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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 12381. Wien, Donnerstag, den 9. Februar 1899

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Concerte.

(Orchesterconcert der Herren Rabaud und d’Ollone. — Drittes Gesellschaftsconcert.)


0003Ed. H. Zwei liebenswürdige junge Franzosen, Henri
0004Rabaud und Max d’Ollone, reisen als Concert-
0005geber eigens nach Wien — um, merkwürdig genug, uns
0006weder ihre Compositionen, noch ihre Virtuosität zu zeigen.
0007Und doch sind Beide durch ihr eigenes Talent in Paris 
0008rühmlich bekannt: Rabaud speciell als Componist,
0009d’Ollone überdies als trefflicher Clavierspieler. Ihre
0010Kunstreise verfolgt kein egoistisches, vielmehr ein patriotisch-
0011künstlerisches Ziel. Sie wollen uns mit einer Auswahl des
0012Besten bekannt machen, was französische Tondichter in
0013neuester Zeit geschaffen haben. Wohlgemerkt: in der
0014Orchester-Composition. Pariser Opern-Novitäten holen wir
0015uns ja selbst. Von französischer Orchestermusik hingegen
0016kennen wir wenig. Sie ist Musik der neuesten oder doch
0017neueren Zeit. Man kann (von dem längst vergessenen
0018Symphonienzopf Gossec abgesehen) Berlioz den ersten
0019Orchester-Componisten Frankreichs nennen, der Zeit und dem
0020Range nach. Auf ihn folgt erst Saint-Saëns mit Instru-
0021mentalwerken größeren Umfanges, welche über Frankreich hinaus
0022Verbreitung und Erfolge errungen haben. Weitaus die größte
0023Mehrzahl der französischen und italienischen Componisten
0024widmet sich der Oper oder doch der Vocalmusik. Der Süden
0025lebt und webt im Gesang, schwärmt für das Theater. Erst
0026in neuester Zeit mehren sich Versuche der Franzosen
0027in symphonischer und Kammermusik. Diese Spätliebe fließt
0028aus verschiedenen Quellen zusammen. Zuerst aus der Ver-
0029ehrung für Berlioz, der, bei Lebzeiten ignorirt oder ver-
0030spottet, seit etwa 25 Jahren die begeisterte Liebe der Fran-
0031zosen genießt. Dann aus der regeren Beschäftigung mit
0032deutscher Musik, insbesondere mit Wagner. Das ungestüme
0033Temperament der Franzosen rückt auch in der Kunst die
0034Gegensätze hart aneinander. Man erinnert sich der frucht-
0035losen Anstrengungen Wagner’s in Paris und des schmählichen
0036Durchfalles seines „Tannhäuser“. Jetzt treibt die Wagnero-
0037manie dort die wunderlichsten Blüthen; nicht nur werden
0038in der Oper „Lohengrin“ und „Die Meistersinger“ bejubelt, 
0039nein, im Concertsaale hält man ganze, unendlich lange
0040Acte von „Tristan“ und den „Nibelungen“ geduldig aus,
0041ohne Handlung, ohne Costüm und Decoration. Wie stark
0042Wagner auf die neue französische Schule, auch in der In-
0043strumentalmusik, eingewirkt hat, beweisen Chabrier, d’Indy,
0044Bruneau u. A. Auch die Schwierigkeit, neue Opern in
0045Paris auf die Bühne zu bringen, treibt dort viele jüngere
0046Componisten zeitweilig der Instrumentalmusik in die Arme.
0047Aber zur Oper drängt es sie doch Alle — Alle mit Aus-
0048nahme César Franck’s.


