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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 11681. Wien, Sonntag, den 28. Februar 1897

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Concerte.


0002Ed. H. Wer dürfte behaupten, daß der Enthusiasmus
0003für Virtuosen völlig erloschen sei? So abenteuerlich die
0004Concertlegenden aus den Dreißiger- und Vierziger-Jahren
0005uns auch klingen, schwören möchte ich nicht darauf, daß
0006Aehnliches sich nimmer wiederholen könne. Wenn nach einem
0007Liszt-Concert die elegantesten Damen um den Rest Zucker-
0008wasser kämpften, welchen der Göttliche in seinem Glase stehen
0009gelassen, oder wenn sie seinen liegengebliebenen Handschuh in
0010Fetzen unter sich vertheilten, so können wir uns heute
0011ähnlicher Leistungen freilich nur äußerst selten berühmen.
0012Voran stehen noch immer die „kalten“ Engländer, welche,
0013musikalisch gereizt, die südlichsten Hitzköpfe übertreffen. Was
0014geschah kürzlich in einem Londoner Concert von Pade-
0015rewski? Nachdem der rothblonde Apollo auf lärmen-
0016des Begehren des Publicums unzähligemal vorgetreten,
0017sich verbeugt und halbtodt gespielt hatte, schritt eine Lady er-
0018hobenen Hauptes auf ihn zu und fiel, vor ihm niederkniend,
0019buchstäblich auf das Antlitz. Ein vernünftiger englischer
0020Kritiker nannte es den „Gipfel der Absurdität, welchen diese
0021jetzt wieder aufkommenden alten Albernheiten erreichten“.
0022Ganz so hoch verstiegen oder so tief gelagert haben sich
0023unsere Wiener Enthusiasten noch nicht; aber was sie jüngst
0024als Nachspiel zu Sauer’s Concert aufführten, verdient
0025immerhin Anerkennung. Die Schlußnummer war zu Ende,
0026die unvermeidlichen „Zugaben“ auch; da blokirten einige
0027junge Damen das Podium und griffen verzückt nach den
0028Händen und Frackschößen des haarumflatterten Emil. In
0029peinlicher Verlegenheit suchte er die Huldigungen abzu-
0030wehren, trotzdem gelang es wirklich einer der Amazonen,
0031Sauer’s Hand — ich weiß nicht, ob die octavengewaltige
0032Linke oder die süßtrillernde Rechte — zu küssen. Natürlich
0033stoßen diese Parterrejünglinge und Jungfrauen im
0034Hinaufstürmen hart gegen das dem Ausgang zustrebende
0035Publicum. Das gibt dann in dem einzigen engen Mittel-
0036gang des Bösendorfer-Saales heftige contrapunktische Gegen-
0037bewegungen, Stringendos und Staccatos, was immerhin 
0038sehr hübsch anzusehen ist. Auch der Musikvereinssaal erlebte
0039jüngst ein ähnliches musikalisch-militärisches Schauspiel,
0040indem eine geschlossene Colonne jugendlicher Freiwilliger
0041gegen die hinausdrängende reguläre Armee anstürmte, um
0042auf dem Podium irgend ein goldenes Kalb zu umtanzen.


0043In solchem Virtuosencultus wird die Blüthe des Con-
0044servatoriums nur übertroffen von den Eltern eines Wunder-
0045kindes. Ihr Enthusiasmus ist gewiß begreiflicher — aber
0046meistens noch nachtheiliger für den wunderthätigen und ange-
0047wunderten Sprößling. Der junge Pianist Raoul Koczalski 
0048ist kein Kind mehr, sondern ein draller, kräftiger Junge.
