Wörter einzeln suchen

Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 11799. Wien, Dienstag, den 29. Juni 1897

[1]

Johannes Brahms.

(Erinnerungen und Briefe.) II.


0003Ed. H.*) Brahms, dessen Compositionen zum größten
0005und wol auch schönsten Theil in Oesterreich entstanden, hat
0006sich hier keineswegs auf eigenes musikalisches Schaffen be-
0007schränkt. Er entfaltete daneben eine vielfache praktische
0008Thätigkeit, welche der Kunst in Oesterreich reichlich zu statten
0009kam. Die fast verschwindend kleinste Rolle darin spielt das
0010Unterrichtgeben. Es ist diejenige Thätigkeit, welche, selbst in
0011bescheidenem Maß geübt, dem Tondichter die Kreise des
0012eigenen musikalischen Denkens am empfindlichsten stört, ihm
0013also qualitativ die unwillkommenste erscheint. Meines
0014Wissens ist die als Concertsängerin und Gesangslehrerin
0015rühmlich bekannte Frau Neuda-Bernstein das ein-
0016zige Talent in Wien, das sich rühmen darf, Clavier-Unter-
0017richt von Brahms genossen zu haben. An der Förderung
0018musikalischer Ausbildung im weiteren Umfange hat Brahms 
0019eifrig mitgewirkt als Directionsrath der „Gesellschaft der
0020Musikfreunde“, welcher es zum unschätzbaren Vortheil ge-
0021dieh, eine so große Autorität in ihrer Mitte zu besitzen.
0022Brahms konnte auf die Programme der Gesellschafts-
0023concerte wie auch auf die Ernennung von Professoren am
0024Conservatorium und artistischen Directoren gewichtigen Ein-
0025fluß nehmen. Eine Stellung als Dirigent hat er in Wien 
0026zweimal, wenn auch jedesmal nur für kurze Zeit, bekleidet:
0027an der „Sing-Akademie“ (1863) und den Gesellschafts-
0028concerten (1872 bis 1874).


0029Ein anderes musikalisches Amt, das sich nicht vor dem
0030Publicum, aber im Stillen ernst und einflußreich abspielt,
0031hat Brahms durch mehr als zwanzig Jahre als Mitglied
0032der Commission für Ertheilung von Künstler-Stipendien 
0033bekleidet. Das Unterrichtsministerium hatte im Jahre 1863 
0034diese neue Institution ins Leben gerufen: die Zuerkennung
0035von jährlichen Stipendien an mittellose talentvolle Künstler,
0036welche bereits mit selbstständigen Arbeiten hervorgetreten
0037sind. Durch diese Maßregel war in Oesterreich zum ersten-
0038mal ein eigenes bleibendes Budget gegründet, welches der 
0039Staat zur Ausbildung und Unterstützung einzelner
0040Künstler bestimmt. Für jede der drei Sectionen (Poesie,
0041bildende Kunst, Musik) waren vom Unterrichtsminister drei
0042Commissionsmitglieder ernannt, welche gemeinschaftlich die
0043eingelangten Gesuche und Kunstwerke zu prüfen und zu
0044beurtheilen hatten. Das Referat über die musikalische Ab-
0045theilung wurde mir anvertraut und ruht heute noch, seit
004634 Jahren, in meinen Händen. Zuerst waren Esser und
0047Herbeck meine Collegen; für Esser trat später Brahms,
0048für Herbeck Goldmark ein. Leider kam Goldmark durch
0049seinen meist bis in den Winter verlängerten Aufenthalt in
0050Gmunden nur sehr selten in die Lage, an der Prüfung der
0051eingelangten Compositionen theilzunehmen. So wickelte sich
0052das Geschäft fast immer nur zwischen mir und Brahms ab.
0053Ich prüfte zuerst allein die meist sehr zahlreichen Gesuche
0054und Compositionen, schied aus, was davon statutenwidrig
0055oder zweifellos schlecht war, und berieth mit Brahms über
0056den Rest. Lagen nur wenige zu ernster Prüfung einladende
0057Gesuche vor, so kam Brahms zu mir, machte sich’s mit einer
0058Cigarre auf dem Sofa bequem und las die eingesendeten
0059Musikstücke. Ich hatte da reichlich Gelegenheit, den raschen
0060Ueberblick und die Treffsicherheit seines Urtheils zu bewundern.
0061Bei stärkerem Einlaufe von Compositionen, die genauere
0062Prüfung und ein gegenseitiges Abwägen erforderten, schickte
0063ich dieselben mit meinem Vorschlag zu Brahms, von wo
0064ich den ganzen, oft sehr gewichtigen Pack mit Brahms’
0065schriftlichen Bemerkungen zurückerhielt. Diese waren meistens
0066sehr kurz gefaßt — stimmten doch seine Vorschläge fast immer
0067mit meinen Anträgen überein — dennoch scheint mir eine
0068Auswahl dieser lakonischen Gutachten der Mittheilung werth,
0069theils wegen der darin vorkommenden Künstlernamen, theils
0070wegen der charakteristischen Art, wie Brahms seines Amtes
0071als Beurtheiler waltete. So mögen denn sieben solcher Gut-
0072achten aus der Zeit von 1875 bis 1895 hier Platz finden.