0049Es ist eine stattliche Zahl jüngerer Orchester-Componisten,
0050welche in dem (auf zwei Concerte vertheilten) Programm
0051der Herren Rabaud und d’Ollone zu Wort kommen:
0052Massenet, Saint-Saëns, Franck, Dubois,
0053d’Indy, Chabrier, Bruneau, Lalo, Dukas.
0054Die drei erstgenannten Meister brauchen wir unseren Lesern
0055nicht erst vorzustellen; ebensowenig die mit kleineren
0056Clavierstücken vertretenen Bizet und Delibes. Das erste
0057Concert begann mit einem Symphoniesatz von Vincent
0058d’IndyWallenstein’s Lager“. Schiller’s Tragödie hat es
0059ihm offenbar angethan. Vor etwa 25 Jahren war d’Indy 
0060im Concert populaire mit einer Ouverture, „Les Piccolomini“
0061hervorgetreten; jetzt bringt er seine „Trilogie Wallenstein“,
0062deren erster Satz das Lager schildert, während der zweite
0063Max und Thekla“, der letzte „Wallenstein’s Tod“ be-
0064handelt. Einen deutschen Vorgänger hat d’Indy in
0065Joseph Rheinberger, dessen Wallenstein-Symphonie vor
006620 Jahren unsere Philharmoniker gespielt haben. Wie in
0067Rheinberger’s, so hat auch in d’Indy’s Composition sich
0068das „Lager“ als der wirksamste Satz bewährt und wird
0069selbstständig in manchen Concerten aufgeführt. d’Indy 
0070scheint mehr an Satans Lager gedacht zu haben. Das sind
0071nicht lustige Wallensteiner, die Karten spielen und mit
0072Mädchen scherzen, sondern erboste Teufel, welche einander
0073mit glühenden Zangen zwicken. Ihr Schreien und Brüllen
0074ist täuschend nachgeahmt; ein Herr in meiner Nähe wollte
0075sogar den Geruch des versengten Fleisches verspüren. Ein
0076Symphonie-Scherzo dachten wir uns wenigstens einheitlich
0077geformt, von festem Rahmen umschlossen. d’Indy hingegen
0078bietet uns ein wüstes Durcheinander von Tonarten, Rhythmen,
0079Klangeffecten, kein Bild, sondern eine Reihe von Farben-
0080klecksen. Die Capuzinerpredigt, für die Rheinberger mit Einem 
0081Fagott auslangte, exponirt d’Indy in einem Fugato von
0082drei Fagotten. Ein falscher, erquälter Humor, wie er auch
0083an anderen Stellen in brutalen Spässen sich ergeht. Und
0084doch fehlt in diesem Zuviel Eines, ein Wichtiges: der mili-
0085tärische Geist. Ein kurzes Marschmotiv für Trommel und
0086Pfeifen, eine herzhafte Trompeten-Fanfare, und wir wüßten,
0087wo wir uns befinden. Aber nichts dergleichen in d’Indy’s
0088trotz allen Lärms doch nicht charakteristischem Lagerbild. Es
0089versteht sich, daß d’Indy mit Leitmotiven arbeitet, dem All-
0090heilmittel der Jung-Wagnerianer. Ein den Wallenstein 
0091vorstellendes Motiv von kurzen zwei Tacten erscheint in
0092allen drei Sätzen; dem Programm zufolge bedeutet der nur
0093aus drei Noten (fis, g, fis) bestehende erste Tact „die
0094herrschende Idee im Charakter Wallenstein’s“, der zweite
0095Tact
seine „Schicksalsidee“. Zu diesen zwei „Ideen“ fehlt
0096leider nur eine dritte: die musikalische.


0097Wie d’Indy, so ist auch Theodor Dubois für Wien 
0098ein neuer Mann. Geboren 1837, hat Dubois längere Zeit
0099als Organist an der Madeleine gewirkt, bis er Professor
0100und schließlich Director des Pariser Conservatoriums wurde.
0101Wir hörten von diesem in allen Zweigen überaus frucht-
0102baren Componisten ein Clavierconcert in F-moll, unver-
0103gleichlich schön gespielt von Fräulein Clotilde Kleeberg.
0104Im Programm war der Platz für Dubois gut gewählt;
0105unmittelbar nach d’Indy’s Hexenlager befreundet man sich
0106willig mit einem Manne, der, wenn auch ohne reiche
0107Phantasie, doch in classischer Schule gebildet, die Form
0108beherrscht, die Kunstmittel meistert und für seine Musik
0109weder ein erzählendes Programm noch aufdringlicher Leit-
0110motive bedarf. Dubois ist in harmonischer und contra-
0111punktischer Entwicklung seiner Ideen stärker als in origineller
0112Erfindung derselben. Manches in seinem F-moll-Concert 
0113erinnert an Mendelssohn (Scherzo), Manches an den
0114früheren Beethoven (Adagio), auch Grüße von Chopin und
0115Schumann blieben nicht gänzlich aus. Was obendrein dieses
0116Concert heute schädigt, ist die etwas veraltete, an Hummel 
0117und Moscheles erinnernde Claviertechnik, deren Glanzpunkte
0118nicht über einige Trillerketten, Scalenläufe und Arpeggien
0119in gerader oder Gegenbewegung hinausgehen. Neu ist die
0120Stellung, welche Dubois der „Cadenz“ anweist: ein langes
0121Solo zu Anfang des Finales. Mehr Lorbeerkränze dürfte
0122Dubois heute als Conservatoriums-Director ernten, wenn [2]
0123seiner künstlerischen Autorität es gelingt, einige feuerspeiende
0124Jünglinge vor dem letzten Absturze zu retten.


