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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 11872. Wien, Freitag, den 10. September 1897

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Zur Donizetti-Feier in Bergamo. II.


0002Ed. H.*) Die Auswahl eines Kleeblattes aus den
000464 Opern Donizetti’s für die Festtage in Bergamo war
0005nicht allzu schwierig; jedenfalls viel leichter, als sie vor
000650 Jahren gewesen wäre. Denn damals lebte oder vege-
0007tirte noch eine Menge Donizetti’scher Opern, welche seither
0008vom Zeitstrom unwiederbringlich weggeschwemmt und heute
0009uns nur dem Namen nach gegenwärtig sind. Ich selbst habe
0010noch den letzten Schimmer der italienischen Opernherrschaft
0011in Wien miterlebt. Das Kärntnerthor-Theater war die letzte
0012deutsche Bühne, welche die Sitte einer dreimonatlichen aus-
0013schließlich italienischen Opernsaison bis zum März 1848 
0014aufrecht erhalten hat. Als Bellini verstummt war und
0015Verdi eben erst flügge geworden, beherrschte Donizetti 
0016den größten Theil des italienischen Repertoires in Wien.
0017Daß man hier neben seinen besten Opern auch manche recht
0018mittelmäßige gab, erklärt sich aus denselben Verhältnissen,
0019welche seine ungeheure Productivität begreiflich machen. Die
0020italienischen Sänger mit ihren bezaubernden Stimmen und
0021ihrer ausgebildeten Gesangskunst waren der stärkste Magnet
0022für das Publicum. Trotzdem wollte dieses die Tadolini 
0023und Medori, den Moriani und Debassini doch nicht immer
0024und immer wieder in denselben drei bis vier Rollen hören;
0025man nahm dann vorlieb mit schwächeren Donizetti-Opern,
0026mochten auch ihre Melodien aus anderen Werken des
0027Meisters schon bekannt und gleichsam nur neu costümirt
0028sein. Nur so war es möglich, daß Opern wie „Roberto
0029Devereux“ und andere noch Mitte der Vierziger-Jahre in
0030Wien erscheinen und gefallen konnten. Auch in Italien ist
0031seit der Vorherrschaft Verdi’s die weitaus größte Zahl der
0032Donizetti-Opern von den Bühnen verschwunden. Als die
0033noch lebenden und lebensfähigen darf man wol nennen:
0034den „Liebestrank“, „Don Pasquale“, „Die Regimentstochter“,
0035Linda“, „Lucia“, „Lucrezia Borgia“, „Die Favoritin“, 
0036Dom Sebastian“, „Belisar“. Es will nicht wenig bedeuten,
0037daß neun Opern von überwiegend melodischem Charakter
0038ein halbes Jahrhundert nach dem Tode ihres Schöpfers
0039noch leben und fortwirken.


0040Aus diesen neun Musen hat das Festcomité die Trias:
0041Liebestrank“, „Lucia“ und „Favoritin“ zur
0042Aufführung in Bergamo bestimmt, eine Wahl, die, von
0043den besten Erwägungen geleitet, allgemeine Zustimmung
0044erfährt.


