Wörter einzeln suchen

Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 11899. Wien, Donnerstag, den 7. October 1897

[1]

Theater an der Wien.

(„Die Bohème.“ Oper (nach H. Murger) von Giacosa und Illica. Deutsch von L. Hartmann. Musik von G. Puccini.)


0003Ed. H. Wir können nicht ohneweiters an dem Titel
0004vorbei. Dieser zum mindesten muß allgemein verständlich
0005sein. Den Pariser Localausdruck La Bohème für eine Classe
0006leichtlebiger, unsteter Künstler und Literaten einfach mit „Die
0007Bohème“ übersetzen, ist mehr bequem als zweckmäßig oder
0008geschmackvoll. Im Verlaufe der ganzen Oper wird das Wort
0009„Bohème“ oder „Bohémien“ nicht ausgesprochen, geschweige
0010denn erklärt. Aus einer weit zurückdatirenden Verwechslung
0011von Zigeunern und Böhmen herstammend, deckt das franzö-
0012sische Wort in seinem heutigen übertragenen Sinn sich mit
0013keinem deutschen. Es muß geschickt umschrieben werden; dazu
0014ist man Uebersetzer. Kein deutscher Bearbeiter ließ sich bei-
0015fallen, Meilhac und Halévy’s Lustspiel „Le réveillon“ (das
0016auch der Strauß’schen „Fledermaus“ zu Grunde liegt) mit
0017„Der Réveillon“ wiederzugeben. Der Titel von Maillard’s
0018beliebter Oper „Les dragons de Villars“ läßt sich wörtlich
0019übersetzen, nicht aber vom deutschen Publicum verlangen,
0020daß es wisse, wer Villars und seine Dragoner gewesen.
0021Man hat darum die Oper weislich in „Das Glöckchen des
0022Eremiten“ umgetauft. Wenn Berliner Kritiker berichten,
0023daß sie vor der Aufführung der Oper von sehr gebildeten
0024Leuten gefragt worden, was eine „Bohème“ sei, so hat in
0025Wien gewiß das Gleiche sich zugetragen.


0026Im Theater an der Wien hatten wir also die „Bohème“.
0027Und zwar die von Puccini, wie wir gleich beisetzen müssen.
0028Denn fast gleichzeitig mit diesem Componisten hat auch
0029Leoncavallo sich auf den alten Roman von Murger 
0030wie auf eine kostbare Beute gestürzt, und die beiden Com-
0031ponisten, hinter ihnen ihre Verleger Sonzogno und Riccordi,
0032kämpfen um den Sieg. Ein halb Jahrhundert ist es her,
0033daß Murger’s „Scènes de la vie de Bohème“ erschienen
0034sind, ein geistreiches, lebendiges Sittenbild aus den niederen
0035Pariser Künstlerkreisen der Dreißiger-Jahre. So lange ist es
0036keinem Tondichter eingefallen, darin einen würdigen Opern-
0037text zu erblicken. Man hatte doch noch etwas idealere Be-
0038griffe von der Oper. Für die Comödie mochten sich diese
0039überwiegend dialogisch geführten „Scenen“ immerhin besser
0040eignen, trotz ihrer sehr dürftigen Handlung. Murger hat
0041auch wirklich mit Theodor Barrière ein Schauspiel daraus
0042gemacht, das im Théâtre des Variétés eine zeitlang gefiel,
0043aber nicht über Paris hinausgekommen ist. Nun
0044ereignete sich etwas überraschend Seltsames. Das Auf-
0045sehen, das die beiden rivalisirenden Opern von Puccini 
0046und Leoncavallo hervorriefen, lenkte die Aufmerksamkeit der
0047Pariser wieder auf jenes halbverschollene Stück; das sonst
0048so wählerische Théâtre Français brachte es im September
0049dieses Jahres zur Aufführung. Es errang einen hübschen
0050Erfolg, den allerdings die Journale mehr der vortrefflichen
0051Darstellung als dem etwas veralteten Drama zuschreiben.


