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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 12635. Wien, Mittwoch, den 25. October 1899

[1]

Der Dämon.“

(Oper in drei Acten, nach Lermontow’s gleichnamigem Gedicht, von Anton Rubinstein.)


0003Ed. H. Ein Dämon in Verbannung schwebte /
0004Betrübt zur sünd’gen Erde hin, /
0005Und bess’rer Zeit Erinn’rung lebte /
0006In Fülle auf vor seinem Sinn. /


0007So lauten die ersten Verse von Lermontow’s poetischer
0008Erzählung, dem Urbild der Rubinstein’schen Oper. Und
0009ganz ähnlich die Anfangsworte, mit denen bei Robert
0010Schumann „die Peri schmerzbefangen“ auftritt. Also hier
0011wie dort eine märchenhafte Phantasiegestalt als treibender
0012Mittelpunkt der Handlung; nicht göttlich und doch unsterb-
0013lich, nicht menschlich und doch erfüllt von menschlichen Be-
0014gierden und Qualen. Die Peri und der Dämon, Beide
0015sind sie „um eines Fehltrittes willen“ aus dem Paradies
0016verstoßen; jene sanft, duldend, dem Guten zugewendet;
0017dieser trotzig, empört, ein Geist der Verwüstung und Ver-
0018nichtung. Solchem Fabelwesen öffnet sich leichter die epische
0019als die dramatische Form, entspricht besser die Cantate als
0020die Oper. Darum hat auch Schumann weiser gehandelt als
0021Rubinstein.


0022Für eine dreiactige Oper bietet Lermontow’s Gedicht 
0023nur sehr dürftigen Stoff. Rubinstein hat ihn durch Einfüh-
0024rung volksthümlicher Tänze und Lieder aufgeschmückt, auch
0025(mit weniger Glück) dramatisch zu erweitern gesucht. Die
0026Einleitungsscene bringt symbolisch den Kampf des bösen
0027mit dem guten Princip zur Anschauung: der Dämon wehrt
0028sich höhnend gegen den mahnenden Engel des Lichtes. Aus
0029der stürmischen Gespensternacht gelangen wir plötzlich in
0030sonnige Landschaft und heiteres Menschentreiben. Tamara,
0031die Tochter des kaukasischen Fürsten Gudal, schreitet von der
0032Burg zum Fluß herab, wo ihre Mägde Wasser schöpfen. Der
0033Dämon, entzückt von ihrem Anblick, nähert sich ihr, allen Uebrigen 
0034unsichtbar, und behaucht ihr argloses Herz mit berückenden
0035Schmeichelworten. Wieder wechselt die Scene. Wald, Abend-
0036dämmerung. Fürst Sinodal, Tamara’s Verlobter, kommt mit
0037seinem Gefolge angeritten; er rastet, um bei Tagesanbruch
0038die Reise zu seiner Braut fortzusetzen. Der Dämon, der ihm auf-
0039gelauert, läßt die Karawane durch Tataren überfallen, und Sino-
0040dal fällt im Kampfe. Der zweite Act beginnt mit den Hochzeits-
0041vorbereitungen in Gudal’s Schloß. Aber Gesang und Tanz
0042finden da ein jähes Ende: unter den dumpfen Klängen
0043eines Trauermarsches bringt man die Leiche des ermordeten
0044Bräutigams. Auch durch diesen Jammer dringt die
0045schmeichelnde Stimme des Dämons immer verführerischer
0046an Tamara’s Ohr. Verwirrt, aufs heftigste erschüttert, fleht
0047sie zu ihrem Vater, sie ins Kloster ziehen zu lassen. Dort
0048in ihrer Zelle finden wir sie als Nonne zu Anfang des
0049dritten Actes. Wieder naht ihr der Versucher und gewinnt
0050endlich Macht über sie. Als Tamara, seinen Verlockungen
0051kaum mehr widerstehend, von seinem Kuß berührt wird, er-
0052scheint der Engel des Lichtes. Tamara sinkt entseelt zu
0053Boden und wird von Engeln zum Himmel emporgetragen.
0054Der Dämon versinkt mit einem Fluche auf den Lippen.


