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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 12449. Wien, Donnerstag, den 20. April 1899

[1]

Drei musikalische Glückskinder.


0002Ed. H. Es zählt zu den Seltenheiten in der Musik-
0003geschichte, daß nacheinander drei gänzlich unbekannte junge
0004Componisten gleich mit ihrem allerersten Werke die glän-
0005zendste Aufnahme finden. Mascagni, Perosi, Sieg-
0006fried Wagner
— das Weltkind rechts, das Weltkind
0007links, Prophete in der Mitte. Von diesen drei Jünglingen
0008im feurigen Ruhmesofen ist Mascagni mit seiner „Caval-
0009leria“ den beiden Anderen um einige Jahre vorausgegangen.
0010Ihre Erfolge bergen so interessante Analogien und Ver-
0011schiedenheiten, daß man dem Reize, sie zu vergleichen, kaum
0012widerstehen kann. Mascagni ist streng genommen der
0013Einzige in dem Kleeblatt, welcher den Erfolg ganz allein
0014nur seinem Werke verdankt, nicht auch seinem Namen oder
0015seinen persönlichen Verhältnissen. Ein dunkler Provinz-
0016musiker von 25 Jahren, hatte er den Muth, sich schnellfertig
0017an Sonzogno’s Preisausschreibung zu betheiligen; seine
0018Cavalleria“ wurde als die beste von siebzig eingesendeten
0019Opern erkannt und gekrönt. Ihr beispielloser Erfolg in
0020Italien erwies sich auch als weitgreifend und nachhaltig.
0021Noch heute, nach acht Jahren, lebt die „Cavalleria“, deren
0022künstlerischer Werth oder Unwerth uns heute nicht beschäftigt,
0023auf allen Opernbühnen diesseits und jenseits des Weltmeeres
0024vergnüglich fort.


0025Unter ungleich günstigeren Verhältnissen traten die
0026beiden anderen Glückskinder vor die Oeffentlichkeit. Den
0027Einen schmückt und hebt der Name seines Vaters, den
0028Andern sein geistliches Kleid. Umstände sind die Minister
0029der Götter. Ohne dem Talente Perosi’s oder Siegfried
0030Wagner’s nahezutreten, darf man doch behaupten, daß nicht
0031dieses Talent allein sie so plötzlich emporheben konnte.
0032Mindestens ein paar Jahre leidigen Umherwanderns und 
0033Anklopfens mit ihrem Opus 1 hätte es gekostet, hieße der
0034Eine statt Wagner Schmied und ernährte der Andere eine
0035zahlreiche Familie irgendwo als bescheidener Organist oder
0036Schullehrer. Wen das Publicum und die Gesellschaft mit
0037so jubelndem Zurufe und weitgeöffneten Armen empfängt,
0038ohne noch eine Note von ihm zu kennen, der ist ein Sonn-
0039tagskind, wie es oft in Märchen, aber sehr selten in der
0040Kunstgeschichte vorkommt. ...