0073„September 1875.
0074Lieber Freund! Gewöhnlich sind Sendungen wie deine
0075letzte derartiges Gestrüpp, daß ein vorläufiger freundlicher
0076Wegweiser wie der deine höchst angenehm und nöthig ist,
0077um nur einigermaßen durchzufinden. Diesmal ist’s nun doch
0078nicht so schlimm und wie mir scheint ziemlich einfach.


0079Dvořak und Reinhold verdienen durch ihre
0080Leistungen durchaus das Zugedachte. Bei Lackner (blind)
0081kommt höchst berechtigte Theilnahme dazu. M—y verdient
0082wol, daß man ihm einstweilen das Stipendium ermöglicht
0083— ich meine, er müßte im nächsten Jahre sich das Geld 
0084noch sicherer holen. Von Uebrigen erscheint mir einzig N. N.
0085des Stipendiums so unwürdig, wie es in dem Fall unnütz
0086ausgegeben sein möchte. Sieh’ doch noch einmal seine kleine
0087und seine große Sünde an. Sie sind das Unmusikalischeste
0088im Paket. Wehe, wenn er noch mehr „fortschreitet“! Jeden-
0089falls mußte er das Geld doch für Unterricht und nicht für
0090ein Libretto wünschen und verwenden!


0091Ich erlaube mir, der Sendung gleich einige Worte bei-
0092zufügen. Ueber zwei junge Leute hoffe ich meine Collegen
0093gleicher Meinung mit mir. Sollten sie wünschen, einen
0094Dritten theilnehmen zu lassen, so bin ich mir nicht klar,
0095wen ich vorschlagen soll, und hoffe auf eine Besprechung.
0096Eine weitere Theilung der geringeren Summe möchte aber
0097nicht zu empfehlen sein. Das Stipendium soll doch
0098einigermaßen auszeichnen und nützen, darf nicht ein
0099Almosen werden. Weitaus am meisten zu loben erachte ich
0100Mandyczewsky, dessen Vorlagen ernstlich erfreulich
0101sind. Sie zeigen nicht nur in Allem, was zu lernen ist,
0102einen bedeutenden, ruhigen und sicheren Fortschritt — der
0103in Anbetracht der bosnischen Unterbrechung umsomehr zu
0104loben ist — sie geben auch Zeugniß von einer Entwicklung
0105seines Talentes, das man immerhin nicht berechtigt war,
0106zu erwarten. Die vorliegenden Sachen gehen so weit über
0107die früheren hinaus, daß es ungemein reizt, alles Einzelne
0108zu loben, das in solchem Falle bedacht und betrachtet wird.
0109Es ist wohl zu bedenken, daß Mandyczewsky auch anderweite
0110Studien fleißig betreibt, und daß sein trefflicher Vater in gleicher
0111schöner und aufopfernder Weise für noch sechs Kinder sorgt.


0112Als Zweiten nenne ich Perger, dessen Quartett 
0113recht sehr zu loben ist und nicht zu vergleichen mit einem
0114früher eingeschickten Streichquartett. Bei diesem ist zu
0115beachten, daß er im vorigen Jahre durch eine Vorlage ent-
0116schiedenes Talent zur Oper zeigte.