0055In der incommensurablen Figur des Dämons stellte
0056sich dem Componisten die größte Schwierigkeit entgegen.
0057Welche Aufgabe, ihn dramatisch und musikalisch überzeugend
0058zu machen! Ein Teufel, haßerfüllt, verderbenbringend und
0059dabei unwiderstehlich bezaubernd; ein Unsterblicher und doch
0060zum Sterben verliebt! Nachdem er „jahrtausendelang“ die
0061Menschen verflucht und vernichtet hat, sinkt er plötzlich einem
0062jungen Mädchen schmachtend zu Füßen. Er bewegt uns
0063nicht zu sympathischem Mitgefühl wie die sagenhaften Ge-
0064stalten Hans Heiling oder der Holländer; nein, er ist das
0065absolut Böse. Das wird uns noch recht absichtsvoll durch
0066die wiederholte Erscheinung des ihn bekämpfenden Engels,
0067des absolut Guten, eingeprägt. Die Widersprüche, welche
0068der Held unserer Oper in sich vereinigt, sind nicht zu lösen.
0069Für ein so unberechenbares, zwiespältiges Fabelwesen gibt
0070es keine Psychologie, keinen moralischen Werthmesser,
0071keine logische Motivirung. Vollends auf der Bühne,
0072wo wir sehen wollen, was wir glauben, und nur
0073glauben, was wir sehen. Der Charakter des „Dämon“ 
0074widerstrebt der festen Form; sie zerbröckelt, ob er nun
0075seinen diabolischen Trotz uns zukehrt oder seine irdische
0076Liebessehnsucht. So läßt uns denn Beides im Grunde gleich-
0077giltig. Mit Recht suchte Rubinstein’s Textdichter in der Ge-
0078stalt des Dämon das Große, Titanische zu betonen, nach
0079dem Vorgang Lermontow’s. Dieser hat seinerseits wieder
0080den Lucifer in Byron’s „Kain“ zum Vorbild genommen.
0081Byron faßt den Lucifer (wortgetreu) als Lichtbringer, als
0082den stolzen, unbeugsamen Geist der Kritik, ja den Geist der
0083Freiheit auf. In diesen genialen Dichtungen eine imposante,
0084unbegreifliche Macht, kann der „Dämon“ in der Oper kaum
0085mehr werden als eine — dankbare Baritonpartie. Und das
0086ist er bei Rubinstein immerhin geworden; wenngleich er als
0087Liebhaber nicht die ergreifenden Töne Hans Heiling’s findet,
0088noch als Dämon die geheimnißvollen des Fliegenden Hol-
0089länders.


0090Der Train, mit welchem Rubinstein’s „Dämon“ in
0091Wien angelangt ist, hat eine arge Verspätung. 24 Jahre
0092sind verflossen, seit Rubinstein bald nach der ersten Peters-
0093burger Aufführung seines „Dämon“ (1875) nach Wien kam
0094und seinen Freund Mosenthal ersuchte, das Stück für
0095unsere Hofoper zu bearbeiten. Mosenthal konnte sich mit
0096dem „Dämon“ nimmermehr befreunden. Nachdem er das
0097Ding von allen Seiten betrachtet und gewendet hatte, lehnte
0098er die Arbeit ab, überzeugt, das Sujet des „Dämon“ sei
0099vor dem Wiener Publicum unmöglich. Und doch stand Rubin-
0100stein damals in der Blüthe seines Ruhmes und seiner Kraft.
0101Er genoß gerade in Wien eine enthusiastische Verehrung als
0102Mensch und als — Clavierspieler. Nur seine Opern ver-
0103mochten in Wien niemals durchzudringen. Allerdings wirkte die
0104persönliche Sympathie für Rubinstein so stark, daß jede Opern-
0105Première, die er selbst dirigirte, eine glänzende Aufnahme fand.
0106Sobald er aber Wien den Rücken gekehrt hatte, that das
0107Publicum sofort dasselbe gegen seine Opern. Sowol die
0108Kinder der Haide“, wie „Feramors“ — meines Erachtens
0109seine relativ erfindungsreichsten — wanderten nach wenigen
0110Aufführungen ins Archiv. „Mir ist die Oper eine unter-
0111geordnete Gattung in unserer Kunst,“ schreibt Rubinstein 
0112in seinem belangten Büchlein. Trotzdem drängt es ihn
0113immer wieder dazu. Das Theater war so recht sein ver[2]-
0114lockender Dämon. Es folgten auf „Feramors“ „Die Makka-
0115bäer“, endlich „Nero“, zwei niederdrückend monotone,
0116dramatisch wie musikalisch flügellahme Werke. Den „Nero“
0117hielt Rubinstein selbst für seine beste Oper. Sie ist es nicht
0118und konnte es nicht sein, weil ihr jene einzige Kraft fehlt,
0119die seine früheren Opern theilweise gerettet hatte: das
0120russisch-orientalische Element. Den Römern konnte Rubin-
0121stein doch unmöglich moskowitische Volksmelodien zumuthen.