0045Im Bereiche der Opera buffa konnte die Wahl
0046nur schwanken zwischen dem „Liebestrank“, „Don Pas-
0047quale
“ und der „Regimentstochter“. Für mein
0048Privatvergnügen hätte ich am liebsten sie alle drei gehört;
0049sie gelten mir als das Reizendste und in sich Vollkommenste,
0050was Donizetti geschaffen hat. Seine besseren lyrischen Tra-
0051gödien glänzen jede durch schöne, mitunter bezaubernde
0052Einzelheiten; einheitliche Werke jedoch, in denen das Schwache
0053gegen das Gute verschwindet, sind wol nur die drei komischen
0054Opern. Zweifellos neigte Donizetti’s Temperament und
0055Talent (wie Rossini’s) stärker zum Heiteren, Komischen, als
0056zur Tragik. Wie erklärt sich trotzdem die so überaus geringe
0057Zahl komischer Opern von Donizetti? Zunächst gewiß aus
0058äußeren Umständen. Die Opera buffa nahm in Italien 
0059von jeher den zweiten Rang ein; sie verfügte nicht über
0060die allerersten Gesangskräfte und war schlechter bezahlt, als
0061die ernste Oper. Für den echteren Kunstwerth jener heiteren
0062Werke Donizetti’s spricht auch ihre ungleich stärkere Lebens-
0063dauer; die drei komischen Opern ragen heute noch wie
0064gerettete Inseln aus einem Meere durchgefallener Tragödien
0065Donizetti’s hervor. „L’Elisir d’amore“, zuerst 1832 auf-
0066geführt, ist heute 65 Jahre alt, für eine leichte heitere
0067Oper eine ziemliche Unsterblichkeit. In diesem „Liebestrank“
0068tritt Alles, was an der italienischen Musik eigenthümlich
0069und liebenswerth ist, uns unbeirrt entgegen. Wie süß,
0070gesangvoll und in der Hauptsache auch immer dramatisch
0071sind diese Melodien, diese Scenen! Ein natürliches Eben-
0072maß, wie es nur der italienischen Musik eigen, verbindet
0073sich hier mit reizender Frische und einer fast genial zu
0074nennenden Leichtigkeit. Ungemein hübsch contrastirt das 
0075idyllische Element im „Liebestrank“ mit dem soldatischen,
0076und diese beiden wieder gegen ihre gemeinsame köstliche
0077Folie, den alten Charlatan! Ohne Frage den Höhepunkt
0078von Donizetti’s Schaffen, bezeichnet „L’Elisir“ gemein-
0079schaftlich mit „Don Pasquale“ zugleich den Höhepunkt der
0080Nach-Rossini’schen Opera buffa. Im „Liebestrank“ ist Alles
0081natürlich, genügsam, lebensfroh. Die Lebendigkeit steigert sich
0082nicht selten zum Glänzenden, die Weichheit zur herzlichen
0083Empfindung; selbst das „Gewöhnliche“, so lähmend in
0084heroischen und tragischen Opern, erscheint hier „freundlich“
0085in der milderen Beleuchtung des Alltagslebens. Ein Freund
0086Felix Mendelssohn’s, Chorley, erzählte einmal im Musical
0087World, wie eines Tages in London ein Kreis von „ge-
0088lehrten“ Componisten und Musikkennern den „Liebestrank“
0089in gründlicher Entrüstung verurtheilte, wie Mendelssohn an-
0090fangs stumm und unruhig sich auf seinem Sessel hin und
0091her bewegte und schließlich, um sein Votum gedrängt, aus-
0092rief: „Ich weiß nur, meine gelehrten Herren, daß ich sehr
0093froh wäre, hätte ich den „Liebestrank“ componirt!“
0094Wer gedenkt nicht gerne der Wiener Aufführungen des
0095Liebestrank“, „Don Pasquale“ und der „Regimentstochter“
0096durch das unvergleichliche Gesangsquartett: Desirée Artôt, Cal-
0097zolari, Everardi und Zucchini; dann der Adelina Patti als
0098Norina in „Don Pasquale“! In Wien ist „Don Pasquale“
0099(1843) vom Publicum viel tiefer gestellt worden, als
0100Linda“; in Paris geschah das Gegentheil. Ich glaube, die
0101Pariser hatten Recht. Die Musik zu „Don Pasquale“ ist
0102durchzogen von jenem hellen heitern Strom des Wohllautes,
0103in dem wir das beneidenswertheste Pathengeschenk erkennen,
0104das die Natur den Italienern mitgegeben. Donizetti schlägt
0105hier noch einmal die süßen Töne an, mit welchen sein
0106Liebestrank“ bezaubernd zwei Welten durchzog. Obwol die
0107Italiener durch ihr bewegliches, frisches Temperament zur
0108komischen Oper nachdrücklicher berufen erscheinen, als unsere
0109bedächtigeren Landsleute, so leiden sie an hervorragenden
0110Werken dieser Gattung kaum geringeren Mangel. An rein
0111musikalischem Werth steht „Don Pasquale“ dem „Liebestrank“
0112nicht nach, er theilt mit ihm die Vorzüge melodischen
0113Flusses, maßvollen Ausdrucks, abgerundeter Form, glück[2]-
0114licher Charakteristik. Einzelnes, wie die Tenor-Arie
0115zu Anfang des zweiten Actes und die Serenade im
0116dritten Acte, ist von reizender Schönheit. Nur durch
0117das Libretto, dessen an sich dürftige Handlung sich
0118obendrein im Frack und innerhalb vier Wänden ab-
0119spielt, ist „Don Pasquale“ entschieden im Nachtheil.