0041Treten wir etwas näher an Perosi. Es begreift
0042sich, daß die katholische Kirche, vor Allem der römische Epis-
0043copat, das Auftreten eines jungen Priesters mit religiösen
0044Tonwerken freudigst begrüßte. Endlich ein Wiederaufleben
0045lang unterbrochener rühmlicher Tradition! Seit mehr als
0046zweihundert Jahren hatte der katholische Clerus nur in
0047einzelnen nicht eben hervorragenden Componisten sich schaffend
0048bethätigt. Im vorigen Jahrhundert besaß Italien noch an
0049Padre Martini und dessen Schüler Padre Mattei 
0050zwei als Theoretiker und Lehrer hochangesehene Tonkünstler.
0051In Deutschland glänzte Abbé Vogler (der Lehrer Meyer-
0052beer’s und Weber’s) als geistvoller Musikforscher und Orgel-
0053virtuose; seine zahlreichen Compositionen sind längst ver-
0054gessen, gleich jenen Martini’s und Mattei’s. In Oester-
0055reich componirten zu Mozart’s Zeiten Abbé Stad-
0056ler
und der unersättlich variirende Abbé Gelinek;
0057Beide völlig verschollen. Nach Abbé Stadler kam erst
0058Liszt (fast ein Jahrhundert später) als der erste katho-
0059lische Tondichter, der wieder ein geistliches Oratorium
0060schrieb. Kein Wunder, wenn heute inmitten der
0061stärkeren Bewegung katholischen Glaubenseifers das plötzliche
0062Erscheinen eines Oratorien schreibenden Priesters wonniges
0063Aufsehen erregt. Man weiß, mit welchen Ehren der junge
0064Perosi in Italien und Oesterreich überhäuft, von Clerus
0065und Aristokratie gefeiert, an höchster geistlicher und weltlicher
0066Stelle empfangen wurde. Dieser Widerhall seiner kirchlichen
0067Begeisterung entscheidet allerdings noch nicht für Perosi’s
0068musikalische Bedeutung. Nicht nur dem Tanzlustigen ist
0069leicht aufgespielt — auch dem frommen Beter. Bei aller
0070Sympathie mit seinem idealen Streben und redlichen Fleiß
0071vermag ich doch in Perosi ein starkes, eigenartiges Talent 
0072nicht zu erkennen. Glatt und gewandt geschrieben, nicht ohne
0073einzelne anmuthige Wendungen, sind doch seine beiden hier
0074aufgeführten Oratorien arm an ursprünglichen neuen Ge-
0075danken. „Lazzaro“ und die „Risurrezione“ — wo immer
0076man diese beiden Partituren aufschlagen mag, es ist fast
0077immer dasselbe. Eine dürftige, in engem Kreis melodischer
0078Formeln und Begleitungsfiguren nistende Erfindung. Statt
0079ausgeprägter Persönlichkeit der allgemeine Stempel katho-
0080lischer Kirchenmusik; ein durch häufige Trompeten- und
0081Posaunenstöße erhellter monotoner Litaneienton. Den
0082handelnden Personen fehlt fast jegliche Charakteristik, und der
0083Chor, dieser Grundpfeiler echter Oratorienmusik, ist kümmer-
0084lich beiseite geschoben.


0085Zwischen die kirchlichen und die musikalischen Ansprüche
0086gestellt, die ja im Oratorium häufig auseinandergehen, be-
0087vorzugt Perosi offenbar die ersteren, wie schon die ganz un-
0088gewöhnliche Wahl der lateinischen Sprache für seinen Text
0089darthut. Die berühmtesten Componisten Italiens, schon
0090Carissimi und die an der Wiener Hofcapelle angestellten
0091alten Meister, haben sich im Oratorium ihrer Muttersprache
0092bedient; Massenet, Tinel, C. Franck schrieben auf französi-
0093schen Text, die deutschen Katholiken (Haydn, Beethoven,
0094sogar Abbé Liszt) auf deutschen. Weßhalb wendet sich Perosi 
0095nicht an sein Volk? Latein ist die Sprache keiner lebenden
0096Nation, sondern die des katholischen Clerus. Sie drängt
0097Perosi’s Styl in eine traditionelle kirchliche Starrheit
0098und erschwert jede unmittelbare Hingabe an seine
0099Musik. Dazu das Festhalten an den knappen Worten
0100des Evangelisten. Das verursacht ein maßloses Ueber-
0101wiegen des erzählenden Theiles über den lyrischen,
0102einen zerhackten Dialog an Stelle einer musikalisch geformten,
0103sich ausbreitenden Melodie. Aufrecht erhalten konnte Perosi 
0104den streng kirchlichen Styl trotzdem nicht; moderne Wen-
0105dungen, sogar Wagner’sche, färben den Gesang wie die In-
0106strumentirung. Ihm daraus einen Vorwurf zu schmieden
0107und unbedingte Rückkehr zu Palestrina vorzuschreiben (wie
0108jüngst in einem großen Blatte geschehen) wäre Thorheit.
0109Kein Künstler kann sich heute um drei bis vier Jahrhunderte
0110zurückschrauben, wenn er nicht auf jedes Verstehen und [2]
0111Mitfühlen seiner Zeitgenossen verzichten will. Nur muß seine
0112Kunst, sein Talent und sein ästhetisches Empfinden stark
0113genug sein, um eine Harmonie zwischen kirchlichen und
0114musikalischen Anforderungen festzuhalten. Ein kräftiges,
0115originelles Talent kann uns sogar mit Einzelheiten ver-
0116söhnen, wo der Bruch, der im Begriffe der „Kirchenmusik“
0117steckt, etwa zu Gunsten der Musik und zum Nachtheile der
0118Kirche hervortritt. Wer gedachte nicht beim Anhören von
0119Perosi’s „Lazarus“ an das gleichnamige (unvollendete) Ora-
0120torium von Franz Schubert! Wie fesselt und erhebt uns
0121die Innigkeit und melodiöse Fülle, welche hier Leben aus
0122dem Tode zaubert! In Schubert ist mehr Musik und
0123weniger Kirche, in Perosi das Gegentheil. Ob Perosi’s halb-
0124reife Kunst sich noch zu wirklicher Bedeutung entwickeln, be-
0125reichern und vertiefen werde? Wir möchten das um so
0126sehnlicher wünschen, als die fabelhaften äußeren Erfolge
0127seiner jungen Berühmtheit sich schwerlich ein zweitesmal
0128wiederholen dürften.