0122Den „Dämon“ schätze ich unbedingt höher, als die
0123Makkabäer“ und den „Nero“. Es steckt darin mehr musi-
0124kalische Erfindung, mehr Farbe und Natürlichkeit, als in
0125jenen beiden weit größer und anspruchsvoller angelegten
0126Opern. Was dem „Dämon“ diesen Vorzug schafft, ist eben
0127der nationale russische Musikgeist. Die am Kaukasus spie-
0128lende Handlung bietet in den zwei ersten Acten solchen Me-
0129lodien ungezwungenen Eingang. Vorher müssen wir uns
0130freilich durch das lange Vorspiel durcharbeiten, in welchem
0131unsichtbare gute und böse Geister, Chöre der Gewässer, der
0132Bäume und Winde ihr redselig Wesen treiben, um endlich
0133dem Dämon und dem Engel das Wort zur Disputation
0134abzutreten. Für dergleichen Scenen hat Rubinstein bereits in
0135seinem „Verlorenen Paradies“ sich einen bequemen geistlich-welt-
0136lichen Ton zurechtgemacht, der in seiner stylisirten Farblosigkeit
0137jedenfalls dem Oratorium besser entspricht als der Oper.
0138Hier erwarten wir stärkere, individuellere Charakteristik. Auf
0139der Bühne lohnt es sich schlecht, einen Engel singen zu lassen
0140oder einen Teufel; beide bleiben conventionell oder werden
0141lächerlich. Nach diesem nächtlichen Geistervorspiel beginnt mit
0142der aufgehenden Sonne auch die Musik zu leuchten und zu
0143wärmen. Wie hübsch ist gleich der einleitende Chor der
0144Mädchen beim Wasserschöpfen, dann das Lied Tamara’s,
0145endlich die Ballade der Amme mit dem tactweise wieder-
0146kehrenden Refrain im Orchester! Gegen diese liebenswürdige
0147Seite des Volksthümlichen contrastirt effectvoll die schwerfällig
0148melancholische der folgenden Scene: Chor der im Wald lagern-
0149den Karawane. Innig, sehnsuchtsvoll, dabei durch eine pikante
0150Rhythmik gewürzt, klingt die As-dur-Cantilene des Fürsten.
0151Es folgt der Männerchor in Es-moll „Finstere Nacht“, den
0152wieder die süße Melodie des Fürsten „Winde gehorchet
0153mir!“ schmeichelnd ablöst. Diese ganze nächtliche Waldscene 
0154erfüllt ein einheitliches, durchaus stimmungsvolles Bild,
0155welchem wir einige Längen gerne nachsehen. Den zweiten
0156Act eröffnet eine reizende Balletmusik von national-russischem
0157Charakter. Nach diesem Höhenpunkt der Partitur geht es
0158aber zusehends abwärts. Die Chormassen schwellen an, aber
0159die Erfindung ist ausgetrocknet. Ermüdend schleppt sich das
0160breite Ensemble in H-moll („O du Geliebter“) vorwärts,
0161in banalen Phrasen das Geständniß des Dämon „Ohne
0162Segel“. Wie längst bekannt, klingt Tamara’s Gesang
0163„O Gott, wie leidet meine Seele“, und endlich der Chor
0164„Ruh’ im Kloster!“ Da hat den Componisten, wie so oft in
0165seinen größeren Tonwerken, plötzlich die Inspiration verlassen;
0166er behilft sich mit Hergebrachten, „Altbewährtem“ und scheint
0167es kaum zu merken. Wohlklang herrscht allerdings in diesen
0168Chören und Finales — ein leerer Wohlklang, den kein
0169individueller Geist erfüllt. Der Act schließt im Original mit
0170einem Chorfinale: nachdem Tamara den Weg zum Kloster
0171angetreten, erhebt sich der alte Fürst mit seinen kampflustigen
0172Vasallen, um blutige Rache an dem Mörder Sinodal’s zu
0173nehmen. Wer dieser Mörder gewesen und wo er zu finden
0174sei, davon hat er freilich keine Ahnung. Offenbar empfand
0175hier Rubinstein das Bedürfniß, die stockende Handlung zu
0176beleben und den Act mit einem leidenschaftlichen Chor zu
0177schließen. Von Director Mahler ist diese Schlußscene gänzlich
0178gestrichen. Mit Recht; der nichtssagende Lärm dieses Finales
0179zerstört die poetische Wirkung von Tamara’s Abschied, an-
0180statt sie zu steigern. Auch für zahlreiche kleinere Striche,
0181mit welchen Mahler lästige Wiederholungen des red-
0182seligen Componisten beseitigt hat, sind wir ihm auf-
0183richtig dankbar. Wir wünschten ihrer noch viel mehr.
0184Am meisten im dritten Act, dessen musikalischen Wolken-
0185schleier ein einziges holdes Sternlein erleuchtet: Tamara’s
0186schlichtes Lied in E-moll „Ach, wie schwül ist die Nacht“.
0187Voraus geht eine neuerliche Disputation zwischen dem mah-
0188nenden Engel und dem störrigen Dämon, die uns und den
0189beiden Geistern nichts Neues bringt. Im Uebrigen ist der
0190ganze dritte Act ein ermüdend langwieriges Duett zwischen
0191dem bedrängenden Dämon und der immer zurückweichenden
0192Tamara. Ein peinliches Hin- und Herzerren, dessen Wir-
0193kung nicht durch den musikalischen Gedanken, sondern lediglich 
0194durch die materielle Wucht des Orchesters und die unbarm-
0195herzige Anstrengung der Singstimmen erreicht wird.


