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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 12317. Wien, Dienstag, den 6. December 1898

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Musik.

(Philharmonisches Concert. Brahms und Dvořak.)


0003Ed. H. Die Philharmoniker eröffneten ihr jüngstes
0004Concert mit Brahms’ D-dur-Symphonie. Zur Zeit von
0005Mendelssohn’s Direction der Gewandhaus-Concerte gab es
0006in Leipzig viel Zeitungsstreit, ob eine Symphonie am An-
0007fang oder am Ende des Programms zu stehen habe. „Zu
0008Anfang,“ behaupteten die Einen, weil nur da noch unver-
0009brauchte Empfänglichkeit für ein großes, mehrsätziges Werk
0010vorhanden sei. „Zu Ende,“ meinten die Anderen; müssen
0011wir doch nach dem Gesetz der Steigerung vom Kleineren
0012zum Größeren aufsteigen und den Haupteffect für den
0013Schluß sparen. So brachte man denn für jede Ansicht ver-
0014nünftige Gründe. Bülow wußte sogar in einem excentri-
0015schen Beispiel beide zu vereinigen, indem er Beethoven’s
0016Neunte Symphonie im selben Concert als erste und als letzte
0017Nummer aufführte. Immerhin blieb es in Leipzig wie
0018anderwärts Sitte, mit der Symphonie zu schließen. Das
0019ist meistens richtig, nicht immer; es gilt dafür kein abso-
0020lutes Gesetz. Der Charakter der einzelnen Stücke
0021und ihr Verhältniß zu einander muß hier von Fall
0022zu Fall entscheiden. Herrn Director Mahler leitete ein
0023richtiges Gefühl, als er mit der Brahms’schen Symphonie 
0024anfing und hierauf erst Dvořak’s Novität „Heldenlied“
0025und die Ouvertüre zum „Sommernachtstraum“ folgen ließ.
0026Es geschah im eigensten Interesse dieser Symphonie, deren
0027edler Gedankengehalt und kunstvoller Aufbau sich immer und
0028überall durchsetzt, die aber an sinnlichem Reiz und glänzen-
0029der Farbenwirkung zurücksteht hinter den beiden Tondich-
0030tungen von Dvořak und Mendelssohn. Vor diesen gespielt,
0031entgeht Brahms’ Orchester-Colorit jeder Vergleichung; nach 
0032ihnen würde es wol etwas dumpf erscheinen. So stand denn
0033in diesem ungewöhnlich angeordneten Programm Alles an
0034rechter Stelle und mit der größtmöglichen Wirkung.