0052Daß jetzt gerade die Componisten sich mit solchem Eifer
0053dieses Stückes bemächtigen, charakterisirt den Zeitgeschmack,
0054welcher auch in der Oper dem Verismo, dem rücksichtslosen
0055Realismus huldigt. Die wenigen älteren Opern, welche
0056Liebeleien zwischen leichtfertigen Courtisanen und schwächlichen
0057Jünglingen ernsthaft behandeln („Traviata“, „Carmen“,
0058zuletzt „Manon“), haben sie wenigstens in malerische natio-
0059nale oder historische Tracht gekleidet, in eine romantische
0060Umgebung versetzt und damit aus den niedrigsten Regionen
0061der Alltagsmisère emporgehoben. Mit der „Bohème“ voll-
0062ziehen unsere Componisten den letzten Schritt zur nackten
0063prosaischen Liederlichkeit unserer Tage; die Helden in groß-
0064carrirten Beinkleidern, schreienden Cravaten und zerknüllten
0065Filzhütten, den Cigarrenstummel im Mund, ihre Gefährtin-
0066nen in Häubchen und ärmlichen Umhängtüchern. Das ist
0067neu im lyrischen Drama, ein sensationeller Bruch mit den
0068letzten romantischen und malerischen Traditionen der Oper.
0069Deßhalb der athemlose Wetteifer zweier bereits namhafter
0070Tondichter nach diesem noch unversuchten pikanten Lock-
0071mittel. Die gleichzeitige Bearbeitung desselben Operntextes
0072ist ein Mißgeschick für den einen oder den andern Com-
0073ponisten. Nur in den ersten Lehr- und Wanderjahren der
0074Oper, da alle Tondichter dasselbe enge Gebiet der classisch
0075heroischen oder mythologischen Stoffe bearbeiteten und es
0076fast so viele Medeen, Iphigenien und Ariadnen gab als
0077Componisten, konnten die verschiedensten Compositionen des 
0078nämlichen Sujets sich auf denselben Bühnen neben ein-
0079ander vertragen und behaupten. Das rein musikalische
0080Interesse an der Oper war eben ein weit überwiegendes,
0081um nicht zu sagen ausschließliches. In dem Maße, als die
0082dramatische Charakteristik in den Vordergrund trat, das
0083Stoffgebiet der Oper sich ungemein erweiterte, die dramatische
0084Musik sich individualisirte, wurden wir gewöhnt, einen
0085bestimmten Operntext mit einer bestimmten Musik zu identi-
0086ficiren, beide als ein untrennbar Zusammengehöriges auf-
0087zufassen. Das ist heute unser Standpunkt und dürfte es
0088vernünftigerweise bleiben. Puccini scheint anderer Ansicht,
0089denn er hat auch „Manon Lescaut“ componirt, trotz der
0090noch unerschütterten Herrschaft von Massenet’s Oper. In
0091Deutschland lehrt die Erfahrung, daß heute zwei Composi-
0092tionen desselben Opernstoffes sich neben einander nicht be-
0093haupten können. Rubinstein’s „Feramors“ wurde — nicht
0094blos von Dingelstedt in Wien — überall zurückgewiesen,
0095wo Félicien David’s „Lalla Rockh“, florirte, ebenso wie
0096Auber’sMaskenball“ allerorten vor Verdi’s gleichnami-
0097ger Oper verschwand. Und zwar ganz von selbst, wie durch
0098eine Naturnothwendigkeit. Die Wichtigkeit, welche man jetzt dem
0099dramatischen Theil der Oper neben oder selbst vor dem
0100rein musikalischen einräumt, erklärt diese Wendung. Für
0101den Kritiker und musikalischen Gourmand wäre es von aus-
0102erlesenem Reiz, beide in ihrem Libretto fast identische Opern
0103von Puccini und Leoncavallo miteinander zu vergleichen: das
0104Publicum dürfte aber kaum nach der zweiten verlangen, so
0105lange ihm die erste gefällt. Bekanntlich soll Leoncavallo’s 
0106Bohème“ im Hofoperntheater bald nachfolgen. Ihr Schicksal
0107wird nicht blos von ihrem eigenen Werth, sondern ebenso
0108sehr von dem Werth und Glück ihrer schnellfüßigen Rivalin,
0109der „Bohème“ Puccini’s, abhängen.