0049Seine kurzen Höschen sind bereits verdrängt von ernsthaften
0050schwarzen Pantalons, über denen ein sinniger Smoking-
0051coat den Uebergang von der Jacke zum Frack, vom
0052Jüngling zum Manne symbolisch andeutet. Koczalski 
0053hat bereits mehr als tausend Concerte gegeben und
0054befindet sich seit acht Jahren unausgesetzt auf
0055Concertreisen. Es mochte hingehen, daß man seinerzeit durch
0056ein starkes journalistisches Aufgebot die Leistungen des sechs-
0057jährigen Knaben austrommeln ließ, aber sollten nicht mit
0058den kurzen Höschen jetzt auch die langen Reclamen ver-
0059schwinden und den vielgereisten „Hofpianisten“ endlich sich
0060selbst überlassen? Ganz im Gegentheil wird allen Zeitungen
0061und Musikcomptoirs ein eigenes Büchlein über Koczalski 
0062zugeschickt. Ein interessantes Ding, wenn auch nur als
0063Demarcationsstrich der Wasserhöhe, welche das musikalische
0064Reclamenwesen heute erreicht hat. Wenn der Verfasser, Herr
0065Bernhard Vogel, wirklich ein „berühmter Musikkritiker“ ist
0066wie die Annoncen versichern, dann bangt uns für seinen Ruhm.
0067Dieser kann durch so anstrengendes Trompetenblasen leicht zu
0068Schaden kommen. Nach einem einleitenden Akrostichon, in
0069welchem Koczalski als ein „seliges Wunder“ „ohnegleichen in
0070der Zeitgeschichte“ gepriesen wird, „wie in Jahrhunderten kein
0071zweites wiederkehrt“, spricht Herr Vogel von den „rauschenden,
0072unantastbaren Triumphen und beispiellosen Kunstthaten“
0073dieses „Phänomens, dessen Leuchtkraft nicht blos blendet,
0074sondern auch erwärmt!“ Koczalski, über den „ein unermeß-
0075liches Füllhorn herrlichster Gaben ausgegossen sei“, liefere
0076den „Beweis für die Unerschöpflichkeit der Natur in Wunder-
0077gestaltungen“. Noch einige entzückte Aufschreie über Raoul’s
0078„fascinirende Außerordentlichkeit“ und „exceptionelle Talentent-
0079faltung“ und wir gelangen endlich zu dem biographischen Theile
0080der Abhandlung. Der kleine Raoul soll schon als Wickelkind 
0081in der Wiege sehr aufmerksam der Musik gelauscht haben.
0082Gewiß war er der jüngste Opernbesucher, den die Welt ge-
0083sehen, denn schon als zweijähriges Kind hörte er im
0084Theater die Opern „Norma“ und „Faust“! Schon mit
0085sieben Jahren habe er Vieles componirt, aber das Meiste
0086selbst verbrannt; was Herrn Vogel an Goethe erinnert,
0087der ja in Leipzig mit seinen Erstlingspoesien ebenso
0088verfuhr. Ueberspringen wir die weiteren Wundererzählungen
0089sammt den beigedruckten entzückten Recensionen und blättern
0090lieber in den Illustrationen, mit denen das Büchlein reich-
0091licher ausgestattet ist, als irgend eine Biographie unserer
0092größten Männer. Zuerst — man traut kaum seinen Augen
0093— ein Brustbild Raoul’s als sechsmonatliches Kind!
