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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 12273. Wien, Sonntag, den 23. October 1898

[1]

Hofoperntheater.

(„Der Freischütz.“)


0003Ed. H. Auf die wiedererweckte „Weiße Frau“ ist rasch
0004ein erneuter „Freischütz“ gefolgt. Nach dem blendenden Er-
0005folge des jüngsten Nibelungen-Cyklus erinnerte sich Director
0006Mahler auch jener zahlreichen und dankbaren Hörer, welche
0007(nach Bülow’s geflügeltem Worte) die „Nibelungensucht“
0008noch nicht oder nicht mehr haben. Kurz vor der französischen
0009Weißen Frau und dem deutschen Freischütz hat Mahler’s
0010persönlichste Sorgfalt auch die italienische Aïda zu neuer
0011Blüthe entfaltet — drei Opern, welche einen Wendepunkt in
0012der Entwicklung ihrer Autoren, ja in der Musikgeschichte der
0013drei Nationen bezeichnen. Sie alle — vornehmlich der Frei-
0014schütz und die Weiße Frau — waren bei uns seit längerer
0015Zeit in eine Art Aschenbrödelthum gerathen; Noth- und
0016Aushilfsvorstellungen, mit denen man nicht viel Umstände
0017machte. Der gestrige überaus erfolgreiche Freischütz-Abend hat
0018im musikalischen wie in dem scenischen und decorativen Theile
0019manches Neue gebracht. Von der früheren bekannten Be-
0020setzung sind nur Frau Forster (Agathe) und Herr
0021Schrödter (Max) im Besitz ihrer Rollen geblieben. Ver-
0022dienten Beifall wie immer erntete Frau Forster’s muster-
0023haft correcte und von edelsten Intentionen getragene Ge-
0024sangsleistung, soweit ihr Organ nicht hinter diesen Inten-
0025tionen zurückblieb. Ungetrübte Freude hatten wir an Herrn
0026Schrödter’s frisch quellender Stimme wie an seiner noch
0027immer wachsenden Kunst des Vortrags und der Darstellung.
0028Den Kaspar sang zum erstenmale Herr Ritter. Er
0029mußte die fremdartige Rolle seinem liebenswürdigen Naturell
0030abzwingen und wurde im Gefühl dieses Zwanges durchwegs
0031zu unruhig und gewaltsam. Im Dialog übertrieb er allzu-
0032sehr die Stimmkraft; dabei schleuderte er Hände und Füße
0033und das gesprochene Wort nach allen Seiten. Bei aller Ver-
0034wilderung soll Kaspar doch die Dressur des ehemaligen
0035Tilly’schen Soldaten erkennen lassen. Einige Mäßigung wird
0036den nächsten Wiederholungen der Rolle sehr zu statten
0037kommen. Auch ein Streiflicht von Humor diesem ewig
0038stirnrunzelnden und augenrollenden Bösewicht Ritter’s.
0039Im Vortheil gegen den früheren Darsteller steht Herr
0040Ritter durch seine Gesangstechnik, welche die rollenden Scalen
0041am Schluß des Trinkliedes und der Arie leichter und reiner
0042bewältigt. Auch die für einen Baß unbequem hohen Töne
0043in beiden Nummern bringt Ritter’s Bariton klangvoll und
0044mühelos hervor, was freilich wieder die so wichtigen tief
0045liegenden Stellen büßen. Der rühmliche Fleiß, den
0046der geschätzte Künstler an diese ihm wenig zusagende Rolle
0047gewendet, fand die lauteste Anerkennung. Neu war auch
0048Fräulein Michalek als Aennchen; ein anmuthiges Bild
0049kindlicher Herzlichkeit und Lebensfreude. Die gar nicht leichte
0050Gesangspartie gelang ihr überraschend gut. Auch Herr Hesch 
0051als Eremit, Herr v. Reichenberg als Kuno, Herr Neidl 
0052als Fürst Ottokar, Herr Spielmann als Kilian, endlich
0053Frau Elizza als Brautjungfer sind neue Erscheinungen,
0054welche dem „Freischütz“ zweifellos zum Vortheil gedeihen.
