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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 12516. Wien, Mittwoch, den 28. Juni 1899

[1]

Neue Bücher über Musik.

(I. Kalbeck. Tschaikowsky.)


0003Ed. H. „Opernabende“ betitelt Max Kalbeck sein
0004neues Buch. Unter den Titel ziemte sich als charakteristische
0005Vignette Leier und Schwert. Die Lyra des Dichters eint
0006sich hier mit der Klinge des Kritikers zu schönem Zusammen-
0007klang. Kalbeck’s poetische Begabung, die wir aus einem
0008Bändchen Gedichte und vielen trefflichen Operntext-Ueber-
0009setzungen kennen, durchbricht keineswegs die Kreise seiner
0010kritischen Arbeit, vielmehr erweitert und schmückt sie die-
0011selben. Max der Poet unterstützt Max den Kritiker, indem
0012er ihm treffende Gleichnisse, farbige Bilder, novellistisch
0013spannende Einkleidungen liefert. Andererseits sorgt seine
0014historische und philosophische Bildung dafür, daß die Haupt-
0015sache, die Kritik, vom Blumengewinde nicht erdrückt werde.
0016Kalbeck liebt es vornehmlich, in den Einleitungen seiner
0017Feuilletons weiter auszuholen und uns so in die ge-
0018wünschte Stimmung für das nachfolgende Urtheil zu
0019versetzen. Man lese zum Beispiel den Anfang seiner
0020Kritik von Boieldieu’s „Johann von Paris“: „An
0021alten Briefen, die jahrelang von der frischen Luft abgesperrt,
0022in stiller Lade verschlossen ruhen, haftet manchmal ein
0023eigenthümlicher Duft, der uns, wenn wir das ausgeblichene
0024Seidenband von den moderigen Blättern lösen, befremdend
0025entgegenschlägt. Wir haben des Empfängers wie des Schreibers
0026längst vergessen, kennen vielleicht weder den Einen noch den
0027Andern, und doch gibt der charakteristische Odeur ihrer
0028papierenen Hinterlassenschaft uns gewisse Kunde von ihrer
0029leiblichen Existenz, und unvermerkt fühlen wir uns zurück-
0030versetzt in die Atmosphäre eines längst vergangenen und
0031verschollenen Daseins. Merkwürdig, daß der niederste und
0032verachtetste unserer Sinne der allerhöchsten, ans Ideale
0033streifenden Verfeinerung fähig ist. Denn wir vermögen ihn,
0034der Physiologie zum Trotz, von den Gegenständen so weit
0035zu abstrahiren, daß wir ihn in den Bereich unserer Vor-
0036stellungen aufnehmen; eine ahnungsvolle Witterung umfängt
0037unseren Geist und hat Ideenverbindungen zur Folge, von 
0038denen wir uns nichts träumen lassen. Wir entfalten die
0039Partitur „Johann von Paris“, und ein feines Geduft von
0040Bisam und Rosenöl weht aus ihrer Musik zu uns her“.


0041Oder als Gegenbild die humoristische Einkleidung seines
0042Berichtes über den „Zigeunerbaron“: „Im Anfang
0043hatte M. Jokai eine „Grundidee“, die sich für die Bühne
0044eignete. Und die Bühne war wüst und leer, und es war
0045finster auf der Tiefe; und der Geist Jokai’s schwebte auf
0046dem Wasser. Da kam Herr I. Schnitzer und sprach: Es
0047werde ein Stoff! Und es ward ein Stoff. Und derselbe
0048Herr sah, daß der Stoff gut war und nannte ihn „Zigeuner-
0049baron“. Und der Herr sprach: Es sammle sich das Wasser
0050an besondere Orte, daß man das Trockene sehe. Und es
0051geschah also. Und Schnitzer nannte das Trockene Dialog und
0052die Sammlung der Wasser nannte er Text. Und er sah,
0053daß es gut war! Da ward aus Abend und Morgen der
0054erste, der andere und der dritte Act. Und Schnitzer sendete
0055den Text an Johann Strauß, auf daß er ihn componire.
0056Und Johann Strauß ließ aufgehen Gras und Kraut, lieb-
0057liche Blumen und fruchtbare Bäume, ein Jegliches nach
0058seiner Art. Und Strauß sprach: Lasset uns Melodien machen,
0059welche herrschen über Alles, was da singt und springt, pfeift
0060und geigt, die Tasten schlägt und werkelt auf Erden. Und
0061er schuf Walzer und Polkas, lustig anzuhören, und sah an
0062Alles, was er gemacht hatte; und siehe da, es war sehr gut.“


