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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 11958. Wien, Dienstag, den 7. December 1897

[1]

Musik.

(Drittes Philharmonisches Concert. Rubinstein’s „Gedankenkorb“.)


0003Ed. H. Das Programm begann mit zwei römischen
0004Stücken, beinahe wie ein Festbeitrag zu Mommsen’s 
0005achtzigstem Geburtstage. „Julius Cäsar“ die erste Concert-
0006nummer, „Julius Cäsar“ die zweite. Zum Anfang die
0007Schumann’sche Ouvertüre, gleich darauf eine Arie aus
0008Händel’s Oper „Giulio Cesare“. Drängte wirklich ein
0009Bedürfnis nach Schumann’s wohlbekannter Cäsar-Ouver-
0010türe? Sie stammt aus den letzten Jahren seiner Thätigkeit
0011in Düsseldorf und trägt alle Merkmale einer bereits er-
0012schöpften Erfindungskraft. Kaum mehr als der eherne
0013Schritt des Hauptthemas und ein leichter kriegerischer
0014Anflug weisen auf die große römische Tragödie hin. Zwar
0015hat ein Ausleger in den 13 scharf synkopirten Schlägen,
0016die am Schluß rasch zu dem breit verhallenden Pauken-
0017wirbel auf C hinabsteigen, die 13 Dolchstiche in Cäsar’s
0018Brust erkennen wollen; die Ouvertüre selbst fordert zu
0019einer scharfsinnigen Deutung nicht heraus. Musikalisch klar
0020und einheitlich, steht sie doch in Bezug auf Reich-
0021tum und Originalität nicht in der ersten, kaum
0022in der zweiten Reihe Schumann’scher Tondichtungen. Die
0023Kraft, mit welcher die Cäsar-Ouvertüre einherschreitet,
0024ist mehr die reflectirte, angestrengte der dramatischen Cha-
0025rakteristik als die ursprüngliche des musikalischen Gedankens.
0026Eigenthümlich weich fließen aus den sanften Nebenmotiven
0027Anklänge aus „Manfred“ und „Genovefa“ herüber. Auf
0028die merkwürdige Schlußwendung und ihr Verhältniß zur
0029Coriolan-Ouvertüre von Beethoven habe ich vor Jahren
0030einmal hingewiesen. Schumann klagt nicht über Cäsar’s
0031Untergang, seine Musik stirbt nicht mit ihrem Helden dahin
0032wie die schmerzlich verathmende Coriolan-Ouvertüre; sie er-
0033hebt sich im Gegentheil aus dem düsteren F-moll in helles
0034F-dur und schließt voll muthiger Siegesfreude. Also ganz
0035eigentlich eine republikanische Ouvertüre, welche den Sturz
0036des gewaltigen Unterdrückers als glücklich errungenen Sieg
0037der Volksfreiheit feiert. Vortrefflich aufgeführt unter Hanns
0038Richter’s Leitung, wurde das Stück mit Interesse und
0039Pietät gehört, ohne einen lebhaften Eindruck zu machen.