0094Wie der Kleine da ausgesehen und was er da gemacht hat
0095— das interessirt doch wol nur die Mama. Es folgen auf
0096weiteren zehn Blättern: Raoul als vierjähriges Kind, als
0097fünfjähriges (drei Porträts), als sechsjähriges (für
0098Porträts), Raoul mit sieben Jahren (fünf Bilder), mit
00997½ Jahren, achtjährig, nochmals achtjährig, zehnjährig
0100endlich 10½ jährig. Auf den letzten Bildern erscheint er
0101recht komisch über und über mit Medaillen bedeckt; sollte er
0102einem Radfahrer-Club angehören? Die sonst so redselige
0103Biographie schweigt vollständig über Bedeutung und Her-
0104kunft dieser Medaillen. Vorsichtsweise wird zum Schluß
0105als eine „Beleidigung“ proclamirt, ihn „noch vom Stand-
0106punkt der Wunderkindschaft zu betrachten, der nunmehr in
0107Reih’ und Glied getreten mit den vollbürtigen Virtuosen.“


0108Wir flüchten aus der schlechten Luft dieser Kinder-
0109stube in den Bösendorfer-Saal. Koczalski’s Programm
0110enthält ausschließlich Chopin. Einen ganzen langen Abend
0111hindurch nur Chopin zu hören, ist kein ungetrübter Genuß;
0112diese feine, sensitive, stets interessante, oft aber kränkliche
0113und überreizte Musik macht in allzu großen Quantitäten
0114abgespannt und nervös. Karl Tausig war meines Wissens
0115der Erste, der in Berlin ein exclusives Chopin-Concert ge-
0116geben hat. Die Eigenart eines so genialen, geistvollen
0117Künstlers mochte über das Bedenkliche des Programms
0118hinwegtäuschen. Nun wird freilich in unserem oben ver-
0119herrlichten Büchel Koczalski gerade als Chopin-Spieler zuhöchst
0120gestellt; ja der „berühmte Musikkritiker“ scheut nicht vor
0121der Behauptung zurück, Koczalski nehme als Chopin-Spieler
0122„unbestritten den Platz ein, den Rubinstein leer gelassen“.
0123Warum nicht gar. Zu Rubinstein’s Höhe hat der junge [2]
0124Koczalski noch einen weiten Weg, den er vielleicht in Jahren
0125zurücklegen kann, falls überhaupt seine Entwicklungs-
0126fähigkeit noch groß genug ist. Wer Rubinstein’s Vortrag der
0127Berceuse“ gehört — man vergißt ihn nie — der konnte ja
0128damit Koczalski’s Interpretation vergleichen. Technisch war
0129sie tadellos, ja glänzend; man kann die vielgestaltigen, zier-
0130lichen Passagen nicht gleichmäßiger und glatter hören. Dem
0131ganzen Vortrag fehlte es aber an feinerem Geschmack, noch
0132mehr an Poesie. Nicht eine einzige Note in dem ganzen Stück
0133darf so derb accentuirt werden, wie Koczalski deren recht
0134viele anpackte. Sie schreckten uns auf aus diesem duftigen,
0135wie auf Elfenflügeln hinschwebenden Gesang. In Einer
0136Eigenschaft, leider keiner nachahmenswerthen, erinnert der
0137junge Virtuose wirklich an Rubinstein: im häufigen Ueber-
0138treiben des Zeitmaßes. Das Scherzo der H-moll-Sonate stürzte
0139in so rasendem Tempo vorüber, daß man trotz genauester
0140Kenntniß des Stückes dem Zusammenhang nicht folgen konnte.
0141Im ersten Satz der H-moll-Sonate, desgleichen in der
0142G-moll-Ballade vermißten wir die überschauende Ruhe und
0143Klarheit, welche den Spieler auch im stürmischen Allegro
0144nicht verlassen darf. Koczalski phrasirt zu unruhig, mitunter
0145auch unrichtig. Wie von gewissen Sängern, so kann man
0146von ihm sagen: er versteht nicht zu athmen. Nun wir
0147unserem kritischen Gewissen genug gethan, können wir mit
0148gleicher Aufrichtigkeit den Vorzügen Koczalski’s gerecht wer-
0149den. Sie sind auffallend, ja glänzend. Seine Technik stellt
0150ihn jetzt schon in die Reihe der ersten Virtuosen. Vor
0151Allem welch beneidenswerth schöner, saftiger Anschlag!
0152Welche Virtuosität der linken Hand in der großen C-moll-
0153Etude von Chopin, welch vollendete Scalen- und Triller-
0154technik! Dazu die riesige Ausdauer und das unfehlbare
0155Gedächtniß! Allein inmitten des Staunens und Bewunderns
0156bleiben wir doch im Ganzen unerwärmt, unbezwungen. Wir
0157vermissen den geläuterten Kunstgeschmack, die feinere musi-
0158kalische Empfindung. Hoffentlich werden die Jahre das
0159Fehlende hinzubringen, was in Koczalski’s vorzeitig aufge-
0160blühten großen Talent noch unentwickelt geblieben.