0063Kalbeck’s „Opernabende“ füllen zwei elegant ausge-
0064stattete, mit den Porträts der Componisten geschmückte
0065Bände, deren erster den deutschen Meistern gewidmet ist,
0066während der zweite sich mit Ausländern beschäftigt. Wir
0067finden hier die hervorragendsten Opern beurtheilt (nur das
0068Werk, nicht die Aufführung), welche man in den letzten
0069zwanzig Jahren im Wiener Hofoperntheater zu hören bekam.
0070Der „deutsche“ Band reicht von Gluck und Mozart bis
0071Goldmark, Brüll und Kienzl; der „ausländische“ von Che-
0072rubini bis Mascagni, Leoncavallo, Massenet, Smetana und
0073Tschaikowsky. Von Richard Wagner sind, ohne sonderliche
0074Begeisterung, die „Feen“ und „Tristan“ besprochen.*) Gegen die 
0084Mehrzahl der neuesten Opern führt Kalbeck eine recht scharfe
0085Klinge, einigen anderen naht er mit auffallend zärtlicher
0086Vorliebe, wie dem „Ritter Pazman“ von Strauß und
0087der Wüllner’schen Recitativ-Bearbeitung des „Oberon“.
0088Darüber entscheidet recht schnell die Zeit. Zu groß für ein-
0089gehende Besprechung ist leider das Register der beiden
0090Kalbeck’schen Octavbände; dem musikalisch gebildeten Leser
0091wird keiner dieser Opernabende ein verlorener sein.