0055Die Vorstellung, welcher Director Mahler zahlreiche sehr sorg-
0056fältige Proben gewidmet hatte, bot ein vortreffliches Ensemble.
0057Die Ouvertüre wurde stürmisch applaudirt. War die Ein-
0058leitung nicht gar zu langsam genommen? Zum erstenmal
0059nach vielen Jahren wird die Oper jetzt wieder in drei Acten,
0060wie sie geschrieben ist, gegeben. Der zweite Act wird nicht
0061mehr eigenmächtig in zwei selbstständige Aufzüge zerrissen;
0062nur ein Zwischenvorhang trennt auf eine kurze Pause das
0063Abschiedsterzett von der Wolfsschlucht. Vortrefflich wirken
0064die Decorationen und die ganze Scenerie des ersten und
0065des letzten Actes. In der Ausstattung der Wolfsschlucht
0066ließen frühere Directoren sich verleiten, zu viel zu thun;
0067Herr Mahler thut, wie uns scheint, zu wenig. Die neue
0068Decoration, weder malerisch an sich, noch stimmungsvoll, zeigt
0069uns ein Durcheinander von nackten Felswänden, die, mit
0070den Spitzen fast zusammenstoßend, unten einen kleinen Platz
0071für das Kugelgießen einengen. In dem löblichen Bestreben, 
0072das scenische Bild möglichst abzuschließen und alle Aufmerk-
0073samkeit auf die Musik zu concentriren, scheint mir die
0074jetzige Einrichtung doch etwas fehlzugehen. Indem Herr
0075Mahler alle gespenstischen Erscheinungen wegläßt, welche
0076den Kugelguß begleiten sollen, hat er keineswegs ein die
0077Musik störendes, sondern ein nothwendiges Beiwerk entfernt.
0078Der schwarze Eber, die feurigen Räder, die wilde Jagd —
0079das Alles will gesehen sein, denn es ist in der Musik vor-
0080gebildet, mit unvergleichlicher Charakteristik ausgemalt. Es
0081steht im Originaltext genau vorgeschrieben. Und Weber 
0082selbst hat in Berlin gegen Gropius steif und fest bei
0083den Gespenster-Erscheinungen beharrt. Zur Versinnlichung
0084der wilden Jagd gibt es kein vollkommeneres scenisches
0085Mittel, als die bislang hier verwendeten Dissolving-views,
0086diese körperlos dahinfliegenden, sich bald ausdehnenden, bald
0087zusammenziehenden Luftgestalten von Jägern, Hunden und
0088Rossen. Gestern sahen wir nichts als dicke Rauchwolken,
0089welche nicht etwa quer über den Horizont huschten, sondern
0090von unten nach oben aufquollen. Die Erinnerung an
0091frühere kindische, grelle Wolfsschlucht-Effecte scheint Mahler 
0092jetzt ins andere Extrem zu treiben. Vor etwa 25 Jahren
0093(unter Herbeck) erschien Samiel als eine vom Scheitel bis
0094zur Sohle rothgekleidete Fratze, welche Lachen erregte;
0095ein imposanter lebendiger Wasserfall übertäubte in
0096der Wolfsschlucht mit seinem Rauschen die Musik
0097wie den Dialog; im Hintergrund walzten etliche Teufel und
0098umschlich ein Halbdutzend gräulicher Bestien den Kugel-
0099herd. Als wilde Jagd senkten sich aus den Soffiten leib-
0100haftige berittene Männer raketenschwingend herab, von Max 
0101und Kaspar fast mit Händen zu greifen. Schließlich kutschirte
0102noch die rothe Siegelstange auf einer Art Vélocipède über die
0103Bühne, welche nur noch ein Chaos von Rauch und Funken
0104bildete. Das war gewiß viel zu viel. Spätere Directionen
0105haben, diesen Spectakel beseitigend, die rechte Mitte ein-
0106gehalten. Jetzt ist die Wolfsschluchtscene nicht mehr über-
0107füllt, aber sie ist leer und die Orchestermusik in ihrem
0108bedeutungsvollen sinnlichen Eindruck abgeschwächt. Gestehen
0109wir nur unverhohlen: Die alte Wolfsschlucht war uns lieber.