0040Die zweite Verherrlichung des römischen Imperators
0041stammt, wie gesagt, aus einer 1724 für London componirten
0042italienischen Oper von Händel, also aus einer Zeit und
0043einer Schule, die alle erdenklichen classischen Helden und
0044Könige auf die Bühne zog, nicht sowol um sie dramatisch
0045zu charakterisiren, als um sie die brillantesten Coloraturen
0046singen zu lassen. Das von Händel componirte Libretto
0047läßt die Politik Cäsar’s beiseite und behandelt um so breiter
0048sein Liebesverhältniß zu Kleopatra. Schmerzliche Klage der
0049verlassenen Königin über den Verlust von Glanz und Größe
0050bildet den Inhalt der von Fräulein Marcella Pregi gesun-
0051genen Arie. Nicht blos in ihrer stereotypen Form,
0052auch in ihrer melodischen und harmonischen Sub-
0053stanz sieht sie anderen Händel’schen Arien zum Ver-
0054wechseln, ähnlich; als besonderer Vorzug eignet ihr
0055nur, daß sie nicht von Coloraturen überfließt. Uns für
0056Händel’sche Opern-Arien zu erwärmen, wird uns von Jahr
0057zu Jahr schwerer; der ihr nachgerühmten außerordentlichen
0058Charakteristik nachzuspüren, haben wir längst aufgegeben.
0059Wenn Gervinus Händel’s Personen den Shakespeare’schen
0060gleichstellt in Bezug auf geniale Individualisirung, so klingt
0061uns das wie eine Majestäts-Beleidigung. Fräulein Pregi hat
0062sich in dem Vortrag dieser Arie als Gesangskünstlerin
0063von musterhafter Technik, großer Intelligenz und feinem
0064Stylgefühl erwiesen. Ihren Erfolg darf sie um so höher
0065anschlagen, als die Stimme, dem ganzen schmächtigen Per-
0066sönchen entsprechend, weder Kraft noch sinnlichen Reiz be-
0067sitzt. Sie erinnert sehr an die geist- und kunstreiche Madame
0068Henschel, deren Organ im großen Musikvereinssaal wol
0069noch schwächer klang. Für die „Garten-Arie“ der Susanne 
0070ist der Zauber einschmeichelnden Wohllautes schwerer
0071entbehrlich, als für Händel’s pathetische Kleopatra;
0072doch siegten auch hier Empfindung und Vortragskunst
0073der Sängerin über das dürftigere Material. Nicht eben
0074glücklich war Fräulein Pregi in der Wahl von drei fran-
0075zösischen Gesangsstücken religiösen Inhalts, die so recht nach
0076der Salonfrömmigkeit des aristokratischen Faubourg Saint-
0077Germain duften. Das erste, von E. Paladilhe, besingt
0078die Auferweckung eines Mädchens durch Jesus, das
0079zweite, von M. Widor, die Heilung des Blinden,
0080das dritte ergeht sich in demüthigem Gebet. Alle drei
0081Stücke, zwischen Gesang und Declamation, zwischen erzäh-
0082lendem und Romanzenton schaukelnd, sind musikalisch unbedeu-
0083tend. Für den Concertsaal passen sie am wenigsten trotz der
0084Orchesterbegleitung, welche wie ein zu weites Kleid um ihre
0085hageren Glieder schlottert. Immerhin boten sie Fräulein
0086Pregi Gelegenheit, durch ihre unvergleichliche Behandlung
0087des Französischen zu glänzen. Fräulein Pregi hat in Paris 
0088zuerst Brahms’sche Lieder mit deutschem Text gesungen.
0089Wir hoffen, sie werde in Wien ein Gleiches thun.


0090Die Reihe der Gesangsstücke unterbrach eine Ouvertüre
0091Des Meeres und der Liebe Wellen“ von Robert Fuchs.
0092Gottlob, eine Novität! Mit etwas trübseliger Resignation
0093hatten wir in dem Gesammtprogramm der Philharmoniker
0094bemerkt, wie heuer die Novitäten gar so dünn gesät er-
0095scheinen. Ist doch unser Philharmonie-Orchester das einzige
0096in Wien, das uns mit neuen Orchesterwerken bekannt machen