0092Im selben Verlage „Harmonie“ (Berlin, 1899) sind
0093soeben Tschaikowsky’sMusikalische Erinne-
0094rungenen
“ erschienen. Mit erwartungsvoller Ungeduld griff
0095ich danach. Verdanke ich doch der „Pathetischen Symphonie“,
0096noch mehr dem „Eugen Onegin“ eine lebhafte Sympathie
0097für den Componisten, in dessen früheren Orchesterwerken
0098mich manches Rohe und Dilettantische abgestoßen hatte. Die
0099Erinnerungen“ enthalten ein autobiographisches Fragment
0100Tschaikowsky’s nebst einer Auswahl seiner für russische
0101Blätter geschriebenen Musikkritiken. In dem „Fragment“
0102erzählt Tschaikowsky von seinen Kunstreisen nach Berlin,
0103Leipzig und Hamburg; eine Schilderung seiner Erlebnisse
0104in Frankreich und Amerika ist er uns leider schuldig ge-
0105blieben. Ehrlich gestanden hat das aus Tschaikowsky’s Nach-
0106laß zusammengestellte Buch mich ein wenig enttäuscht.
0107Gerade von ihm hatte ich mehr Eigenartiges, Interessantes
0108erwartet. Ein liebenswürdiger, aufrichtiger Mensch spricht
0109allerdings aus diesen Mittheilungen. Aber nicht Alles, was
0110ein solcher seinen Freunden ausführlich erzählt, bewährt ein
0111gleiches Interesse für weitere Leserkreise. Tschaikowsky beginnt
0112mit der Schilderung seines ersten Dirigenten-Debüts in
0113Moskau (1886). Wie er, ganz ungeübt im Dirigiren, voll
0114Besorgniß den Taktstock in die Hand nahm, schließlich aber
0115Alles gut ablief. Fast dasselbe erzählt er weiter aus Peters-
0116burg und aus Leipzig, wo er ebenfalls in großen Orchester-
0117Concerten seine eigenen Werke dirigiren mußte. Auch die
0118ausgedehnte Erzählung von den Ungeschicklichkeiten und Miß-
0119griffen seines (nicht genannten) Concert-Agenten bietet heute
0120wenig Interesse. Von seinen Landsleuten, den Musikern
0121Brodski, Seloti und Friedheim, spricht er gelegentlich seines [2]
0122Leipziger Aufenthaltes mit außerordentlicher Wärme,
0123ohne jedoch deren Talente und Leistungen näher zu
0124charakterisiren. Interessant sind hingegen seine Urtheile über
0125einige berühmte Componisten. In Leipzig lernt er Brahms 
0126kennen, dessen Erscheinung ihm merkwürdigerweise „gar nicht
0127deutsch“ vorkommt, sondern „an den Typus des echten
0128Großrussen erinnert, wie man ihn besonders unter Geist-
0129lichen antrifft“. Tschaikowsky’s geringe Sympathie für die
0130Musik von Brahms ist bekannt; es scheint, daß diese
0131Empfindung gegenseitig war. „Wie alle meine musikalischen
0132Freunde in Rußland,“ schreibt Tschaikowsky, „schätze ich
0133Brahms als ehrlichen, überzeugungstreuen, energischen
0134Musiker, aber trotz allen guten Willens kann ich seine
0135Musik nicht lieben. In dieser liegt für das russische Herz
0136etwas Trockenes, Kaltes, Nebelhaftes und Abstoßendes; von
0137unserem Standpunkte aus fehlt Brahms jede melodische
0138Erfindung. Wenn man ihn hört, fragt man sich: ist Brahms 
0139in der That tief oder kokettirt er nur mit der Tiefe
0140seiner musikalischen Erfindung, um die äußerste Armuth der
0141Phantasie zu maskiren? Es dürfte schwer halten, diese Frage
0142definitiv zu entscheiden.“ Wir achten die Aufrichtigkeit von
0143Tschaikowsky’s Bekenntniß, das, fern von Dünkel und
0144Gehässigkeit, sich rein subjectiv ausspricht; daß sein Urtheil
0145uns trotzdem höchst einseitig, beschränkt und ungerecht erscheint,
0146brauchen wir unseren Lesern nicht erst zu sagen. Ueber
0147Brahms’ Charakter, seine echte Bescheidenheit, sein hilfs-
0148bereites Wirken für junge Tonkünstler spricht Tschaikowsky 
0149mit aufrichtiger Wärme. „Richard Wagner,“ erzählt Tschai-
0150kowsky, „pflegte besonders boshaft über Brahms’ Schöpfungen
0151sich zu äußern. Als man nun Brahms einmal einen neuen,
0152besonders boshaften Ausfall Wagner’s an seine Adresse
0153hinterbrachte, rief er aus: „Mein Gott, Wagner schreitet ja
0154triumphirend auf der großen Straße! Wodurch kann ich
0155ihm wol hinderlich sein oder ihn ärgern, wenn ich meinen
0156bescheidenen kleinen Fußpfad gehe, und warum kann er mich
0157nicht in Ruhe lassen, da ich gewiß niemals seinen Weg
0158kreuzen werde?“ Das ist echter Brahms!