0120Die Regimentstochter“ steht, in einiger Ent-
0121fernung zwar, neben den zwei besten Opern Donizetti’s:
0122dem „Liebestrank“ und „Don Pasquale“. Aus ihren
0123Augen leuchtet Frohsinn und Witz; wie lustiger Vogelsang
0124schmettern ihre Melodien, ein wenig keck die Haltung, doch
0125anmuthig. Schade nur, daß Regimentstochter und Um-
0126gebung fast ebensoviel sprechen als singen. In der ganzen
0127Oper zeigt sich nicht nur Donizetti’s eigenstes liebens-
0128würdiges Talent, sondern überdies die merkwürdige Bieg-
0129samkeit und Assimilirungskraft dieses Talents. Der Componist
0130schrieb die „Regimentstochter“ nicht blos für die Bretter,
0131sondern wirklich auch im Geiste der französischen Opéra
0132comique. Die eigenthümliche Breite und Schwere der
0133italienischen Cantilenen ist beinahe abgestreift und weicht
0134der schärferen Rhythmik, der feineren, lebhafteren Declama-
0135tion französischer Musik. In einigen Situationen, welche
0136das schwere Geschütz der italienischen Phraseologie förmlich
0137herausfordern — wie das Terzett im zweiten Act: „Tous
0138les trois réunis“ — weiß sich der Italiener so ganz
0139und gar zu verleugnen, daß er uns mit einer graziösen
0140Plauderei, deren Worte die drei Stimmen sich halb athemlos
0141abfangen, überrascht. An Alltäglichkeit mit etwas trivialem
0142Beischmack fehlt es natürlich auch nicht. Die ganze Tenor-
0143partie ist auffallend dürftig, dafür erfreut Marie fast immer
0144durch ihren ungeschminkten, soldatisch frischen Muth. Das
0145Mädchen hat aber auch Gemüth. Ihre Romanze im ersten
0146Act („So lebet wohl!“), mit dem wie sanftes Tageslicht
0147in die Molltonart einfallenden F-dur und ihrem in zwei
0148feingeschwungenen Bogen sich herabsenkenden Schluß, ist ein
0149Stück nicht blos von echt südlicher Formschönheit, sondern
0150überdies von echter herzlicher Empfindung. Seltsam, daß die
0151Momente des Ernstes und der Wehmut in Donizetti’s 
0152komischen Opern meist einen Ausdruck von Wahrheit,
0153von schlichter Empfindung tragen, wie wir ihn in seinen
0154Tragödien nur selten antreffen. Man denke an die Momente
0155der Sehnsucht oder Zärtlichkeit im „Liebestrank“ und „Don
0156Pasquale“. Das ist das Werk eines wohlthätigen Rück-
0157schlages
: wahr und natürlich im Heiteren, im Komischen,
0158bleibt Donizetti es unwillkürlich auch im Ausdruck ernsterer 
0159Empfindungen, sobald diese gleichsam nur die Staffage einer
0160großen heiteren Landschaft bilden.