0129Wie dem jungen Abbate die hohe Geistlichkeit mit
0130Palmzweigen und Rauchfässern vorangeschritten war, so
0131nahte uns Siegfried Wagner unter den Fanfaren der
0132Chamberlain-Husaren von Bayreuth. Perosi blieb weit unter
0133meinen hochgespannten Erwartungen, hingegen habe ich im
0134Bärenhäuter“ Besseres gefunden, als ich vermuthete.
0135Siegfried hatte einen ungleich schwereren Stand, als Don
0136Perosi. Einer allerersten großen Oper pflegt man mit
0137gerechtem Mißtrauen zu begegnen. Wie viele Jugendopern
0138von Gluck, Mozart, Cherubini, Weber, Auber und Rossini 
0139sind durchgefallen oder in rasches Dunkel verschwunden,
0140bevor diese Meister mit einem völlig reifen Werk sich Aner-
0141kennung erkämpften. Selbst „Fidelio“, die erste und zugleich
0142letzte Oper Beethoven’s, brauchte neun Jahre, um sich von
0143ihrem ersten Fall zu erholen. Ein zweiter Grund zu einigem
0144Mißtrauen lag in Siegfried’s gefeiertem Namen. Wann
0145hat je der Sohn eines berühmten Tondichters auch nur
0146halbwegs den Vater erreicht? Nehmen wir etwa von Bach’s 
0147elf Söhnen Emanuel und Friedemann aus, deren Namen
0148wir noch ehren, ihre Werke aber kaum mehr kennen, so
0149sind die Ausnahmen mit diesem Beispiele wol erschöpft. 
0150Das kurze, schüchterne Künstlerleben von Mozart’s Sohn 
0151war ein Martyrum, auch ein materielles. Ein geistiges
0152wenigstens die Laufbahn von Goethe’s Enkeln Wolfgang,
0153dem Dichter, und Walther, dem Componisten. In vielen
0154Fällen ahnen die Väter, mitunter auch die Söhne selbst,
0155das Aussichtslose solcher Nachfolge. Die Söhne C. M. Weber’s,
0156Mendelssohn’s, Gounod’s folgten praktischen Berufszweigen.
0157Die Natur vererbt nicht gerne ein großes Talent, viel lieber
0158enterbt sie. Richard Wagner selbst hatte seinen Sohn be-
0159kanntlich zum Architekten bestimmt. Nun kommt Jung-
0160Siegfried, wagemuthig wie sein Namenspatron folgt er seinem
0161Triebe zur Musik und überrascht die Welt — nicht etwa
0162mit ein paar Lieder- oder Clavierheften, sondern gleich mit
0163einer großen Oper. Es glückt ihm dieser Anfang besser, als
0164vordem seinem Vater. „Bärenhäuter“ ist in Text
0165und Musik jedenfalls wirksamer als Richard Wagner’s
0166Erstlingsoper „Die Feen“, die wir in München mit so
0167ungläubigem Befremden gehört haben. Groß und eigenartig
0168wie die Vortheile sind aber auch die Gefahren eines ererbten
0169Namens. Und nicht erst vor dem Publicum. Schon während
0170der Arbeit umlauern sie den Sohn. Stark, selbstständig
0171soll er in seinem Werke erscheinen, nicht als bloßer
0172Wagnerianer. Ebensowenig ziemt ihm andererseits ein
0173völliges Verleugnen des väterlichen Stylprincips und Co-
0174lorits. Fürwahr, kein leichter Conflict! Man denkt unwill-
0175kürlich an die Zweifel Nathan’s des Weisen vor seiner Ant-
0176wort an den Sultan: „So ganz Stockjude sein zu wollen,
0177geht schon nicht. Und ganz und gar nicht Jude geht noch