0110Letztere Oper erschien im Theater an der Wien, un-
0111mittelbar nachdem dort die gefeierte Franceschina Prevosti 
0112sechsmal nacheinander die Traviata gesungen. Das Husten
0113der sterbenden Violetta nistete uns noch peinlich im Ohr,
0114als auf derselben Bühne Puccini’s Mimi sich todt zu husten
0115begann. Der erste Act der „Bohème“ beginnt noch leidlich
0116heiter in dem Dachstübchen, das der Maler Marcell mit
0117dem Poeten Rudolph theilt. Es ist Winterszeit, und die [2]
0118beiden Freunde frieren in dem kalten Zimmerchen, welches
0119der Dichter schließlich mit seinem neuesten Trauerspiel heizt.
0120Da bringt der Dritte im Bund der Kunstzigeuner, der
0121Componist Schaunard, einige Fünf-Francsstücke, mit denen
0122sie Alle im Café Momus sich gütlich thun wollen. Vorher
0123werden sie noch von ihrem Hausherrn, Mr. Bernard, aufgehalten;
0124er fordert den rückständigen Miethzins. Die Freunde, zu denen
0125sich noch als Vierter der Philosoph Collin gesellt hat,
0126hänseln Herrn Bernard mit allerhand witzlosen Anzüglich-
0127keiten, machen ihn halb betrunken und schieben ihn endlich
0128zur Thür hinaus. Drei von den Freunden begeben sich nun
0129ins Kaffeehaus, während Rudolph noch einen Journalartikel
0130beenden will. Da klopft es an seiner Thür; die junge
0131hübsche Nachbarin Mimi bittet, ihre vom Zugwind aus-
0132geblasene Kerze bei ihm anzünden zu dürfen. Auch seine
0133Kerze erlischt, und im Dunkel finden sich ihre Hände, ihre
0134Lippen. Nach einer kurzen Liebeserklärung läßt sich Mimi 
0135von Rudolph ins Café Momus führen. Dort treffen sie,
0136zu Anfang des zweiten Actes, die Freunde, umschwirrt von
0137Kaffeehausgästen, Ausrufern und Verkäufern. Die zweite
0138Heldin des Stückes, die schöne eitle Musette, erscheint am
0139Arm eines reichen Gecken. Sie weiß ihn bald listig zu entfernen,
0140um ihrem früheren, zeitweilig immer neu zu Gnaden auf-
0141genommenen Geliebten Marcell um den Hals zu fallen.
0142Unter den grellen Klängen einer vorbeiziehenden Musikbande
0143und dem Gejohle der Straßenjugend fällt der Vorhang.
0144Der dritte Act spielt vor einer ärmlichen Kneipe an der
0145Linie, bei Morgengrauen. Mimi schleicht fröstelnd heran
0146und erlauscht hinter einem Verstecke, wie ihr geliebter Ru-
0147dolph zu Marcell die Absicht äußert, sich von ihr zu trennen,
0148da Mimi, unrettbar lungenkrank, dem Tode verfallen sei.
0149Weinend nimmt sie von Rudolph Abschied, während gleich-
0150zeitig eine heftige Zank- und Entzweiungsscene zwischen
0151Musette und Marcell sich abspielt. Der Vorhang hebt sich
0152zum vierten- und letztenmale über dem bekannten Dach-
0153stübchen, in welchem Marcell vor der Staffelei, Rudolph 
0154am Schreibtische sitzt. Beide sind unfähig, zu arbeiten; ihre
0155Gedanken weilen ferne bei Mimi und Musette, welche in-
0156zwischen reichere Verehrer eingetauscht haben. Collin und
0157Schaunard bringen nun ein höchst frugales Abendmal herbei,
0158das die Freunde mit widerwärtigem Galgenhumor und
0159schließlich mit einer improvisirten tollen Quadrille würzen. 
0160Da stürzt atemlos Musette herein mit der Meldung,
0161Mimi sei todtkrank auf der Treppe hingesunken. Man trägt
0162die Arme herein und legt sie auf das Bett, wo sie, von
0163Rudolph zärtlich Abschied nehmend, verscheidet. Ein langes
0164peinliches Sterben, recht grausam ausgedehnt und ausge-
0165stattet mit allem pathologischen Jammer. Dazu noch die
0166nackte Armuth und Hilflosigkeit dieser das Sterbelager um-
0167stehenden Kunstproletarier. Daß unmittelbar an ihre possen-
0168hafte Quadrille der Todeskampf Mimi’s sich anschließt, ist
0169bezeichnend für das Textbuch, welches hauptsächlich durch
0170enges Aneinanderrücken der grellsten Contraste wirkt. Hat
0171eine Scene mit ihrer brutalen Lustigkeit uns ins Gesicht
0172geschlagen, so bohrt die folgende mit ihren Seelenqualen und
0173Todesschauern sich langsam schmerzhaft in unser Herz.
0174Finden die Zuschauer wirklich Freude und Erhebung in
0175Opern dieses Schlages, um so besser für sie und den Theater-
0176Director. Ich habe dafür nicht die leiseste Regung von
0177Dankbarkeit.