0159Ganz anders fühlt Tschaikowsky für Edward Grieg,
0160der es verstanden habe, sich für immer die russischen Herzen
0161zu erobern. „In seiner von zarter Melancholie durchdrun-
0162genen Musik spiegeln sich gleichsam die Schönheiten der nor-
0163wegischen Natur ab, die, bald erhaben und großartig, bald
0164in Nebel verschleiert, in anspruchsloser Dürftigkeit sich zeigt, 
0165aber für die Seele des Nordländers etwas unaussprechlich
0166Reizvolles, einen verwandten Ton besitzt, der in unseren
0167Herzen einen Widerhall weckt. Es ist möglich, daß Grieg 
0168viel weniger Meisterschaft besitzt als Brahms, weniger
0169hochfliegende Pläne verfolgt und der Neigung zu bodenloser
0170Tiefe gänzlich entbehrt, aber dafür steht er uns menschlich
0171viel näher.“ Tschaikowsky ist unerschöpflich in Lobpreisungen
0172Grieg’s, denen man so ziemlich beipflichten kann, bis auf
0173die Behauptung, daß Grieg „allem Gesuchten und Gequälten
0174aus dem Wege geht.“ Im Gegentheil, auf diesem Wege
0175glauben wir ihm recht häufig zu begegnen. Allerdings dürfen
0176wir die Eigenart nationalen Geschmacks nicht zu gering
0177anschlagen. Dem skandinavischen Volke klingt Vieles keines-
0178wegs gesucht und gequält, was wir so nennen; dem Russen
0179nicht roh und lärmend, was uns so berührt; dafür
0180dürfen wir Deutsche ruhig auch die Vorwürfe ablehnen,
0181welche Russen und Norweger gegen Brahms erheben.
0182Voll Bewunderung spricht Tschaikowsky von dem Dirigenten-
0183Genie des jungen Capellmeisters Arthur Nikisch; mit
0184wärmster Anerkennung von dem glänzenden Talente
0185Busoni’s, des Componisten und Virtuosen. Gleichwol be-
0186dauert er, daß Busoni seiner Natur Gewalt anthue und
0187um jeden Preis als Deutscher erscheinen wolle. Ebenso
0188Sgambati. „Sie schämen sich Beide, Italiener zu sein,
0189fürchten, daß in ihren Compositionen auch nur ein Schatten
0190von Melodie durchleuchte, und wollen „tief“ sein nach deut-
0191scher Art.“ Tschaikowsky nennt dies eine traurige Er-
0192scheinung; überzeugt, „daß die italienische Musik nur dann
0193eine neue Blüthenperiode erleben wird, wenn ihre Vertreter
0194sich entschließen, anstatt im Widerspruch mit ihrem künst-
0195lerischen Naturell in die Reihen von Wagner, Liszt und
0196Brahms zu drängen, aus dem Innern des nationalen
0197Geistes heraus neue musikalische Anregungen zu schöpfen
0198und unter Verzicht auf die veralteten Banalitäten der
0199Dreißiger-Jahre neue Formen zu finden, die in Ueberein-
0200stimmung mit der sie umgebenden südlichen Natur sich durch
0201glänzenden Melodienreichthum und gefällige Einkleidung aus-
0202zeichnen.“