0035Ein glückliches Zusammentreffen oder Zusammenfügen
0036hat die beiden Orchesterwerke von Brahms und Dvořak dicht
0037aneinandergereiht. Hand in Hand gingen hier die beiden
0038Meister, die im Leben einander so aufrichtig geschätzt und
0039neidlos gerühmt haben. Ohne Widerspruch beherrschen sie
0040heute alle ernsten Concertprogramme. Unsere einheimischen
0041Quartettgesellschaften bringen Brahms und Dvořak; außer-
0042dem genießt Ersterer die Vorliebe Joachim’s, Letz-
0043terer jene des Böhmischen Streichquartetts.
0044Brahms’ symphonische Werke finden ihre glänzendste Ver-
0045tretung in den Philharmonischen, seine Chorstücke in den
0046Gesellschaftsconcerten. Seine D-dur-Symphonie, die ihre
0047erste Aufführung vor 20 Jahren unter Hans Richter feierte,
0048hat seitdem nicht nachgedunkelt, im Gegentheil. Mahler 
0049dirigirte sie mit sichtlicher Liebe und Sorgfalt, man fühlte,
0050daß nicht blos das Werk, sondern auch der Meister ihm
0051ans Herz gewachsen sei. Brahms hat den Dirigenten Mahler 
0052überaus hochgeschätzt und seine Berufung nach Wien mit
0053überzeugtem Eifer, wenngleich ohne Erfolg, schon vor Jahren
0054betrieben. An diese vortreffliche Aufführung der D-dur-
0055Symphonie wird sich am nächsten Sonntag eine von der
0056Gesellschaft der Musikfreunde veranstaltete große Brahms-
0057Aufführung reihen, die uns das „Schicksalslied,“ das
0058Triumphlied“ und das zweite Clavierconcert in Aussicht
0059stellt. Das Erträgniß dieser Aufführung kommt dem
0060Brahms-Denkmal zu statten. Die pietätvolle Huldigung
0061der Wiener, welche sich in den Sammlungen für das
0062Brahms-Denkmal ausdrückt, ist etwas so Natürliches,
0063Reines und Schönes, daß zu verwundern wäre,
0064wenn nicht irgend welche neidische Stimme sich krächzend
0065dagegen erhöhe. Sie kommt seltsamerweise aus England und
0066gehört einem Londoner Clavierlehrer und Componisten
0067Namens Algernon Ashton. In Wien weiß man von
0068ihm nichts weiter, als daß er ein Heft Tänze Brahms ver-
0069ehrungsvoll gewidmet hat. Dieser Herr fragt nun sehr auf-
0070geregt, mit welchem Recht man an ein Brahms-Monu-
0071ment denken könne, bevor noch Richard Wagner und
0072Schumann, die früher gestorben, in Marmor verewigt
0073sind? Ja, antworten wir ihm, wenn man mit den Stand-
0074bildern streng chronologisch vorgehen und zuerst sämmtliche
0075früher verstorbene große Künstler monumental erledigen
0076wollte, da bekäme die Stadt das Aussehen einer versteinerten
0077Geschichte der Musik. Zunächst hat jedes Land, jeder Ort
0078an seine eigenen großen Künstler zu denken. Wenn in Stettin 
0079die Statue Karl Loewe’s, in Zürich die Nägeli’s, wenn
0080demnächst in Zittau das Standbild Marschner’s, in
0081Zwickau Schumann’s sich erheben, so rügt doch kein
0082Vernünftiger, daß man dort nicht zuvor Monumente
0083für Mozart und Beethoven errichte. In erster Linie
0084entscheidet doch die innige locale Zusammengehörigkeit.
0085Wien hat seine Ehrenschuld an die großen Meister 
0086entrichtet, welche hier gewirkt haben bis an ihr Lebensende —
0087Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert — nun wüßte ich
0088wirklich nicht, an wen jetzt die Reihe käme, wenn nicht an
0089Brahms! Weder Schumann noch Wagner verknüpft ein
0090engerer persönlicher Zusammenhang mit Wien. Seltsam klingt
0091es freilich, daß Wagner, 16 Jahre nach seinem Tode, noch
0092immer kein Monument hat, weder in seiner Geburtsstadt
0093Leipzig, noch in den großen Vororten seiner Wirksamkeit:
0094Dresden, München, Bayreuth. Jede dieser Städte rühmt
0095sich ihres Vorrechtes und möchte die anderen zurückdrängen;
0096aber es wird mehr geredet als gehandelt. Wie heißt es doch
0097bei Heine? „Und da Keiner wollte, daß der Andere für ihn
0098zahle — zahlte Keiner von den Beiden.“ Also Herr A. Ashton,
0099der beflissene Verehrer des lebenden Brahms, agitirt jetzt als
0100Widersacher des verewigten. Wie der geschätzte Wiener Corre-
0101spondent der „Musical Opinion“ und des „Monthly
0102musical record“, Herr J. B. Krall, mir mittheilt,
0103glänzt Mr. Ashton, der seine musikalische Erziehung in
0104Deutschland genossen, auch durch gehässige Ausfälle
0105auf den „Musikcultus in Deutschland“ — zu Gunsten
0106der Musik in England! Wem wir in Wien ein Denkmal
0107errichten, das geht England und vollends Herrn Ashton gar
0108nichts an. Wir werden uns gewiß auch nicht einmischen,
0109wenn die dankbaren Engländer in Ermanglung eines Größeren
0110den „Mikado“-Componisten Sullivan durch eine Reiterstatue
0111im Hydepark verewigen.