0097kann; die „Gesellschaftsconcerte“ haben ihren Schwerpunkt
0098im Chorgesang. Und sollte es schlechterdings an Novitäten
0099mangeln, so empfiehlt sich eine Wiederholung jener hervor-
0100ragendsten Orchesterwerke, welche (wie fast alle Dvořak’schen)
0101eine einzige Aufführung hier erlebt haben und auch diese
0102schon vor recht langer Zeit. Eine zweite Aufführung solcher
0103Compositionen ist oft wichtiger und entscheidender, als die
0104erste; sie gebührt den Hörern wie den Autoren. Nachdem
0105die beiden ersten Philharmonie-Concerte uns nur mit guten
0106alten Bekannten zusammengeführt haben, begrüßten wir doppelt
0107zuvorkommend die vereinigten „Wellen“ von Robert Fuchs.
0108Der Stoff von Grillparzer’s Drama, vielleicht noch mehr
0109dessen Titel, hat gerade für den Musiker etwas Berückendes.
0110Mich hat dieser manierirte Titel von jeher angefröstelt.
0111Den Inhalt einer Liebestragödie durch eine witzige Metapher
0112wie „Des Meeres und der Liebe Wellen“ anzukündigen,
0113stimmt so wenig zu der sonst knappen schlichten Ausdrucks-
0114weise Grillparzer’s. Wie wir aus seinen Tagebüchern
0115wissen, hat er auch ursprünglich die einfachere Benennung
0116Hero und Leander“ gewählt. Für den Tondichter liegt
0117aber gerade in dem jetzigen Titel des Stückes eine Ver-
0118lockung, die beiden „Wellen“, die physische und die seelische,
0119gegen einander und mit einander in Bewegung zu setzen.
0120Von unseren vier Elementen hat allzeit das Wasser sich als
0121das musikalisch dankbarste und umworbenste gezeigt. Ich
0122erinnere mich eines Heftes von Sterndale-Benett,
0123das in drei Clavierstücken drei charakteristische Ge[2]-
0124staltungen des feuchten Elementes abschildert: „Der
0125See“, „Der Bach“ und „Der Springbrunnen“ —
0126letzteres Stück besonders fein und zierlich. Bilder in
0127größerem Format, wie Rubinstein’s „Ocean-Symphonie“,
0128Mendelssohn’s „Melusine“ und „Meeresstille“, Beethoven’s
0129Scene am Bache“ sind allbekannt; der zahllosen schönen
0130Lieder nicht zu gedenken, darin der Gesang wie eine Najade
0131aus den Wellen einer wogenden oder murmelnden Beglei-
0132tung emporsteigt. Die Bewegung, das innerste Lebens-
0133princip der Musik, beseelt gleicherweise das Wasser, vom
0134Donner der Meeresbrandung bis zum geschwätzigen Bäch-
0135lein. Die Phantasie des Tondichters verbindet sie harmonisch
0136mit dem erhabenen oder lieblichen Landschaftsbild und
0137deutet geheimnißvoll die sich darin spiegelnden Menschen-
0138schicksale. Von Robert Fuchs, dessen musikalisches Fein-
0139gefühl uns aus seinen Serenaden, Suiten und Clavier-
0140Compositionen stets sympathisch angesprochen hat, war auch
0141eine poetische Auffassung des griechischen Liebespaares zu
0142gewärtigen. Der Componist, eine sinnige, mehr lyrische als
0143dramatische Natur, folgt in den allgemeinsten Umrissen der
0144Grillparzer’schen Tragödie. Er verschmäht das ausmalende
0145Detail der modernen Programm-Musik, zu deren Verständ-
0146niß man eine eigene Gebrauchsanweisung mit Notenbei-
0147spielen, historischen Notizen und Landkarten benöthigt, und
0148zieht es vor, einheitlich musikalisch zu formen, musikalisch
0149zu wirken. Das hat er denn auch durch seine meisterhaft
0150instrumentirte Ouvertüre erreicht, der wir nur stärker
0151contrastirende Motive und eine wechselvollere Rhythmik zu
0152wünschen hätten. Die Novität wurde lebhaft applaudirt und
0153der Componist wiederholt gerufen.