0117Schließlich ist noch N. N. der Einzige, gegen dessen
0118Betheilung ich mancherlei Besonderes einzuwenden hätte.
0119Mir sind seine Leistungen so unerfreulich wie seine Art,
0120sie und sich in Scene zu setzen. Seine Fortschritte sind die
0121ganz natürlichen des Menschen, der unverdrossen (oder
0122unverschämt) weiter schreibt, ohne zu wissen, um was es
0123sich handelt. Er charakterisirt sich übrigens selbst am besten,
0124wenn er von seinem „künstl. Ruf“ schreibt, welches Wort in
0125dieser Abkürzung nur künstlich, aber nicht künstlerisch be-
0126deuten kann.“

[2]


0127„Januar 1883.
0128Ich sende dir heute das Paket zu und stimme für R.,
0129W. und Wg. ohne jegliches Vergnügen; ich wünschte, ich
0130könnte widersprechen und andere Namen nennen. R. scheint
0131jeden Versuch aufzugeben, auch nur der kleinste Robert
0132Fuchs werden zu wollen. Bei W. denke ich nur an den
0133Vater Schmiedgeselle und dessen sechs Kinder; er liegt mit
0134seinem bischen Talent ganz auf dem Hintern. Wg. aber
0135mit seiner süßlichen Eitelkeit ist mir ganz unsympathisch.
0136Aber zurücklegen für einen besseren Jahrgang kann man das
0137Geld wol nicht — also heucheln wir Interesse; schließlich
0138können die schlechten Musikanten ganz gute Menschen sein.


0139Die Stipendien-Geschichte ist diesmal einfacher als
0140gewöhnlich und noch unerfreulicher. Die meisten Eingaben
0141enthalten wieder kein deutsches Wort, was ich nicht
0142gehörig finde, wenn man unser deutsches Geld wünscht!“


0143„December 1884.
0144Unser Monte Testaccio enthält ein ganz merkwürdig
0145erfreuliches, hübsches und gutes Quartett von Perger.
0146Ich nahm es gestern Nachmittags und Abends immer von
0147Neuem in die Hand und konnte nicht aufhören, mich über
0148alles Mögliche darin und daran zu erfreuen. Wenn ich nicht
0149abreiste, müßten wir bei Billroth, ganz unter uns, das
0150Stück ernstlich uns vorüben lassen. Dann gönne ich unser
0151Geld natürlich vor Allem dem Wiedener Bezirkscomponisten
0152Z., der uns gestern Abends durch ein neues Quintett be-
0153wies, daß er unerschüttert und ungeschwächt seine schöne
0154reinliche Handschrift weiter übte — wirklich rührend! Aber
0155lasse Perger nicht leer ausgehen! (Er erzählte mir gestern
0156Abends mit strahlendem Gesicht, daß er sich verlobt habe
0157— das muß doch mit dem ganz auffallend hübschen Quar-
0158tett ein wenig zusammenhängen!) — Dann habe ich,
0159wie gewöhnlich, einen tiefgehenden Aerger gehabt über die
0160Sachen, die aus unserem Conservatorium hervorkommen.
0161Es ist doch schändlich und unverantwortlich, daß da alle
0162Jahre die paar talentirten Leute so gründlich und unheil-
0163bar ruinirt werden! August Förster’s Wirksamkeit wie seine
0164Arbeiten sind höchst anerkennenswerth — aber wir müssen
0165wol die Sorge für ihn den Pfaffen überlassen. Vielleicht
0166kannst du veranlassen, daß wir ihn gegen Bruckner und
0167K. ... austauschen?“


0168Lieber Freund! Ich sende hier die Stipendien-Arbeiten
0169zurück. Es wird immer trauriger! Von einer Betheilung
0170kann wol nur bei G. P. und C. M. überhaupt die Rede
0171sein. Lass’ mich aber sogleich schweigen, denn sonst widerrufe
0172ich auch sogleich! Bei dem Einen spricht das Concert, beim
0173Andern das Liederheft von einigem Talent, die folgenden
0174Sachen (Trio und Romanzen) zeigen aber gleich, daß sie
0175mit ihrem Talent rascher fertig werden als mit unserem Geld.


0176Lieber Freund! Erlaube in aller Kürze, daß nach
0177meiner Meinung V. Novak für drei Hefte Clavierstücke 
0178(und ein Concert) und Zemlinsky für eine Ouvertüre 
0179F-dur verdienen, mit dem Stipendium bedacht zu werden.
0180Ich möchte eigentlich nur diese Beiden vorschlagen; wünschest
0181du einen Dritten (mit einem kleineren Betrag vielleicht)
0182dazu, so wäre Sp. zu nennen, von dem jedoch nur ein
0183älteres (nicht übles) Trio vorliegt. Lass’ es aber doch lieber
0184bei jenen Beiden!


0185B. 0, S. 0, L. 00, V. 0000! Letzterer ist übrigens
0186unmündig, also verdiente sein Lehrer die Ohrfeige dafür,
0187uns seine Arbeit vorgelegt zu haben!