0203Von Leipzig führt uns Tschaikowsky nach Hamburg.
0204Er sonnt sich förmlich im Nachgenusse der ihm hier be-
0205reiteten Ovationen und des so freundschaftlichen Entgegen-
0206kommens vieler musikalischer Familien. Den Brahms-
0207Cultus will er nirgends so verbreitet gefunden haben, wie 
0208in Hamburg; eine Thatsache, die er einfach auf die Oppo-
0209sition der Hamburger gegen Wagner zurückführt. „Du hast
0210nun einmal die Antipathie!“ heißt es im „Faust“. Tschaikowsky 
0211folgt hierauf einer Einladung nach Berlin, wo er im
0212Concerte der „Philharmonie“ blos seine eigenen Compo-
0213sitionen dirigirt. Auch hier erfreut er sich großer Erfolge
0214und geselligen freundschaftlichen Verkehrs mit Moszkowski,
0215Sauret, Hermann Wolff und der von ihm hoch-
0216verehrten Desirée Artôt. — Von weit geringerem Inter-
0217esse als das autobiographische Fragment sind die an-
0218gefügten „Musikalischen Kritiken und
0219Feuilletons
“. Tschaikowsky hatte sich im Jahre 1871 
0220entschlossen, für die Moskauer „Russischen Nachrichten“
0221das Musikreferat zu übernehmen. Weniger aus Liebe
0222zur Sache, als um sich ein festes Einkommen zu sichern.
0223Lebte er doch damals in sehr knappen Verhältnissen. Seine
0224Urtheile über die Moskauer Aufführungen lauten oft sehr
0225scharf, besonders über die Chöre und die Mitglieder zweiten
0226Ranges der italienischen Opernsaison unter Merelli. Auch
0227das Publicum wird wegen tactlosen oder störenden Benehmens
0228häufig von ihm abgekanzelt. So lästiger und meist frucht-
0229loser Thätigkeit schnell überdrüssig, legte Tschaikowsky nach
0230vier Jahren die kritische Feder nieder. Neue Gesichtspunkte
0231oder originelle, geistreiche Ausführungen wird man schwerlich
0232finden in diesen Aufsätzen über „Don Juan“, die „Eroica“,
0233Fra Diavolo“, „Die Afrikanerin“, „Traviata“, Christine
0234Nilsson und Bülow. Betroffen innehalten mußten wir nur
0235bei dem merkwürdig knappen Urtheil über „Fidelio“: „Die
0236Musik ist hübsch, kann aber mit Beethoven’s Symphonien
0237nicht verglichen werden und steht weit hinter den Opern
0238Mozart’s zurück!“ Dann bei dem enthusiastischen
0239Ausspruch, der Es-moll-Satz in Schumann’s Vierter
0240Symphonie werde „für die zukünftigen Geschlechter
0241ein ebenso leuchtendes Denkmal des menschlichen Geistes
0242bilden, wie der Kölner Dom selbst.“ So unberechenbar
0243sind oft die Neigungen Tschaikowsky’s: dort viel zu wenig
0244für den „Fidelio“, hier viel zu viel für den Schumann’schen
0245Symphoniesatz. Erwartungsvoll trat ich an Tschaikowsky’s
0246Berichte über das Bayreuther Festspiel 1876. In zwei
0247langen vorbereitenden Feuilletons erzählt er die Entstehung
0248von Wagner’s „Nibelungenring“, beschreibt die Stadt, das
0249Festspielhaus, die namhaften Fremden, die elende Verpflegung,
0250um endlich in einem einzigen dritten Artikel die Hauptsache, [3]
0251Wagner’s Tetralogie, zu besprechen oder vielmehr sich scheu
0252herumzuwinden. Er bittet seine Leser um Entschuldigung,
0253wenn er „nur für eine ferne Zukunft“ eine kritische Erörterung
0254der Wagner’schen Schöpfung versprechen könne. „Ob
0255R. Wagner recht gethan hat, indem er im Dienst seiner
0256Idee bis zum Aeußersten gegangen ist, ob er das Princip
0257des ästhetischen Gleichgewichts vernachlässigt hat und ob die
0258Kunst noch weiter auf demselben Wege, den er als Aus-
0259gangspunkt bezeichnet, fortschreiten wird, oder ob der
0260Nibelungenring“ zugleich den Punkt bedeutet, von dem aus
0261die Reaction beginnen wird — wer wollte das heute ent-
0262scheiden?“ Tschaikowsky kommt wiederholt auf den „Zu-
0263stand vollständiger geistiger und physischer Erschöpfung“
0264zurück, die er nach den einzelnen Theilen der Tetralogie
0265empfunden, und resumirt zum Schluß, was er aus dem
0266Bayreuther Festspielhaus mit heimgenommen habe: „1. Eine
0267verwirrte Erinnerung an zahllose überraschende Schönheiten,
0268besonders symphonischer Natur. 2. Bewunderung für
0269das ungeheure Talent des Dichtercomponisten und seine
0270Technik. 3. Den Zweifel an der Richtigkeit von Wagner’s
0271Ansicht über das Wesen der Oper. 4. Das Gefühl großer
0272Ermattung, aber auch den Wunsch, das Studium dieser
0273complicirtesten aller jemals geschriebenen Musikschöpfungen
0274fortzusetzen.“ Wagner’s berühmte Bayreuther Schlußrede
0275„Sie haben nun gesehen, was wir können etc.“, stellt Tschai-
0276kowsky treffend in eine Reihe mit Ludwig’s des Vierzehnten
0277„L’état c’est moi !“ —