0178minder!“ Siegfried trachtet nach beiden Seiten hin zu be-
0179friedigen, redlich, doch nicht mit gleichem Gelingen. Wo er
0180unbefangen dem eigenen Schaffensdrang sich hingibt und
0181möglichst natürlich bleibt, wie vielfach im zweiten Act, da
0182folgt man ihm willig. Wo er hingegen gewaltsam sich
0183seiner Kronprinzenwürde erinnert und den Vater copirt,
0184„so weit die vorhandenen Kräfte reichen“, da wird
0185er ungenügend, affectirt, langweilig. Das empfindet
0186man schon häufig im ersten Act; am stärksten im
0187dritten, namentlich während des unaushaltbar langen und
0188langweiligen Duetts des Bärenhäuters mit der obligaten 
0189„erlösenden“ Maid. Besten Dank unserem Director Mahler,
0190daß er diesem gesungenen Drachen, welchen Siegfried, statt
0191ihn zu erschlagen, gezeugt hat, wenigstens die Pfoten und
0192den Schweif abhieb! Auch in der maßlosen Ausdehnung
0193des ganzen Werkes, in Unterjochung der selbstständigen
0194Melodie und zerbröckelnden Declamation folgt Siegfried 
0195allzu getreu Wagner’schen Mustern. Ja, er sucht sie noch zu
0196überbieten in dem wie ein nervöser Ameisenhaufen durcheinander
0197kribbelnden Orchester, das die paar hübschen melodiösen
0198Anfänge unbarmherzig verschüttet. Uebertrumpft hat Sieg-
0199fried den Vater auch darin, daß er nicht blos das verpönte
0200Wort „Oper“, sondern auch das von Wagner substituirte
0201„Musikdrama“ verabscheut und statt dessen — gar nichts
0202hinschreibt. Das ist doch ein bischen kindisch. Die alte Be-
0203zeichnung „Oper“ hat noch niemals einer guten Musik ge-
0204schadet und das stolze Aushängeschild „Musikdrama“ noch
0205keine schlechte gerettet. Ohne Zweifel wird auch diese neueste
0206Obstruction Schule machen bei den Jung-Wagnerianern;
0207möge es dann nur wirklich heißen: Mittel ohne Titel!
0208Dem „Bärenhäuter“ kam die musterhafte Vorstellung im
0209Hofoperntheater sehr zu statten, während die miserable Auf-
0210führung der „Risurrezione“ dem Eindrucke dieser Compo-
0211sition ohne Frage geschadet hat. Andererseits stand
0212Perosi wieder im Vortheil durch die Kürze seines Werkes.
0213Er hat nicht viel zu sagen, sagt es also kurz. Siegfried 
0214weiß auch nicht viel Neues, erzählt es aber so lang und
0215umständlich, daß man verzweifeln könnte.


0216Die fachmännische Beurtheilung, welche Perosi und der
0217Bärenhäuter“ bereits in diesem Blatte gefunden haben,
0218befreit mich von der Versuchung, nochmals verspätet auf
0219Einzelheiten einzugehen. Es ziemte mir nur, den sub-
0220jectiven Eindruck flüchtig zu schildern, den ich von den ge-
0221feierten Novitäten empfangen habe. Unser Publicum hat
0222bekanntlich beide in der allergünstigsten Weise aufgenommen.
0223Dabei dürfte es eine kurze Zeit lang auch bleiben. Wen
0224Kritik nicht plagt, der wird im „Bärenhäuter“ sich stellen-
0225weise unterhalten, und wer hochgradig fromm ist, sich bei
0226Perosi gewiß nicht langweilen.