0178Die Musik spielt in dieser Oper eigentlich eine secundäre
0179Rolle, mag sie an einzelnen Stellen auch noch so anspruchsvoll
0180und lärmend vordrängen. Liest man vor der Aufführung
0181die vier bis fünf ersten Seiten des enggedruckten Textbuches,
0182so zweifelt man, ob das wirklich ein Opernlibretto und
0183nicht vielmehr eine Comödie sei. Dieser unersättlich ge-
0184schwätzige Dialog, der sich witzlos, gemüthlos um die aller-
0185gewöhnlichsten Dinge dreht — der soll Musik hervorlocken,
0186soll einen Tondichter begeistern? Unmöglich kann die Musik
0187hier als gleichberechtigte, selbstständig formende Kunst wirken;
0188nur als Untermalung, Grundirung alltäglicher Conver-
0189sation. Also die vorletzte Stufe der im Herabsteigen begrif-
0190fenen Musik; die nächste, letzte ist das unverhüllte
0191Melodram. Eigentlich vernehmen wir schon in der
0192Bohème“ weniger ein Singen als ein Sprechen dieser
0193Personen über charakteristischen Orchesterklängen. Oben-
0194drein bei dem raschen Tempo so enormer Wortmassen
0195ein undeutliches, unverständliches Sprechen. Sehr begreif-
0196lich, daß bei dieser Ueberfluthung mit redseligem Dialog
0197ganze Seiten der Partitur — um ein Wort aus der
0198Akustik zu entlehnen — aus lauter „todten Punkten“ be-
0199stehen müssen und auch wirklich bestehen. Aus diesen todten
0200Punkten befreien sich von Zeit zu Zeit flüchtige melodische
0201Gedanken, es beginnt mitten im Sprechgesang zu klingen 
0202und zu singen — aber wie lange dauert das? Solche
0203Oasen, wo sich die Empfindung concentrirt, die Melodie
0204Gestalt annimmt und sich ausbreitet, finden sich noch am
0205reinsten und häufigsten in der Rolle der Mimi. Im Ganzen
0206ist die melodische Erfindung äußerst gering. Reichlicher in
0207der Partitur verstreut blinkt allerlei feines instrumentales
0208Detail und geistreich anspielender Witz. Diese das
0209musikalische Schaffen und Gestalten beinahe verdrän-
0210genden Reizmittel gehören ja ganz eigentlich unserer
0211neuesten Schule an, sogar der neuesten italienischen.
0212Was Puccini gänzlich fehlt, ist eine Eigenschaft, die uns
0213Murger’s Schilderungen so anziehend macht: der Humor.
0214Die Scenen in Marcell’s Dachstube zu Anfang des ersten
0215wie des vierten Actes sind trocken, gequält und langweilig,
0216trotz oder wegen der großen Anstrengung des Componisten,
0217humoristisch zu sein. Dasselbe gilt vom zweiten Acte, der
0218zur Illustration des fröhlichen Pariser Straßenlebens un-
0219zählige bunte Effecte aneinanderreiht, ohne einen wirklichen
0220Effect zu erreichen. Alles zersplittert sich in kleinste Stücke
0221und Stückchen; die überschauende und zusammenfassende
0222Kraft, ohne welche es in der Musik keine echte Wirkung
0223gibt, fehlt gänzlich. Die Musik vor dem Café Momus ist
0224trotz Militärmusik, Glöckchenspiel, Holz- und Strohharmonika
0225und sonstigen Spectakels nicht heiter und lebensfroh, sondern
0226nur wirr und lärmend. Mit einem Gesangswalzer (selbst
0227mit einem „langsamen“) wie der Musettens in E-dur
0228darf man sich gerade in Wien nicht sehen lassen. War
0229dieser zweite Act trivial und langweilig, so ist
0230der dritte sentimental und langweilig. Die erste
0231Scene (Zollwächter und Marktleute an der Bar-
0232rière) steht nicht im geringsten Zusammenhange
0233mit den folgenden. Unwillkürlich denkt man an die analoge
0234Scene gleichfalls an der Pariser Barrière in Cherubini’s
0235Wasserträger“, welche so spannend die ganze Entwicklung
0236des Dramas vorbereitet. Auf einige zart empfundene, nur
0237durch allzu heftige Aufschreie und derbe Unisonsschlüsse
0238verunzierte Stellen zwischen Mimi und Rudolph folgt nun
0239das Schlußquartett. Es mußte den Componisten reizen,
0240den sentimentalen Abschied Mimi’s mit Rudolph mit dem
0241hitzigen Zankduett zwischen Musette und Marcell zu Einem
0242harmonischen Musikstück zu vereinigen. Will man an einem
0243Gegenstück ermessen, wie wenig Puccini das verstanden hat, [3]
0244so vergleiche man damit das Quartett am Schluß von
0245Rigoletto“. Wie geistreich und ungezwungen stellt hier
0246Verdi die beiden scherzenden Stimmen den schmerzlich
0247klagenden gegenüber; wie formschön und klangvoll vereinigt
0248er sie zu musikalischer Einheit! Bei Puccini sondern sich die
0249beiden Hälften des Quartetts wie Oel vom Wasser; man
0250könnte jede von ihnen streichen, ohne daß die andere wesentlich
0251dadurch verlieren oder gewinnen würde.