0125Auf Dubois’ mehr didaktisches als poetisches Concert
0126wirkte als doppelt pikantes Gegenstück eine kleine Orchester-
0127Suite von Massenet: „Scènes alsaciennes“. Die erste
0128dieser drei anspruchslosen Elsässer Idyllen schildert das fest-
0129lich müßige Treiben am Sonntag Vormittags in einer
0130kleinen Stadt. Darauf folgt als zweites Bild der „Abend
0131im Wirthshaus“: es schlägt acht Uhr, einige kurze Trommel-
0132wirbel und Trompetenstöße ertönen und die ganze Jugend
0133marschirt vergnügt hinter dem französischen Zapfenstreich.
0134Zum Schlusse die Scene „unter dem Lindenbaum“, ein
0135zärtliches Duo zwischen Violoncell und Clarinette. Die
0136Stücke sind sämmtlich kurz und recht interessant. Während die
0137beiden ersten verschwenderisch umgehen mit dem scharfen
0138harmonischen und rhythmischen Gewürz, ohne welches der
0139moderne Franzose nun einmal nicht bestehen kann, erfreut
0140das dritte durch ungetrübten Wohllaut und zarte Empfin-
0141dung. Der süße Lindenduft versetzte die Zuhörer in die
0142wohligste Stimmung. Keines von den gewaltsamen großen
0143Orchesterstücken dieses Abends hat einen so starken, ein-
0144müthigen Beifall hervorgerufen, wie dieses kleine Genrebild.