0110An eine geliebte alte Oper, die wir nach langer Zeit
0111wieder hören, heften sich für uns recht bedeutsame Er[2]-
0112innerungen. Wie seltsame Schicksale hat Weber’s „Freischütz“
0113erlebt! Zwar mußte er nicht, wie manches andere Meister-
0114werk, lange um seinen Erfolg werben — im Gegentheil, er
0115hat gleich bei seiner ersten Aufführung in Berlin 1821 bei-
0116spiellosen Jubel entfesselt und sich schnell über alle deutschen
0117Bühnen verbreitet. Ja, was noch viel merkwürdiger: Paris 
0118und London, sonst so zaghaft im Aufnehmen neuer
0119deutscher Opern, langten schleunigst nach dem „Freischütz“.
0120Es ist wol die erste deutsche, das heißt in deut-
0121scher Sprache componirte Oper, welche bei Lebzeiten
0122des Componisten Frankreich und England erobert hat.
0123Aber in welchem Gewand, in welcher Entstellung! Weber 
0124hatte auf der Reise nach London, zur ersten Aufführung seines
0125Oberon“ eilend, den Weg über Paris genommen und dort
0126im Februar 1826 einige Tage verweilt. Da konnte er sich
0127von seiner unverhofft schnellen Popularität überzeugen.
0128Wenn auch nicht die Hunde auf der Straße dort den
0129„Jungfernkranz“ bellten, wie Heine in Berlin spottete, so
0130trugen doch die eleganten Pariser Damen roth und schwarz
0131gestreifte „Freischützkleider“, und der Jägerchor („Chasseur
0132diligent“) erklang mit lästiger Zudringlichkeit aus allen
0133Ecken und Enden. Er wurde sogar auf religiösen Text in
0134den Kirchen gesungen! („Chrétien diligent, devance
0135l’aurore; à ton Sauveur encore, adresse tes chants.
0136Ave Maria, gratia plena. La, lala, la, lala, la-
0137lala!“ etc.) Der „Freischütz“, von dem Musikschriftsteller
0138Castil-Blaze anfangs vollständig und wortgetreu über-
0139setzt, hatte im Odéon eine furchtbare Niederlage
0140erlitten; nur die Ouvertüre und der Jägerchor hatten
0141Gnade gefunden vor dem zischenden und pfeifenden Publicum.
0142Castil-Blaze mußte nun zu seinen Arrangeur-Talenten Zu-
0143flucht nehmen; der „Künstler“, der einen Augenblick in ihm
0144geherrscht, wich nunmehr dem Dorfchirurgen. Er nahm sich
0145Weber’s Partitur her, zerschnitt sie beliebig, setzte sie in
0146anderer Ordnung wieder zusammen und quacksalberte so
0147lange daran, bis er das Ding dem Geschmacke des Publi-
0148cums mundgerecht glaubte. In neun Tagen war das sonder-
0149bare Ragoût fix und fertig. Es erzielte den glänzendsten Erfolg
0150und hat dem „Freischütz“ in Paris zu einer Reihe von 327
0151Vorstellungen verholfen. Dadurch ermuntert, machte sich
0152Castil-Blaze nun frisch an die „Euryanthe“. Er instrumen-
0153tirte sie nach dem Clavierauszuge — denn die Orchester-
0154stimmen waren zu theuer — fügte Stücke aus dem
0155Freischütz“, dann andere von Beethoven und Rossini 
0156beliebig ein und betitelte das Ganze „La forêt de Sénart“.
0157Diese freche Mißhandlung seiner „Euryanthe“ erschöpfte
0158Weber’s Geduld. Er schrieb an Castil-Blaze, erst höflich,
0159dann entschieden und dringend. „Gern vergesse ich erlittenes
0160Unrecht,“ schloß sein Brief; „ich will nicht mehr vom „Frei-
0161schütz“ reden, aber lassen Sie es damit genug sein und
0162hören Sie endlich auf!“ Mehrere Proteste, welche Weber 
0163an Castil-Blaze theils direct, theils durch den Verleger
0164Schlesinger richtete, blieben unbeantwortet.*) Endlich wollte
0167der französische Bearbeiter doch nicht unter den moralischen
0168Streichen Weber’s gänzlich verstummen und erwiderte in seiner
0169Art, das heißt mit einem Gemenge von guten und schlechten
0170Gründen, die ihn als Künstler zwar nimmermehr entschuldigen
0171konnten, aber doch zum Theile als Kaufmann. Er beruft
0172sich ausschließlich auf das Gesetz, welches bestimmt, daß jedes
0173literarische und musikalische Eigenthum jenseits der Landes-
0174grenze erlösche. Er selbst habe sich auch niemals beklagt,
0175daß seine Bücher in Deutschland nachgedruckt und nachge-
0176bildet worden seien; aber dafür wolle er offene und gerechte
0177Repressalien üben an deutschen Erzeugnissen und habe in
0178Mainz vierzig Kilogramm Partituren ge-
0179kauft
, von denen er jeden beliebigen Gebrauch
0180zu machen gedenke
. Schreiender läßt sich wol schwer-
0181lich die Rechtlosigkeit schildern, unter welcher vor 70 Jahren
0182die Componisten seufzten! Weber hielt es in Paris, wo er täglich
0183fürchten mußte, mit seinem „Bearbeiter“ zusammenzutreffen, nur
0184wenige Tage aus. Er fuhr über Calais nach London. Hier hatte
0185sich die Beliebtheit der „Freischütz“-Melodien förmlich als
0186Landplage ausgebreitet. Vier bis fünf Theater wetteiferten
0187in willkürlichen Ausschmückungen und Verkrüppelungen der
0188Oper, und alle hatten ihr Publicum. Bei der ersten Auf-
0189führung im „English Opera-house“, beging der berühmte
0190Tenorist Braham als Max die Geschmacklosigkeit, das
0191deutsche Lied „Gute Nacht“ und eine englische Polacca ein-
0192zulegen. Im zweiten Acte sang Miss Stephens (Agathe) ein
0193triviales Lied: „War’s vielleicht um Eins, war’s vielleicht 
0194um Zwei“, statt des wegbleibenden Duetts. Das Duett
0195zwischen Max und Agathe wurde nach einer anderen
0196Composition gesungen. Die von Bishop für das
0197Drury-Lane-Theater verfertigte Bearbeitung hatte von
0198Weber’s Original fast nichts übrig gelassen. Im Covent-
0199garden-Theater waren dem „Freischütz“ sogar ganz neue
0200Figuren eingeschoben, eine Nixe aus dem Hochlande, ein
0201Gastwirth u. s. w. Im Lyceum wurden der „Jungfern-
0202kranz“ und das Duett der beiden Mädchen gesprochen.
0203Kein Wunder, wenn der Componist in London nervös
0204wurde, sobald man nur das Wort „Freischütz“ aussprach.