0161Im letzten Philharmonischen Concert gab
0162es nichts Neues; aber das Alte wurde unvergleichlich ge-
0163spielt. Zuerst die schönere und populärere von den beiden
0164D-dur-Suiten Seb. Bach’s. Sie ist vor Allem beliebt durch
0165ihr frommes, seelenvolles „Air“, das von den Geigern un-
0166übertrefflich gesungen wurde. Hierauf spielte der königlich
0167sächsische Concertmeister Henry Petri das D-moll-Concert 
0168Nr. 9 von Spohr. An seiner edlen Cantilene, seiner
0169breiten langathmigen Bogenführung erkennt man den
0170Schüler Joachim’s, unter dessen Schutz Herr Petri auch
0171zuerst im Jahre 1877 in London aufgetreten ist. Im ersten
0172Satz machte sich anfangs leider mancher unreine hohe Ton
0173bemerkbar — sei es in Folge atmosphärischer Einflüsse oder einer
0174Befangenheit des Künstlers. Mit zarter, natürlicher Empfindung
0175spielte Herr Petri das Adagio. Es ist der schönste Satz des
0176D-moll-Concerts, wie dieses das schönste unter den siebzehn
0177Violin-Concerten Spohr’s. „Von Zeit zu Zeit seh’ ich den
0178Alten gern.“ Vor fünfzig Jahren war der Spohr-Cultus
0179in der Oper, im Quartett, in den Orchester- und Vir-
0180tuosen-Concerten fast übereifrig geworden; Prag insbeson-
0181dere schien förmlich verspohrt. Allmälig ermüdete man an
0182seiner monotonen Chromatik und weichen Sentimentalität
0183und überließ ihn mit Unrecht völliger Vergessenheit. Manches
0184schöne Stück könnten unsere Quartettspieler mit Erfolg
0185wieder hervorziehen; Spohr trifft stets mit Sicherheit eine
0186Saite unseres Fühlens, wenn man ihn längere Zeit nicht
0187gehört hat. So erzielte denn auch Herr Petri mit seinem
0188echt künstlerischen Vortrag des Spohr’schen Concerts einen
0189großen Erfolg. Den merkwürdigsten Gegensatz zu dieser
0190Musik bildete die Schlußnummer: Berlioz’Sinfonie
0191fantastique“, die zuletzt vor sechs oder sieben Jahren hier wieder-
0192holt worden ist. Jedesmal (so berichtete ich damals), wenn ich sie
0193nach längerer Zeit wieder höre, fühle ich mich einige Stufen oder
0194Treppenabsätze herabstürzen von meiner einstigen Jugend-
0195schwärmerei. So ist es mir auch am letzten Sonntag ge-
0196gangen, und nicht mir allein. Robert Schumann, dessen be-
0197geisterte Kritik der Sinfonie fantastique seinerzeit die ganze
0198musikalische Jugend revolutionirt hatte, hörte in späteren
0199Jahren selbst nicht gerne davon sprechen. Auch bei der
0200jüngsten vortrefflichen Aufführung unter Hanns Richter 
0201fesselte die Symphonie nur durch Einzelheiten voll leiden-
0202schaftlicher Gluth oder schmerzlicher Versenkung; sie inter-
0203essirte als musikgeschichtlich epochemachende Erscheinung und
0204erobernde Vormacht der modernsten Instrumentirungskunst.
0205Als Ganzes hat sie ziemlich kalt gelassen, was sich durch das
0206Mißverhältniß der dürftigen musikalischen Ideen zu der
0207weitausgedehnten und zerfahrenen Form wol erklärt. Berlioz 
0208pflegte im Gespräche gern zu betonen, er habe das Stück
0209mit seinem Herzblut geschrieben. Ja, Blut ist ein besonderer
0210Saft. Wir wollen damit erwärmt, belebt, aber nicht be-
0211gossen werden.