0252Wie schnell hat doch der junge Mascagni Schule
0253gemacht! Speciell mit seinen rhythmischen und harmoni-
0254schen Bizzarerien, der melodischen Unnatur und Willkür.
0255Von Mascagni rührt der in „La Bohème“, herrschende
0256fortwährende Tactwechsel, das unvermittelte Moduliren oder,
0257richtiger, Hineinspringen in die entferntesten Tonarten und
0258die fast kindische Ueberfüllung mit Vortragsnuancen.*) Die
0263Grundempfindung des Ganzen, unaufhörlich zerrissen, zer-
0264flattert dergestalt in lauter nervösen Details. Aber kein
0265Componist wird den ihm fehlenden langen Athem durch
0266lauter Stoßseufzer und Schluchzer ersetzen können. Ein neuer
0267Effect Mascagni’s, der offenbar die neidvolle Bewunderung
0268unserer jüngsten Mascagniden erregt hat, findet sich gleich
0269in dem Vorspiele zum „Amico Fritz“, wo bekanntlich ganze
0270Reihen peinlich dissonirender Accorde auf den Hörer los-
0271stechen. Das ist aber nur ein leichter Scherz gegen die har-
0272monischen Scheußlichkeiten bei Puccini. Da erheben sich in
0273den verschiedensten Scenen Colonnen auf- und niedersteigen-
0274der paralleler Quinten von so aufdringlicher Häßlichkeit —
0275am liebsten „marcatissimo“, von Trompeten geblasen! —
0276daß man sich vergebens fragt, was denn der Componist mit
0277diesen ungezogenen Scheusälchen bezwecken mochte? Der
0278Text bietet dafür nicht die entfernteste Motivirung, denn
0279mit diesen gräßlichen Quinten-Spießruthen behandelt Puccini 
0280gleichmäßig die Conversation der Freunde im Atelier, die
0281Volksscene vor dem Kaffeehause, sogar die Manipulation
0282der Zollwächter an der Linie. Für einen „witzigen“ Protest
0283gegen die Harmonielehre unserer großen Meister können
0284wir diese raffinirte Züchtung des Häßlichen doch unmöglich
0285halten; sie ist nichts weiter, als eine rohe musikalische Be-
0286leidigung. Die unmotivirte Anwendung des Häßlichen, blos
0287weil es häßlich ist, sowie die anmaßende Vorherrschaft des
0288banalsten Dialoges sind eine Consequenz des nunmehr auch
0289in die Oper eingedrungenen nackten Realismus. Die
0290Kritik bleibt ohnmächtig gegen solche Strömungen. Sie
0291dürften eine zeitlang fortdauern, wol auch noch anschwellen,
0292und so werden wir nicht sonderlich erstaunen; eines Tages
0293Die Unehrlichen“ von Rovetta, „Die Erziehung zur Ehe“
0294von Hartleben und ähnliche modernste Stücke unverändert
0295unter Musik gesetzt zu sehen. Je prosaischer, je realistischer,
0296je unsauberer, desto besser. Die Musik ist heute auf das
0297Alles bestens eingerichtet.