0112Unversehens sind wir vom Wege des philharmonischen
0113Programms abgewichen, das uns zunächst zu Dvořak’s
0114Heldenlied“ führt. Mahler’s Vermittlung danken wir es,
0115daß Dvořak die erste Aufführung seiner noch ungedruckten
0116neuesten Orchester-Composition Wien zugewendet hat. Die
0117Aufschrift „Heldenlied“ bezeichnet Charakter und Stimmung
0118des Werkes; der Form nach ist es eine „symphonische Dichtung“
0119im Sinne Liszt’s und spielt sich in Einem fortlaufenden Satze
0120ab, welcher mehrere in Tonart, Tempo und Ausdruck con-
0121trastirende Theile ohne scharfe Abgrenzung in sich faßt. Eigent-
0122liche Programm-Musik ist das „Heldenlied“ ebensowenig wie
0123Beethoven’s „Eroica“, an die es durch seinen Namen erinnert.
0124Dvořak zwingt dem Hörer keine detaillirte Gebrauchsanwei-
0125sung auf, wie bei seinen symphonischen Dichtungen „Wasser-
0126mann“, „Mittagshexe“, „Spinnrad“, welche diesen Nothbehelf
0127leider nicht entbehren können. Das „Heldenlied“ ist in der
0128Hauptsache rein musikalisch verständlich und wirksam, wenn
0129auch einige Mittelglieder uns unklar geblieben sind. Aus[2]-
0130legerkünste werden sich wol auch an dem „Heldenlied“ zu
0131schaffen machen — wie viele Erklärungen hat nicht schon
0132die „Eroica“ erlebt und erlitten! An einen bestimmten Helden
0133(wie Beethoven an Napoleon) will Dvořak, den wir darum
0134befragten, durchaus nicht gedacht haben, nicht einmal an
0135einen des böhmischen Landtages. Nach einer „authentischen
0136Mittheilung“ des Concertprogramms haben wir bei dem
0137Heldenlied“ (czechisch: „Piseň bohatyrská“) weniger an
0138einen Kriegshelden, als an einen slavischen Rhapsoden oder
0139Barden zu denken. Die Tondichtung gemahnt also
0140an die Schicksale oder die Entwicklung eines Geistes-
0141helden, ohne daß die wechselnden Stimmungen be-
0142stimmte Vorgänge widerspiegeln müßten. Ein trotzi-
0143ges, rasch abreißendes Hauptmotiv in B-moll, das wir
0144das Heldenthema nennen können, durchzieht in mancherlei
0145Wandlungen das ganze Stück, das sich charaktervoll
0146und farbenfrisch vor uns ausbreitet. Wie schön bettet sich
0147das klagende Adagio zwischen zwei kampfmuthige Allegrosätze;
0148wie wohlthuend löst sich das bis zum Zerreißen gespannte
0149Pathos in dem volksthümlich anklingenden reizenden
0150Allegretto in E-dur! Und dann, alle Orchestermächte auf-
0151jagend, die siegesfrohe Schlußstretta! Eine ausführlichere
0152Schilderung und Beurtheilung des Werkes vermöchte ich
0153heute nicht zu geben, ist mir doch nach einmaligem Hören
0154in dem packenden Gesammteindruck manche Einzelheit und
0155ihre Beziehung auf das Ganze entgangen. Die sanften lyri-
0156schen Partien haften mir als die schönsten im Gedächtnisse.
0157In dem „Heldenlied“ glänzt die Kunst contrapunktischen
0158Verwebens mehrerer Motive, die rhythmische Abwechslung,
0159die originelle Modulation, endlich die im Zarten wie im
0160Starken gleich klangvolle Instrumentirung, der ich nur —
0161um doch etwas auszustellen — eine weniger betäubende
0162Mitwirkung des Blechs und der Lärminstrumente ge-
0163wünscht hätte.


0164Ohne Zweifel wird das „Heldenlied“ als eine von
0165echtestem Talent inspirirte und mit auserlesener Technik
0166gestaltete Schöpfung überall siegreich auftreten.*) Der Wiener
0170Erfolg präludirt diesen Erwartungen. Das sehr schwierige
0171Stück, unter Mahler’s Leitung hinreißend gespielt, machte
0172große Wirkung. Der Componist, welcher persönlich anwesend
0173war (Zde!), mußte, stürmisch gerufen, immer von neuem
0174vortreten und für den Beifall danken.

Fußnoten
  • *)Daß Dvořak auch in Paris bereits anerkannt und beliebt
    ist, bezeugt ein eben erschienenes Buch des bekannten Musikschrift-
    stellers Albert Soubies: „Histoire de la musique Bohème.“