0145Die C-moll-Symphonie von Saint-Saëns (Nr. 3)
0146genießt in Frankreich beim Publicum wie bei der Kritik ein
0147ungemeines Ansehen. Das Wiener Publicum trat dem neuen
0148Werke mit ausgesprochener Sympathie entgegen, hat es doch
0149seinerzeit an Saint-Saëns’ geistreichen Tongemälden „Der
0150Todtentanz“ und „Das Spinnrad der Omphale“, dann an
0151zwei effectvollen Clavierconcerten aufrichtiges Gefallen ge-
0152funden, auch den Autor als eminenten Clavierspieler und
0153Orgel-Virtuosen schätzen gelernt. Mit der C-moll-Symphonie 
0154trachtet Saint-Saëns seine früheren Werke nicht blos an
0155Gehalt und Umfang, sondern auch durch Neuerungen in
0156der Form und den Ausdrucksmitteln zu überholen. Seine
0157Symphonie hat blos zwei Sätze, in welchen nähere Be-
0158trachtung allerdings die alten vier Sätze in sorgsamer Ver-
0159hüllung wiederfindet. Der erste Allegrosatz überfließt in das
0160Andante; die zweite Abtheilung heftet das Finale unmittel-
0161bar an das Scherzo. Vielleicht ein Zusammenhang mit
0162der Widmung dieser Symphonie an Liszt, dessen
0163„Symphonische Dichtungen“ drei Sätze verschiedenen
0164Charakters in Einen verschmelzen oder vielmehr an-
0165einander reihen. Die zweite Neuerung betrifft das
0166Orchester, das zu dem stärksten Aufgebot aller gebräuch-
0167lichen Instrumente auch noch die Orgel und das Clavier
0168hinzufügt. Die Mitwirkung des Claviers (einige rapide
0169Tonleitern in hoher Lage) ist dabei so gering und über-
0170flüssig, daß man sie ohne Schaden ganz streichen dürfte.
0171Wirksamer ist die Orgel verwendet, und zwar nicht etwa
0172gleichberechtigt oder concertant (wie einst in Herbeck’s 
0173Symphonie), sondern weislich nur zur Unterstützung einzelner
0174besonders wichtiger, feierlicher Stellen. Saint-Saëns bewährt
0175sich in diesem Werke neuerdings als ein großes Talent; für
0176ein wahrhaft schöpferisches haben wir ihn nie halten können.
0177Die Combination, die grübelnde und künstelnde Arbeit über-
0178wiegt doch zu empfindlich den freien Flug der Phantasie,
0179die ursprüngliche Erfindung. Wir vermissen in dieser auf-
0180gethürmten, rastlos bewegten Tonfluth die einfachen,
0181schlicht auftretenden, herzerfreuenden Gedanken. Manche
0182überaus schöne Einzelheit, eine Fülle geistreichen Details und
0183kunstvoller Ciselir-Arbeit erregt unsere Bewunderung — das
0184Ganze wirkt mehr bedrückend als erhebend. Saint-Saëns 
0185beugt seine Symphonie nicht unter ein bestimmtes „Pro-
0186gramm“, wie heute die meisten jungen Musiker thun, welche
0187bei der Dichtkunst und Malerei erbetteln müssen, was ihnen
0188an eigener Münze abgeht. „Je n’ai jamais été, je ne suis
0189pas, je ne serai jamais de la réligion Wagnerienne,“ so
0190erklärt Saint-Saëns in einer seiner geistreichen Abhand-
0191lungen. In Frankreich zählt man ihn deßhalb, sehr mit
0192Unrecht, schon zu den Reactionären; in seinen gewagten