0205Gerne möchten wir hier enden mit der Aufzählung der
0206am „Freischütz“ verübten Frevel. Allein die Gerechtigkeit
0207fordert, daß wir auch — Wien nicht vergessen. Am
02083. October 1821, zum Namensfeste der Kaiserin, ging der
0209Freischütz“ hier zum erstenmale in Scene und fand enthusiastischen
0210Beifall. Das vermochte nur die Zauberkraft der Weber’schen
0211Musik; denn das Stück selbst war durch die Wiener Censur
0212und höfische Einflüsse auf das unsinnigste abgeändert. Der
0213Kaiser (so erzählt Max v. Weber) hatte sich das Schießen
0214auf der Bühne verbeten; die knallende Büchse verwandelte
0215sich in eine prosaische Armbrust, aus dem Kugelgießen, diesem
0216poetisch grauenvollen Nachtstück, machte man ein mattherziges
0217Auffinden bezauberter Bolzen in einem hohlen Baum! Die
0218Censur endlich hatte nichts mehr und nichts weniger ge-
0219strichen als — den Klausner und den Samiel! Ersterer
0220ward in einen „weltlichen“ Einsiedler umgestaltet, der
0221Samiel durfte nur als „Stimme eines bösen Geistes“
0222mitspielen. Weber wendete sich um Abhilfe an den von ihm
0223hochgeschätzten Hofrath v. Mosel. Sein in überaus be-
0224scheidenem Tone gehaltener, langer Brief gipfelt in dem
0225Satz, es herrsche im Auslande die Ueberzeugung, „daß
0226es fast unmöglich sei, ein Werk in Wien 
0227auf die Bühne zu bringen
“. Das ist gottlob vor-
0228bei seit fünfzig Jahren. Wir können nach diesen unglaub-
0229lichen Schicksalen des „Freischütz“ aufathmend uns wenigstens
0230der Genugthuung hingeben, daß die früher allgemein herr-
0231schende ästhetische und materielle Rechtlosigkeit der Opern-
0232componisten, sowie die willkürliche Verschändung ihrer Werke
0233für immer ihr Ende erreicht hat.

Fußnoten
  • *)Ein von Max Weber noch nicht gekannter Theil dieser
    interessanten Correspondenz ist durch A. Jullien veröffentlicht worden.