0161Ueberblickt man Donizetti’s Gesammtthätigkeit —
0162„l’oeuvre“, wie die Franzosen kurz und bündig sagen — so
0163glaubt man vor einem überschwemmten Gefilde zu stehen, aus
0164welchem nur noch ein halb Dutzend hoher Bäume hervor-
0165ragt. Alles Uebrige hat der unerbittliche Zeitstrom nieder-
0166gelegt und fortgeschwemmt. Dies gilt insbesondere von
0167Donizetti’s tragischen und heroischen Opern, welche den
0168weitaus größten Raum in seiner Thätigkeit einnehmen.
0169Angesichts der Centenarfeier gönnte ich mir das vielleicht
0170etwas pedantische Vergnügen, eine Anzahl von Donizetti’s
0171älteren Opern tragischen Inhalts durchzublättern — Opern,
0172welche sämmtlich mit mehr oder weniger Beifall in Wien 
0173aufgeführt worden sind und uns heute wie tausendjährige
0174Mumien anstarren.


0175Da haben wir zum Beispiel „Roberto Devereux
0176die bekannte Essex-Geschichte, mit Elisabeth und Lady
0177Nottingham als weiblichen Hauptrollen. Wie lustig klingt
0178die A-dur-Arie des Essex, mit der er in den Tod geht,
0179worauf Elisabeth ihre Verzweiflung in einem ähnlichen
0180Feuerwerk äußert. „L’assedio di Calais“ spielt 1347 
0181im englischen Lager; die Rolle König Eduard III. war für
0182Lablache geschrieben und von fürchterlichen Kriegerchören
0183eingerahmt. Die Oper „Fausta“ spielt in Rom zur Kaiser-
0184zeit. Die Titelheldin, zweite Gemalin Konstantin’s des
0185Großen, enthusiasmirte das Publicum mit einer Walzer-
0186Arie in Es-dur „Fuggi!“ und Konstantin der Große
0187rührte es mit sehr unheroischen Klagen über seinen Sohn.
0188Der Wahnsinnige auf der Insel Domingo
0189mit Ronconi in der Hauptrolle des wahnsinnigen Cardenio 
0190steckt wie alle bisher genannten Opern ganz im coloratur-
0191überladenen Rossini-Styl. Größere Verbreitung und Beliebt-
0192heit genossen seinerzeit die Opern „Gemma di Vergy
0193(spielt 1428 unter Karl VII. in Berry und Bergh), dann
0194Ugo, conte di Parigi“ (altfranzösisches Sujet aus
0195dem neunten Jahrhundert), worin die Pasta mit
0196einer hübschen Allegretto-Cavatine „Là, nel natal
0197mio suolo“ für alle sonstige Langweile entschädigte.
0198Parisina“ verdankte ihre vorübergehenden Erfolge der
0199Caroline Ungher in der Titelrolle; das Sujet (nach Lord
0200Byron) spielt in Ferrara im vierzehnten Jahrhundert.
0201Anna Bolena“ war eine der ersten Donizetti-Opern,
0202die auch auf deutschen Bühnen Eingang gefunden. In
0203Poliuto“ und „L’esule di Roma“ griff Doni-
0204zetti wieder nach dem alten Rom zurück. „Der Verwiesene
0205aus Rom“ ist niemand Anderer als der ehemalige Tribun
0206Septimius; als Verbannter hat er einem Löwen den Dorn
0207aus der Tatze gezogen, dafür verschont ihn das dankbare
0208Thier, als es in der Arena gegen Septimius losgelassen
0209wird. Eines gewissen Ansehens erfreute sich die andere
0210römische Oper, „Poliuto“, welche unter dem Titel: „Les
0211Martyrs“ in Paris, als „Römer in Melitone“ auch deutsch 
0212im Kärntnerthor-Theater gegeben ward, ohne starken, nach-
0213haltigen Erfolg in einer dieser drei Gestalten. Eine Art
0214Uebergang von der unverfälscht Rossini’schen Epoche Doni-
0215zetti’s zu seiner von französischen, auch deutschen Elementen
0216berührten letzten Periode bildet seine Oper: „Marino
0217Faliero
“ (Text nach dem Drama von Delavigne), die
0218wir noch in einer der letzten italienischen Stagiones in
0219Wien zu hören bekamen. Es ist schwer, wol auch un-
0220nöthig, diese Opern dem Leser schärfer zu charakterisiren.