0278Tschaikowsky’s persönliches Verhalten zu der Musik der
0279berühmten Meister erhellt aus seinen Feuilletons nur sehr
0280unvollständig. Mehr darüber erfahren wir von seinem
0281intimen Freunde, dem ausgezeichneten Musikgelehrten und
0282Kritiker Herrn Laroche in Moskau, demselben, dem ich
0283für seine Uebersetzung des „Musikalisch-Schönen“ ins Rus-
0284sische verpflichtet bin. Tschaikowsky’s Hauptgottheit, erzählt
0285Laroche, war und blieb Mozart, mit dem er Zeit seines
0286Lebens sich gründlich nach allen Seiten hin beschäftigte.
0287Bach und Händel stand er ganz fremd gegenüber. Bach’s 
0288Fugen spielte er wol zuweilen für sich auf dem Clavier, die
0289Cantaten aber und die großen Vocal-Compositionen nannte
0290er eine classische Quälerei. Händel konnte er absolut
0291nicht leiden. (Wer denkt da nicht an Spohr’s Antwort
0292zu den Herren vom Bach-Denkmal-Comité: „Ich weiß nur
0293Einen Componisten, der mir noch unangenehmer ist als 
0294Bach: das ist Händel!“) Merkwürdigerweise gehörte zu
0295Tschaikowsky’s Antipathien auch Chopin. Vielleicht weil
0296er unbewußt selbst mit Chopin manche Aehnlichkeit hatte.
0297In seiner Jugend schwärmte er sehr für die italienische
0298Oper, für Rossini und Verdi, liebte auch das italienische
0299Volk und die italienische Sprache. Von einem dreijährigen
0300Aufenthalte in Italien datirt sein Italienisches Capriccio 
0301und die Orchester-Phantasie über italienische Volks-
0302melodien. Bei den Concerten, welche R. Wagner 
03031863 in Petersburg gab, blieb Tschaikowsky kühl und
0304skeptisch; besonders das allgemein bejubelte Vorspiel
0305zu „Lohengrin“ machte auf ihn gar keinen Eindruck. Gegen
0306Laroche machte er auch kein Hehl daraus, wie wenig ihm die
0307Nibelungen“ gefielen. In Bayreuth befand er sich aber in
0308einer Gesellschaft, wo er nichts gegen Wagner äußern durfte;
0309besonders Professor Klindworth vom Moskauer Conser-
0310vatorium, einer der heftigsten Wagnerianer, wich nicht von
0311seiner Seite. Erst im Jahre 1886 lernte er „Parzifal“ aus
0312dem Clavierauszug kennen und war von der Schlußscene
0313des ersten Actes entzückt. Von dieser Zeit an zeigen sich
0314sogar gewisse Wagner’sche Einflüsse auf seine eigenen Com-
0315positionen, obwol er Wagner’s Operntheorie nicht anerkannte
0316und bis zu seinem Lebensende Opern mit Arien, Duetten,
0317Chören und Balletten schrieb. Gegen Gounod war er
0318anfangs sehr kühl gestimmt, wurde aber später, unter dem
0319Einfluß der Artôt, ein warmer Verehrer des „Faust“
0320und des „Romeo“. Umgekehrt erging es ihm mit Schu-
0321mann
, der einen tiefen Eindruck auf Tschaikowsky hervor-
0322gebracht hatte, später jedoch an ihm einen viel kühleren
0323Beurtheiler fand. Ueber Tschaikowsky’s Verhalten zu
0324Beethoven gibt uns Laroche folgenden merkwürdigen
0325Aufschluß: „Im Allgemeinen hegte er für Beethoven große
0326Ehrfurcht, die freilich sehr verschieden war von der schwär-
0327merischen Liebe, die er für Mozart empfand. In seinen
0328schriftlichen Aeußerungen über Beethoven war er sehr vor-
0329sichtig und farblos, da er es nicht liebte, durch öffentliche
0330Aussprache seiner geheimen Gedanken eine Polemik heraus-
0331zufordern.“


0332Tschaikowsky starb am 25. October 1893 nach zwei-
0333tägigem Krankenlager, erst 53 Jahre alt. Seit Turgenjew’s
0334und Dostojewski’s Hinscheiden hatte Petersburg kein so
0335prunkvolles Begräbniß gesehen und keine so allgemeine Trauer.
0336(Ein Schlußartikel folgt.)

Fußnoten
  • *)Von Wagner’s „Tristan“-Dichtung schreibt Kalbeck: „Daß
    das unförmige, von Absurditäten trotzende Textgedicht zu „Tristan“,
    in welchem die deutsche Sprache vorne mit Stäben klappert und
    hinten mit Vocalreimen klingelt, auch seine verborgenen Schönheiten
    besitzt; mag wohl sein; wir sind nicht so glücklich gewesen, sie zu
    finden. Von der bloßen Lectüre bekommt man blaue Flecken. Auch
    wollen diese Verse nicht gelesen, sondern gesungen werden, wodurch
    sie wesentlich gewinnen, da man immer erst das zehnte Wort
    versteht.“