0154Das Concert schloß mit Beethoven’s B-dur-Sym-
0155phonie. Unter den neun Schwestern ist diese vierte, bei
0156aller entzückenden Schönheit, nicht der ausgesprochene Lieb-
0157ling des Publicums. Rubinstein setzt, indem er
0158Beethoven’s Symphonien nach ihrem künstlerischen Gehalte
0159zu ordnen versucht, die vierte Symphonie auf Nummer 3
0160zurück. Nach seiner Werthschätzung steigen die neun Sym-
0161phonien in folgender Reihe auf: C-dur 1, D-dur 2,
0162B-dur 3, F-dur 4, Pastorale 5, A-dur 6, Eroïca 7,
0163C-moll 8, D-moll 9. Dieses Aperçu, dem gewiß ein
0164richtiges Empfinden zu Grunde liegt, wenn auch „Beweise“
0165weder dafür noch dagegen möglich sind, findet sich in einem
0166soeben erschienenen Büchlein, auf das ich Freunde der 
0167Musik, zumal Verehrer Rubinstein’s, aufmerksam machen
0168möchte. Es heißt „Anton Rubinstein’s Gedanken-
0169korb
“ (Leipzig, 1897, bei Bartholf Senff). Wie wir
0170einem Vorwort von Hermann Wolff entnehmen, hat Rubinstein 
0171nicht ein einziges musikalisches Werk ungedruckt hinterlassen,
0172auch kein Tagebuch, keine Memoiren. Die Sammlung von
0173Beobachtungen, Einfällen und Aphorismen verschiedenster
0174Art, die er in dem „Gedankenkorb“ niederlegte, wie und
0175wann es ihm eben einfiel, ist die einzige geistige
0176Hinterlassenschaft des bis an sein Lebensende ratlos
0177arbeitenden Mannes. Ohne irgend welche Abtheilung in
0178Kategorien wimmeln allerlei Gedanken über Musik, Künstler,
0179Publicum, Religion, Politik und Liebe in diesem „Korb“
0180bunt durcheinander. Es sind Aeußerungen ohne stylistische
0181Schminke, von rücksichtsloser Offenheit, jedoch ohne die
0182geringste polemische Spitze gegen irgend einen musikalischen
0183Zeitgenossen. Obwol Rubinstein dieses Manuscript erst nach
0184seinem Tode veröffentlicht wissen wollte, hält er sich doch
0185strenge in denselben Schranken, die er in seinem Buche:
0186Die Musik und ihre Meister“ sich gezogen. Die einzelnen
0187Früchte in diesem Korbe sind von ungleichem Werth und
0188Geschmack. Neben Aussprüchen, die nicht viel origineller
0189sind, als etwa: „Das Gras ist grün“ oder „Alle Menschen
0190müssen sterben“, stehen sehr viele äußerst treffende und geistreiche.
0191Am meisten interessiren uns die persönlichen Selbstbekennt-
0192nisse, wie folgende: „Den Juden bin ich ein Christ, den
0193Christen ein Jude; den Russen bin ich ein Deutscher,
0194den Deutschen ein Russe; den Classikern bin ich
0195ein Zukünftler, den Zukünftlern ein Retrograde. Schluß-
0196folgerung: Ich bin weder Fisch noch Fleisch, ein
0197jammervolles Individuum.“ Dann noch eingehender:
0198„Ich lebe in stetem Widerspruche mit mir selbst, das heißt
0199ich denke anders, als ich fühle. Ich bin im kirchlich religiösen
0200Sinn ein Atheist, bin aber überzeugt, daß es ein Unglück
0201wäre, wenn die Menschen keine Religion, keinen Gott hätten.
0202Ich bin Republikaner, aber überzeugt, daß die einzig
0203richtige Regierungsform für die Menschen ihrem eigentlichen
0204Wesen nach eine streng monarchische ist. Ich liebe meinen 
0205Nächsten wie mich selbst, bin aber überzeugt, daß die
0206Menschen wenig mehr als Geringschätzung verdienen. Dieses
0207Widersprechende in meinem Wesen verbittert mir das Leben
0208— denn logisch kann doch nur sein, daß der Mensch denke,
0209wie fühlt, und so fühle, wie er denkt. Bin ich denn wirk-
0210lich ein Monstrum?“ „Ich komme mir recht unlogisch vor,“
0211heißt es später noch einmal, „im Leben Republikaner und
0212radical, bin ich in der Kunst conservativ und Despot!“
0213Rubinstein’s entschiedene Freisinnigkeit in religiösen und
0214politischen Dingen spricht auch noch aus zahlreichen anderen
0215Bemerkungen. — Speciell musikalischen Inhalts ist kaum
0216die Hälfte der gesammelten Aphorismen. Zwei hübsche Aus-
0217sprüche über das Clavierspiel lauten: „Die instrumentale
0218Musik ist des Menschen intimster Freund, mehr sogar als
0219Eltern, Geschwister, Freunde, etc. Bei Leid zumal ist diese
0220Eigenschaft erkennbar. Vor allen Instrumenten ist es aber
0221besonders das Clavier, welches diesem am meisten ent-
0222spricht, daher ich den Clavierunterricht als eine Wohlthat für
0223den Menschen betrachte und ihn sogar zwangsmäßig (denn dessen
0224Anfänge sind ganz unerträglicher Natur) in das Erziehungs-
0225programm aufnehmen möchte, das heißt aber natürlich nur
0226im Sinne einer Möglichkeit der Selbstbefriedigung, durchaus
0227nicht um davon für die Gesellschaft Gebrauch zu machen.“ —
0228Rubinstein unterscheidet: „Clavierspiel ist eine Finger-
0229bewegung, Claviervortrag eine Seelenbewegung. Man hört
0230jetzt meistens das Erstere.“ Interessant ist folgendes musik-
0231geschichtliche Aperçu: „Brahms sehe ich als Fortsetzung
0232von Schumann, mich als die von Schubert und Chopin 
0233an, uns Beide als die Thorschließer der dritten Epoche
0234der Tonkunst.“ (Rubinstein sieht in Bach und Händel den
0235Abschluß der ersten mit Palestrina beginnenden Epoche, in
0236Beethoven den Culminationspunkt der zweiten, in
0237Schubert den Anfang der dritten. Die vierte beginnt
0238mit Berlioz, Liszt und Wagner.) Zum Schluß noch aus
0239dem unerschöpflichen „Gedankenkorb“ zwei charakteristische
0240Bekenntnisse Rubinstein’s: „Wenn man mich um meine
0241Meinung fragt, sage ich sie ganz unumwunden heraus, sie
0242mag auch den Betreffenden unangenehm berühren — un-
0243aufgefordert
aber sage ich meine Meinung nicht aus.“
0244Und zuletzt: „Ich bin öffentlich aufgetreten, so lange ich
0245gemerkt habe, daß ich vor dem Publicum besser spiele, als
0246zu Hause für mich allein; ich habe mich von der Oeffent-
0247lichkeit zurückgezogen, seitdem ich gemerkt habe, daß ich zu
0248Hause für mich allein besser spiele, als vor dem Publicum.“
0249Mit diesen wenigen Stichproben begnügen wir uns
0250für heute. Es lohnt sich, in Rubinstein’s „Gedankenkorb“ zu
0251wühlen.