0221Wer eine davon kennt, der kennt sie alle. Erscheinen doch
0222alle Personen mit langsamen, breiten Cantilenen, welche
0223von gebrochenen Dreiklängen begleitet sind und sich von
0224der Tonica zur Dominante bewegen. Nachdem dies
0225Andante ruhig bis auf den letzten Tropfen abgeflossen ist,
0226erdröhnen einige Trompeten-Accorde; der Sänger stutzt
0227einen Augenblick überrascht und wirft sich hierauf beherzt [3]
0228in ein lustiges Allegro, dessen jederzeit renommistischer An-
0229strich durch einen wohlbekannten Hackmesser-Rhythmus
0230im Orchester glänzend gehoben wird. In Terzen
0231und Sexten wird geliebt, verachtet, getanzt und ge-
0232storben — Alles ein blaues, laues Meer von Dreiklängen; selig
0233schwimmt der Italiener oben auf; der Deutsche zappelt eine
0234Weile, dann ertrinkt er. Und doch sind diese unsäglich
0235dürftigen, physiognomielosen Arien einst mit Entzücken ge-
0236hört und da capo verlangt worden. Um das heute zu be-
0237greifen, müssen wir uns die hinreißenden italienischen
0238Stimmen und Talente vergegenwärtigen, welche all diese
0239Opern aus der Taufe gehoben haben. In „Marino
0240Faliero“ sangen die Hauptrollen die Grisi (später Caroline
0241Ungher), Rubini, Tamburini und Lablache — solch ein
0242Künstlerverein braucht sich des Erträglichen nur warm an-
0243zunehmen, um es vornehm und liebenswürdig erscheinen
0244zu lassen.


0245Aus der langen Reihe der rein italienischen ernsten
0246Opern Donizetti’s hat das Festcomité, wie vorauszusehen,
0247die „Lucia di Lammermoor“ herausgehoben. Gewiß die cor-
0248recteste Wahl, obwol unsere persönliche Sympathie mehr
0249zu „Lucrezia Borgia“ neigt. Von allen tragischen Opern
0250Donizetti’s hat „Lucia“ in allen Sprachen die größten und
0251anhaltendsten Triumphe gefeiert. In Wien erreichte sie die größte
0252Zahl der Wiederholungen, nämlich gegen 300. Daran reiht
0253sich „Lucrezia“ mit mehr als 200 Aufführungen. Mehr als
0254hundert Vorstellungen erlebten „Linda“, „Belisar“, „Dom
0255Sebastian“, „Der Liebestrank“, „Die Regimentstochter“.
0256Von eminentem Interesse für Wien sind zwei ernste Opern,
0257welche Donizetti als k. k. Kammer-Compositeur für das
0258Kärntnerthor-Theater geschrieben hatte: „Maria di
0259Rohan
“ und „Linda di Chamounix“. Beide ver-
0260rieten Donizetti’s Achtung vor der traditionellen Gediegen-
0261heit deutscher Zuhörer.