0298Der Erfolg der neuen Oper war, wie bereits gemeldet,
0299ein glänzender. Mit lautem Applaus, wiederholtem Hervor-
0300ruf und reichen Blumenspenden ehrte das Publicum die
0301Hauptdarsteller und den Componisten Herrn Puccini,
0302der auch durch sein liebenswürdiges und bescheidenes Wesen
0303die Wiener für sich eingenommen hat. Eine überaus an-
0304ziehende Bekanntschaft war uns die Sängerin Madame
0305Francès Saville, welche die Rolle der Mimi mit
0306sympathischer, trefflich geschulter Stimme, inniger Empfin-
0307dung und großem schauspielerischen Talente gab. In
0308Amerika geboren, von unserer berühmten Meisterin Frau
0309Marchesi ausgebildet, hat die anmuthige Künstlerin
0310bereits in Rußland, Belgien und England Triumphe ge-
0311feiert, zuletzt auch an der Opéra Comique in Paris. Ihre
0312Leistung als Mimi ist um so höher anzuschlagen, als
0313Madame Saville hier zum erstenmale in deutscher Sprache
0314gesungen hat. Sie fand einen vortrefflichen Partner in
0315dem Tenoristen Herrn Naval von der Berliner Hofoper.
0316Dieser ausgezeichnete Sänger und Schauspieler ist dem
0317Wiener Publicum kein Fremder mehr; wir haben also blos
0318zu constatiren, daß Rudolph zu seinen besten Rollen gehört.
0319Verdienten Beifall haben Fräulein Frey, die gewandte,
0320graziöse Darstellerin der Musette, und Herr Walter als
0321Maler Marcell gefunden. Kleinere, mehr schauspielerisch
0322als gesanglich wichtige Partien waren in den Händen der
0323Herren Josephi, Alexy, Wallner und Pohl 
0324geborgen. Ein großes Verdienst um die mit großen
0325Schwierigkeiten verbundene scenische und musikalische Ge-
0326staltung dieser Oper haben Frau Director Schönerer 
0327und Herr Capellmeister Adolph Müller.

Fußnoten
  • *)In einer Cantilene der Mimi von nur sechzehn Tacten
    finden wir folgende Anweisungen: Agitando appena, rallentando,
    allargendo, calmo, con molto anima, con grande espansione, con
    expressione intensa etc.