0196Der Erfolg der Oper ergab sich günstiger, als ich bei
0197der Fremdartigkeit des Stoffes und der Ungleichheit der
0198Composition erwartet hatte. Am schönsten wirkten (wie bei
0199allen Rubinstein’schen Opern) die nationalen Musikstücke;
0200sämmtliche Scenen, in welchen das musikalische Interesse
0201mit dem ethnographischen verbunden oder, richtiger, daran 
0202gebunden erscheint. Keine Frage, daß wir die reizendsten
0203Stücke seiner Opern weniger der individuellen Erfindung
0204Rubinstein’s verdanken als der musikalischen Urkraft seines
0205Volksstammes. Daß auch der dritte Act stellenweise nicht
0206ohne starken Eindruck blieb, ist zur guten Hälfte das Ver-
0207dienst von Fräulein v. Mildenburg (Tamara) und
0208Herrn Reichmann. In der Tamara-Rolle herrscht ein
0209musikalischer Zwiespalt: anfangs eine zierliche Coloratur-
0210Partie, wächst sie in den folgenden Acten zur entschieden
0211hochdramatischen, tragischen Heldin. Fräulein v. Mildenburg 
0212erfüllte in überraschender Weise beide, so selten vereinte
0213Anforderungen. Sie brachte Trillerketten, hochliegende
0214Passagen und eine vom hohen B durch anderthalb Octaven
0215rasch herabgleitende chromatische Scala im ersten Act mit
0216einer sicheren Leichtigkeit, die unserer Brünnhilde und Isolde 
0217Niemand zugetraut hätte. Noch weit bedeutender, ja hin-
0218reißend entfaltete sich ihr Talent im zweiten und dritten Act.
0219Da wirkten Stimme und Persönlichkeit der Sängerin,
0220starkes Empfinden und durchgebildete dramatische Kunst zu
0221ergreifender Wirkung zusammen. Herr Reichmann hat
0222seinem berühmten Geistertrio: Holländer, Vampyr und
0223Hans Heiling, eine vierte ebenbürtige Gestalt, seinen
0224Dämon, angereiht. Die Rolle, kaum weniger schwierig
0225und doch undankbarer als Tamara, bedeutet einen neuen
0226großen Erfolg Reichmann’s. Neben Tamara und dem
0227Dämon treten alle übrigen Rollen stark zurück. Um so höher
0228anzuschlagen sind der künstlerische Ernst und Eifer, mit welchen
0229die Damen Kaulich und Walker, die Herren Naval,
0230Hesch, Grengg und Pacal ihre Aufgaben lösten.
0231Die ganze (von Mahler dirigirte) Vorstellung des
0232Dämon“ ist bewunderungswürdig von einem Ende bis
0233zum andern.