0262Sichtlich bestrebte sich der Maëstro, die bequeme
0263Schablonen-Manier etwas zu vertiefen; die üblichsten und
0264monotonsten Begleitungsfiguren sind seltener gebracht oder
0265doch ausgefüllt, die dramatische Schicklichkeit sorgfältiger ge-
0266wahrt, die Instrumentation fleißiger. In „Maria di Rohan“
0267versucht schon die effectvolle Ouvertüre einen höheren Flug;
0268die erste Arie Maria’s und einige Cantilenen Enrico’s
0269bringen glücklich erfundene, dabei charaktervolle Melodien.
0270Allein diese Aufwallungen haben einen sehr kurzen
0271Athem; den schönen Anfängen oder sorgfältigen Einzelheiten
0272folgt alsbald der alte Hackbrettgeist, der ewig lauernde
0273Dämon der Terzen, Sexten und Unisono-Gänge. Musika-
0274lisch ist diese „Maria“ so monoton, daß sie durchaus von
0275ganz ungemeinen Kräften getragen sein muß, um nicht
0276langweilig zu werden. Der an sich sehr dankbare Stoff ist
0277Dumas’ Drama „Un duel sous Richelieu“ entnommen.
0278Aber wie ungeschickt ist hier das effectvolle Material drama-
0279tisirt! Bei aller Dürftigkeit ist die Intrigue dennoch un-
0280klar; der Autor reiht in ermüdender Folge Arie an Arie
0281und läßt uns nach einem Chorsatz schmachten. Im zweiten
0282Acte steigert sich zwar die dramatische Bewegung, allein ihr
0283Culminationspunkt mahnt an die Situation des Schlußduetts
0284im vierten Acte der „Hugenotten“ mit einer Handgreiflichkeit,
0285welche Dichter und Componist um jeden Preis zu vermeiden hatten.
0286Die 1842 zum erstenmale mit Jubel aufgenommene „Linda“
0287erlebte in Wien dreißig Jahre später (1872) noch ein
0288flüchtiges glänzendes Aufflackern durch Adelina Patti in der
0289Titelrolle. Die Oper hat niemals zu unseren Lieblingen
0290gezählt. Der Gedanke, für ein deutsches Publicum zu schreiben,
0291eiferte den Componisten allerdings zu größerer Sorgfalt an;
0292schon die Ouvertüre (wie jene zu „Maria di Rohan“) hebt
0293sich ansehnlich über die italienische Schablone empor. An
0294vielen Stellen dieser Oper ist das Orchester feiner behandelt
0295als gewöhnlich, desgleichen der dramatische Ausdruck, welcher
0296in Einzelnem, z. B. dem Anfang des Duetts zwischen Linda 
0297und ihrem Vater (zweiter Act), eine bemerkenswerthe
0298Prägnanz erreicht. Ueberall hingegen, wo melodiöse In-
0299spiration schöpferisch eintreten soll, namentlich in den Liebes-
0300scenen, wird die Musik platt und geistlos. Es ist nicht Eine
0301Nummer in der „Linda“, welche an das Sextett oder
0302Edgar’s Sterbescene in „Lucia“, an das Terzett oder Schluß-
0303duett im zweiten Acte der „Lucrezia“ hinanreicht. Die größere 
0304Mühe und Sorgfalt entscheidet eben nicht allein. Donizetti’s
0305melodiöse Erfindung war offenbar mit der „Linda“ (1842)
0306schon in das Stadium der Erschöpfung getreten; noch einmal
0307danach folgte ein glänzendes Aufflackern („Don Pasquale“,
03081843), dann erlosch die Flamme.