0193Orchester-Effecten, wie in der Auflösung der Formen, ja
0194oft der Form überhaupt, ist er ganz modern, zuweilen bis
0195zum Revolutionär.


0196Das Publicum zeigte sich von der Novität mehr inter-
0197essirt als wahrhaft erwärmt. Sie ist in der That nicht leicht
0198zu verstehen; auch nicht leicht zu spielen. Hier müssen wir
0199den beiden jungen Dirigenten unsere volle Bewunderung
0200ausdrücken. Sie haben im Einstudiren und Dirigiren so
0201complicirter, schwieriger Werke mit einem fremden Orchester
0202Außerordentliches geleistet. Henri Rabaud und Max
0203d’Ollone zählen heute schon zu den geschicktesten Diri-
0204genten und Missionären ihres Vaterlandes.


0205Das letzte Orchesterstück im Programm war die Ouvertüre
0206zur Oper „Gwendoline“ von Emanuel Chabrier. Diese 
0207Gwendoline, ein sechzehnjähriges Fischermädchen an der breto-
0208nischen Küste, zähmt durch Liebe den gewaltthätigen Helden
0209Harald. Die Beiden nehmen aber kein so glückliches Ende
0210wie ihr Vorbild Ingomar und Parthenia; sie sterben ge-
0211meinsam an Liebe, Mord und Selbstmord. Vergebens hatte
0212der Componist jahrelang das Thor der Pariser Großen Oper
0213belagert mit seiner Gwendoline; aber Catulle Mendès,
0214der General-Consul des Pariser Wagnerthums, waltete seines
0215Amtes und unterbrachte die hilflose Gwendoline in den ver-
0216bündeten Städten München und Karlsruhe; zum bitteren
0217Leidwesen des dortigen Publicums. Die Pariser Große Oper
0218folgte 1893 mit der Aufführung nach. Weniger aus Be-
0219quemlichkeit als aus Unparteilichkeit erlaube ich mir das
0220Urtheil zweier hochangesehener Pariser Musikkritiker, eines
0221älteren und eines jüngeren, über Chabrier’s Ouvertüre
0222zu citiren. Arthur Pougin schreibt im Ménestrel:
0223„In dieser Ouvertüre hört man gleichzeitig die Violinen
0224kreischen, die Contrabasse brummen, das Piccolo pfeifen, die
0225Blechinstrumente brüllen, die Cymbeln klingeln. Niemals hat
0226man ein ärgeres Durcheinander von Noten erlebt. Das ist
0227nicht mehr Musik, das ist Tollwuth.“ — „Der Lärm in
0228dieser Ouvertüre ist wahrhaft peinlich,“ ruft Octave Fouqué 
0229in der Revue des deux Mondes. „Nichts schmerzhafter für
0230das Ohr, als die Coda, wo die Posaunen das Walhalla-
0231thema heulen, während darunter das ganze Orchester wüthet.
0232Oh, diese dicke, dicke, grobe Musik! Eine mit der Hacke zu-
0233gehauene Musik. Wie die Harmonie, so ist die Instrumen-
0234tirung zum Aeußersten getrieben, bis zum Wahnsinn. Warum
0235muß doch dieser Lärm jede Erinnerung, die das Werk in
0236uns zurückläßt, übertäuben, so daß uns die Ohren weh thun,
0237so oft wir nur daran zurückdenken!“ Man hat mir mangelnde
0238Sympathie für Jung-Frankreich vorgehalten. Ich weiß mich gänz-
0239lich frei von dieser Voreingenommenheit; die Nacheingenommen-
0240heit kann ich aber nicht leugnen. Das Urtheil der beiden fran-
0241zösischen Autoritäten dürfte meine Empfindung rechtfertigen.


