n“), von einer Trompeten-Fanfare ein-
0181geleitet, erinnert mit ihrem aus den Intervallen des D-dur-
0182Dreiklanges gebildeten stolzen Thema an zahlreiche Seiten-
0183stücke in Händel’s Werken. Mit solchen Stücken geht Händel 
0184immer sicher; diese Wirkung allzeit und überall mit ganz
0185neuen Ideen zu erreichen, lag gar nicht in seiner Absicht.
0186Er hielt sich seinen ganzen großen Reichthum für alle Vor-
0187kommnisse disponibel und konnte auch bei der außerordent-
0188lichen Schnelligkeit seines Arbeitens (der ganze „Allegro“ ist
0189in 17 Tagen componirt!) auf gelegentliche Wiederholungen
0190nicht verzichten.


0191Je mehr wir uns der dritten Abtheilung nähern, desto
0192häufiger und einschneidender sehen wir in der Partitur den
0193Rothstift walten. Wir verklagen ihn nicht, denn er war
0194nicht zu entbehren. Nach dem schönen Schlußchor der zweiten
0195Abtheilung („Melancholie“) brach ein großer Theil des Publi-
0196cums auf. Sehr ökonomisch war es nicht gewesen, drei
0197große Chöre und ein dreisätziges Violinconcert dem Händel’-
0198schen Oratorium vorauszuschicken, das für sich allein ein
0199Mittagsconcert in Anspruch nimmt. Die stärkste Amputa-
0200tion mußte natürlich der dritte Satz „Der Gemäßigte
0201(Il Moderato) sich gefallen lassen; es blieb davon in unserer
0202Aufführung nur die Baßarie und der Schlußchor, Händel 
0203selbst hat in späteren Concerten den ganzen „Moderato“
0204als ein überflüssiges oder vielleicht gar schädliches Anhängsel
0205weggelassen. Man darf wol ohne Gewissensscrupel seinem
0206Beispiele folgen. Rein musikalisch betrachtet, bietet uns der
0207dritte Theil die auffallende Wahrnehmung, daß er, der „die 
0208goldene Mittelstraße“ verherrlicht, noch viel schwermüthiger
0209klingt, als Alles, was zuvor der „Schwermüthige“ gesungen hat.
0210Die Aufführung des Oratoriums unter Herrn Director
0211R. v. Perger verdient, in Anbetracht ihrer großen
0212Schwierigkeiten, ein anerkennendes Lob. Diese Schwierig-
0213keiten zeigten sich schon darin, daß für die beiden Solo-
0214partien Gesangskräfte aus dem Auslande geholt werden
0215mußten. Frau Julie Uzielli aus Frankfurt am Main,
0216eine imposant schöne Erscheinung, sang mit klangvoller,
0217wohlgeschulter Sopranstimme ihre anstrengende Partie und
0218hatte damit einen entschiedenen großen Erfolg. Eine so
0219vollendete, mühelose Technik, wie sie die großen Sängerinnen
0220zu Händel’s Zeit besaßen, darf man freilich heute nicht er-
0221warten. Und selbst Händel wollte ja eine dieser Berühmt-
0222heiten zum Fenster hinauswerfen! Herr Georg Ritter,
0223ein in Deutschland sehr geschätzter Concertsänger, fand sich
0224sehr beifällig mit der schwierigen Tenorpartie ab, in deren
0225Styl er und seine sämmtlichen Collegen sich doch nur mit
0226einiger Anstrengung hineinarbeiten. Die stiefmütterlich be-
0227dachte Baßpartie wurde von Herrn Drapal entsprechend,
0228d. h. stiefväterlich gesungen.


0229Eröffnet wurde das dritte Gesellschaftscon-
0230cert
mit drei großen Chören aus J. Vockner’s noch
0231unveröffentlichtem Oratorium „Das Weltgericht“. Als die
0232gewissenhafte Arbeit eines sehr tüchtigen, gediegenen Musikers
0233von großer Gewandtheit im polyphonen Satz, errangen diese
0234Chöre die Achtung der Kenner. Einen starken Eindruck auf
0235das große Publicum zu machen, dazu sind solche aus ihrem
0236Zusammenhang gerissene Fragmente weniger geeignet. Die
0237Mitte des Programms, zwischen den beiden Chorwerken,
0238hielt Beethoven’s Violinconcert, das uns die erfreuliche
0239Bekanntschaft des badischen Kammer-Virtuosen Herrn Florian
0240Zajic verschaffte. Herr Zajic ist in Böhmen geboren, ein
0241Landsmann und College der vortrefflichen Geiger Bona-
0242witz
, Hrimaly, Halir und Ondriček. Sein Spiel
0243wirkte durch breiten klangvollen Ton, eminente Technik und
0244edle Empfindung. In der etwas ausführlichen ersten Cadenz
0245erwies sich Herr Zajic als Meister im mehrstimmigen Spiel.
0246Sein maßvoller, echt musikalischer Vortrag machte den besten
0247Eindruck, einen mehr beruhigenden als hinreißenden. Herr
0248Zajic wurde auf das wärmste ausgezeichnet und wiederholt
0249gerufen.