0309Es war ein naheliegender glücklicher Gedanke, für das
0310Jubiläums-Repertoire auch eine von den auf französischen
0311Text componirten Opern Donizetti’s zu wählen. Man hat
0312den Maëstro ein musikalisches Chamäleon genannt, das
0313wechselnd die Farbe des Landes annimmt, auf dem es sich
0314eben befindet. Von dem starken und günstigen Einfluß fran-
0315zösischen Musikgeistes auf „Don Pasquale“ und die „Re-
0316gimentstochter“ war bereits die Rede. Unter Donizetti’s
0317ernsten Opern französischer Herkunft konnte nur „La
0318Favorite“ und „Dom Sebastian“ in Frage kommen. Man
0319hat sich in Bergamo mit Recht für die „Favorite“ ent-
0320schieden. „Dom Sebastian“, der einzige consequent durch-
0321geführte Versuch Donizetti’s im Styl der französischen
0322Großen Oper, bedarf einer sehr großen Bühne und prunk-
0323vollen Ausstattung zur scenischen Entfaltung des imposanten
0324Leichenzuges. Hat man doch, boshaft genug, den „Dom
0325Sebastian“ eine prachtvolle Begräbnißfeier mit angehängter
0326Oper genannt. So entschied man sich denn mit Recht für „La
0327Favorite“, trotz der Geringfügigkeit mehrerer ihrer Musikstücke.
0328Obwol Donizetti diese Oper weit mehr im französischen als im
0329italienischen Geschmack componirt hatte, so fand sie doch
0330nur eine kühle Aufnahme. Ueberhaupt hat außer „Don
0331Pasquale“, seltsam genug, keine von Donizetti’s für Paris 
0332geschriebenen Opern dort einen entschiedenen und unwider-
0333sprochenen Erfolg errungen. Mit Unrecht erklärte die
0334Pariser Kritik die „Favorite“ für eine der mittelmäßigsten
0335Arbeiten des berühmten Maëstro, der sogar für seine Par-
0336titur nur schwer und unter ungünstigen Bedingungen einen
0337Verleger fand. Diesmal ereignete sich der in der fran-
0338zösischen Theatergeschichte überaus seltene Fall, daß die Pro-
0339vinz das Urtheil der Hauptstadt cassirte. Auf allen Pro-
0340vinzbühnen mit glänzendem Erfolg gegeben, fand „La
0341Favorite“ erst allmälig eine bessere Aufnahme bei der [4]
0342Großen Oper, wo sie noch heute eines der beliebtesten
0343Repertoirestücke bildet. Die beiden ersten Acte enthalten viel
0344Mittelmäßiges und Langweiliges, obgleich auch hier die ein-
0345leitende Scene zwischen Fernando und dem Großcomthur 
0346(dramatisch eine der besten Expositionen, die wir kennen),
0347der Frauenchor und die hübsche Balletmusik günstig hervor-
0348stechen. Der dritte Act hebt sich schon zu bedeutenderer Höhe;
0349die Romanze des Königs, noch mehr die Arie Leonorens
0350(eine der hübschesten von Donizetti) und das sehr effectvolle
0351Finale sind von bester Wirkung.


0352Der vierte Act ist unseres Erachtens geradezu das
0353Beste, was Donizetti je auf dem Gebiet der ernsten Oper
0354geleistet hat. Mit bemerkenswerther Mäßigung, Weichheit
0355und Empfindung schmiegt sich hier die Musik an die er-
0356greifende Situation. Ja ein bei Donizetti nirgends sonst
0357vorfindliches eigenthümliches Helldunkel, eine Ahnung mittel-
0358alteriger Kloster-Romantik schimmert mild und wohlthuend
0359aus diesen Klängen. Seltsamerweise ist dieser vierte Act
0360eine nachträgliche Ergänzung, gleich manchem anderen be-
0361wunderten Musikstück, das man mit innerer Nothwendigkeit
0362aus der Grundidee entsprossen glaubt. Wie Rossini das
0363Schlußgebet des „Moses“ erst für die zweite Vorstellung
0364nachcomponirte, wie Meyerbeer erst während der Proben
0365zu den „Hugenotten“ auf die Idee eines großen Liebes-
0366duetts nach der Waffenweihe verfiel, so hat auch Doni-
0367zetti
diesen vierten Act zu einer dem Renaissance-Theater
0368zugedachten Oper: „L’ange de Nisida“, rasch hinzucom-
0369ponirt, um letztere in passender Umgestaltung für die Pariser
0370Große Oper tauglich zu machen. Den Darstellern der
0371Leonore und des Fernando bietet „Die Favoritin“
0372bedeutende dramatische Aufgaben; ein Grund mehr, weß-
0373halb man diese in Frankreich ununterbrochen gepflegte Oper
0374auch in Deutschland gerne wieder hervorsucht, wenn eine
0375geniale Künstlerin wie Pauline Lucca sich dafür findet.