0242Nicht den bedeutendsten, gewiß aber den angenehmsten
0243Theil des französischen Concertes bildeten einige kleinere
0244Clavierstücke von Bizet, Delibes, Fauré und Go-
0245dard
, welche Fräulein Clotilde Kleeberg aus Paris mit
0246unvergleichlicher Anmuth und Feinheit vortrug. Ihr Spiel,
0247bis ins kleinste Detail vollendet und von geistreicher Laune
0248beseelt, war ohne Frage der größte Erfolg des Abends...

[3]


0249Das vorletzte Gesellschafts-Concert hatte
0250uns die erste Aufführung eines Händel’schen Oratoriums
0251(Debora) gebracht; im letzten hörten wir eine für Wien 
0252neue Cantate von Bach. Die beiden Großmeister deutscher
0253Tonkunst sind unerschöpflich — noch anderthalb Jahrhunderte
0254nach ihrem Tode. „Wachet auf, ruft uns die Stimme,“
0255heißt die Cantate, welche Bach 1731 auf ein dreistrophiges
0256Kirchenlied von Philipp Nicolai componirt hat; Recitative
0257und zwei Duette trennen die Strophen desselben. Mit feier-
0258licher Andacht folgten die Zuhörer dieser Musik, schienen
0259aber schließlich von dem Ganzen mehr befremdet als begeistert.
0260Alle Ehrfurcht und Bewunderung für Bach’s erstaunliche
0261Kunst vermag nicht ganz zu verhindern, daß uns heute die
0262süßliche, unleidlich pietistische Dichtung stört. Zwei förmliche
0263Liebesduette singt Christus mit seiner Braut. Damit ist die
0264„gläubige Seele“ gemeint, bekanntlich in der älteren prote-
0265stantischen Kirchenmusik eine stereotype Figur, die auch in
0266Bach’s herrlicher Cantate: „Ich hatte viel Bekümmerniß“
0267und anderen in unmittelbare Beziehung zum Heiland tritt.
0268Die endlos wiederholten Worte in dem ersten Duett:
0269„Wann kommst du, mein Heil? — Ich komme, dein Heil!“
0270„Komm’, Jesu! Ich komme!“ ermüden und verstimmen
0271uns: noch mehr das in opernhaften Terzengängen kosende
0272zweite Duett zwischen Christus und seiner Braut: „Mein Freund
0273ist mein und ich bin dein! Die Liebe soll nichts scheiden!“ Man
0274muß glaubenseifriger Protestant und unbedingter Bach-
0275Enthusiast sein, um in dieser Cantate mit ganzem Herzen
0276auszugehen. Gewiß ist es unsere Schuld und die Schuld
0277unseres ausgehenden Jahrhunderts, daß wir für diese
0278pietistischen Anschauungen und Empfindungen nicht dieselbe
0279Wärme aufbringen, wie seinerzeit Bach und seine Gemeinde.
0280Aber leugnen können wir nicht dieses leise Widerstreben, das
0281weder vor unserem historischen Begreifen noch vor dem
0282mächtigen Eindrucke Bach’scher Kunst ganz verschwindet. Die
0283beiden sehr schwierigen Solopartien wurden von der Baronin
0284Leonore Bach und Herrn Scheidemantel vorzüg-
0285lich gesungen. Schade, daß dieser verständnißvolle und treff-
0286lich geschulte Sänger in jüngster Zeit so sehr zum Tremoliren
0287neigt. ... Freudig begrüßten wir einige nur zu selten gehörte
0288Vocalchöre von Brahms. Insbesondere die „Nachtwache“,
0289ein bewunderungswürdiger sechsstimmiger Satz, und „Letztes
0290Glück“ (das schöne Gedicht von Max Kalbeck) gehören 
0291zu den Perlen Brahms’scher Vocalmusik. Das von Brahms 
0292harmonisirte Volkslied „Wollust in den Mayen“, dessen
0293populäre Wirkung niemals versagt, mußte wiederholt wer-
0294den, wie auch das markige Chorlied „Beherzigung“. Die Stücke
0295waren von Director R. v. Perger passend ausgewählt
0296und sorgfältig studirt. Ein schöner Erfolg unseres „Sing-
0297vereins“. Das Concert schloß mit Mendelssohn’s 
0298Cantate „Die erste Walpurgisnacht“. Vor 55 Jahren zum
0299erstenmal in Wien aufgeführt, hat diese Tondichtung noch
0300nichts eingebüßt von ihrer jugendlichen Frische. Die siegreiche
0301Unmittelbarkeit ihres Eindruckes ließe kaum errathen, welch
0302gewissenhafte Arbeit und Ueberprüfung Mendelssohn daran
0303gewendet. Im Jahre 1831 in Rom componirt, gelangte die
0304Walpurgisnacht“ erst zwölf Jahre später nach durchgreifen-
0305der Umgestaltung in die Oeffentlichkeit. Welche Bedenken wegen
0306der Instrumentirung des Hexenchors! Wiederholt zweifelt
0307Mendelssohn, ob er die große Trommel dazu nehmen dürfe
0308oder nicht. Glücklicherweise hat er seine ästhetischen Scrupel
0309besiegt; er setzte die große Trommel dahin, nicht blos wo
0310sie effectvoll, sondern wo sie unentbehrlich ist. Heute gibt es
0311keine „Symphonische Dichtung“ mehr, an welcher sie nicht
0312mitdichtet.


0313Allgemein aufgefallen sind die Abänderungen des Goethe-
0314schen Gedichtes, welche das Concertprogramm vom 5. d. M.
0315aufweist. Bei Goethe singen bekanntlich die heidnischen
0316Wächter: „Kommt mit Zacken und mit Gabeln und mit
0317Gluth und Klapperstöcken — Mit dem Teufel, den sie
0318fabeln
, wollen wir sie selbst erschrecken. Dies dumpfen
0319Pfaffenchristen
, laßt uns keck sie überlisten!“ Wer mag
0320der muntere Censor sein, der aus den Pfaffenchristen „diese
0321Christen
“ gemacht hat und — den Reim „Gabeln, fabeln“
0322stolz ignorirend — fabeln in „fürchten“ verwandelte? Wir
0323dachten, diese von Aengstlichkeit und Hochmuth dictirte
0324„Verbesserung“ einer gefeierten, durch Mendelssohn’s Musik
0325in allen Kreisen heimischen Dichtung Goethe’s müsse aus
0326dem Vormärz sich unbeachtet in unsere Tage eingeschlichen
0327haben. Allein dem ist nicht so. Ich habe vor dem
0328Jahre 1848 als Student Mendelssohn’s „Walpurgisnacht“
0329in Prag und Wien singen gehört, immer mit dem Goethe-
0330schen Originaltext. Das außerordentlich kirchliche Feingefühl
0331unserer Behörden ist also ein neu aufgeblühtes Pflänzlein.
0332So weit gebracht!!“ singt der alte Druide.