0188Wien, 1889.
0189Dr. E. Tjuken gibt höchst erfreuliche Beweise seines
0190Talentes und seines Fleißes. Es wäre sehr schön, wenn
0191ihm durch eine anständige Summe mehr freies Athmen ge-
0192schaffen werden könnte. Als Zweiten möchte ich nur
0193R. v. Perger vorschlagen, dessen neues Quartett ihn ganz
0194hübsch empfiehlt. Die Herren X und Y haben eine auf-
0195fallende Familien-Aehnlichkeit. Sie können Beide nicht auf-
0196hören, Einem das Gehaltloseste, Philiströseste vorzuschwatzen
0197in Trio und Sonate. X ist denn auch in übrigen Sachen
0198den natürlichen Weg in mißverstandene Wagner’sche Duselei
0199gegangen. Lieder und Clavierstücke zeigen seine Schwächen
0200vereint. Bei allem Uebrigen wäre jedes Wort verschwendet.“


0201So hat Brahms von Wien aus nicht blos zahlreiche
0202herrliche Tondichtungen der ganzen Welt geschenkt, er
0203ermüdete auch nicht, speciell seinem Adoptiv-Vaterlande Oester-
0204reich in musikalischen Dingen mit Rath und That zu
0205dienen. Es geschah zu allgemeiner freudiger Genugthuung,
0206daß Brahms, auf Antrag des Unterrichtsministers
0207Dr. v. Gautsch, im Sommer 1889 den Leopolds-Orden 
0208erhielt. Als ich Brahms zu dieser Auszeichnung (allerdings
0209mit etwas geheuchelter Ueberraschung) brieflich gratulirte,
0210erhielt ich von ihm nachstehende Antwort:


0211Ischl, 1889.
0212Lieber Freund! Tausend Dank für deine Nachrichten,
0213nach denen mich schon recht verlangt hatte. Hoffentlich bleibt
0214es bei deinen Plänen, oder werden sie aus Ischl noch
0215günstiger.


0216Ueberrascht und verwundert hat mich — deine Verwun-
0217derung und Ueberraschung meines Ordens wegen und daß
0218man „in hohen Regionen einen so gescheiten Einfall hatte“!
0219Letzteres ist mir nun gar nicht eingefallen, als ich dachte,
0220wem ich den Orden wol eigentlich verdanke. Es sind ja sehr
0221complicirte Maschinen im Staat; diesmal glaubte ich dich
0222vor Allem mitwissend und mitveranlassend. Sonst sehe
0223ich mich vergebens um, wer irgend angeregt und gefördert
0224haben könnte. Für gewöhnlich gehört aber doch mehr
0225dazu und Anderes, als blos künstlerische Leistungen, und
0226an all diesem Anderen, was es für Namen haben mag,
0227habe ich es doch durchaus fehlen lassen.


0228Zum erstenmale war ich diesmal wenigstens hinterher
0229artig, indem ich die vielen Telegramme, Briefe und Karten
0230erwiderte! Ich hatte einen so freundlichen Eindruck, daß
0231die Oesterreicher als solche sich freuten, daß ich noth-
0232wendig artig danken mußte. Recht sehr möchte ich dich
0233bitten, mir zu sagen, wie ich mich jenen „höheren Regionen“
0234gegenüber zu benehmen habe?! Ich darf doch jedenfalls die
0235directe officielle Anzeige abwarten? Habe ich dann an das
0236Unterrichtsministerium oder an Se. Majestät selbst zu
0237schreiben? Oder muß ich um eine Audienz einkommen?


0238Mich findest du hier, bis — ich doch wol zum Musik-
0239feste nach Hamburg muß! Ich muß, denn mein Ehrenbürger-
0240Abenteuer war doch gar zu schön und erfreulich mit Allem,
0241was drum und dran hängt. Ich erschrecke aber, da ich mein
0242Telegramm an den Bürgermeister abgedruckt sehe! Es
0243klingt gar albern, „das Schönste, was nur von Menschen
0244kommen kann“ — als ob ich außerdem etwa an die ewige
0245Seligkeit gedacht hätte! Mir ist aber der liebe Gott gar
0246nicht eingefallen, ich dachte nur beiläufig an die sogenannten
0247Götter, und daß, wenn mir eine hübsche Melodie einfällt,
0248mir das lieber ist, als ein Leopolds-Orden, und wenn sie
0249gar eine Symphonie gelingen ließen, dies mir doch noch lieber
0250ist, als alle Ehrenbürgerrechte. Seid Beide herzlichst ge-
0251grüßt und kommt nur recht bald!“

Fußnoten
  • *)Siehe Nr. 11797 der „Neuen Freien Presse“ vom 27. Juni.