0376Donizetti’s Persönlichkeit denken wir uns sympathisch
0377und liebenswürdig, überaus heiter und anregend im Verkehr.
0378So wird er uns übereinstimmend von seinen Zeitgenossen
0379geschildert. Voll Ehrfurcht sprach er von den großen Meistern,
0380mit herzlicher Anerkennung von fremden Leistungen, mit 
0381größter Bescheidenheit von seinen eigenen. Einen anziehen-
0382den Beitrag zur Charakteristik des Menschen Donizetti bieten
0383uns mehrere von Herrn v. Eisner zum erstenmal ver-
0384öffentlichte Briefe. Herr Angelo v. Eisner-Eisenhof,
0385in unseren besten musikalischen Kreisen als vortrefflicher
0386Sänger bekannt, hat durch die Veranstaltung der Wiener
0387Donizetti-Ausstellung, durch seine Thätigkeit im Festcomité,
0388endlich durch die Publication der Donizetti-Briefe sich große
0389Verdienste um die Jubiläumsfeier gesammelt. Die Briefe
0390dürften vornehmlich in Wien interessiren, denn sie sind
0391an zwei Wiener Freunde des Componisten gerichtet.
0392Die Mittheilungen an den Ober-Regisseur des Kärntner-
0393thor-Theaters, Leo Herz, beschränken sich auf kurze
0394sachliche Nachrichten und bühnentechnische Bemerkungen,
0395insbesondere für die Aufführungen von „Linda“, „Maria
0396di Rohan“, „Dom Sebastian“. Anziehender, persönlicher sind
0397die Briefe an August Thomas, den Procuraführer des
0398Bankhauses Arnstein & Eskeles, wo Donizetti den größeren
0399Theil seines Vermögens angelegt hatte. Bedeutende Kunst-
0400urtheile möge man da freilich nicht erwarten, auch nicht
0401längere zusammenhängende Erzählungen oder Betrachtungen.
0402Dazu hatte Donizetti niemals Zeit noch Lust. Alles ist in
0403fliegender Hast niedergeschrieben. Doch dringen die Töne
0404herzlicher Freundschaft und naiver, sich an Scherzworten er-
0405lustigender Heiterkeit allerwärts hervor. Häufig schreibt der
0406gutgelaunte Maëstro in gereimten Versen, ohne die fort-
0407laufenden Prosazeilen zu unterbrechen.**) Mitunter purzeln
0412französische und italienische Sätze bunt durcheinander, sogar
0413recht drollig etliche deutsche Worte.


0414Noch eine zweite literarische Spende wird den Gästen
0415in Bergamo geboten: eine mit zahlreichen Abbildungen,
0416Autographen, biographischen Aufsätzen und lyrischen Bei-
0417trägen geschmückte Festschrift, deren Reichhaltigkeit und
0418vornehme typographische Ausstattung allen ähnlichen Veran-
0419staltungen zum Muster dienen darf.

Fußnoten
  • *)Siehe Nr. 11870 der „Neuen Freien Presse“.
  • **)Zum Beispiel: „Dove sei Lindovo mio, ... in qualdido tu re-
    spiri ... per tornar ti tiri e tiri, ma che fotta è questa qua! Non
    capisco perchè mai, non retiri da Mecchetti, sui fiorini Donizetti,
    tutto quel che può servir! Questo è proprio tutto dir.“