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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 12683. Wien, Dienstag, den 12. December 1899

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Lucifer“, Oratorium von Peter Benoit.


0002Ed. H. Als im Juli 1880 Brüssel das fünfzigjährige
0003Jubiläum der belgischen Unabhängigkeit feierte, stand obenan
0004unter den musikalischen Festlichkeiten ein Oratorium von
0005Peter BenoitDe Oorlog“ (der Krieg). Ich schämte
0006mich ein wenig, den Namen dieses Componisten nie zuvor
0007gehört zu haben, der rings um mich her mit Stolz und
0008Begeisterung genannt wurde. Aehnlich mag es den meisten
0009Wienern ergangen sein, als sie am letzten Concertsonntag
0010ein Oratorium „Lucifer“ von Benoit angezeigt lasen.
0011Vielleicht kann meine ältere Bekanntschaft Einiges beitragen
0012zur Orientirung über das neue Werk und seinen Autor.


0013Die Aufführung von Benoit’s „Oorlog“ fand in
0014Brüssel in dem schattigen „Parc Leopold“ statt, wo für
0015diesen Zweck ein weitläufiger, an 6000 Personen fassender
0016Holzbau errichtet war. Auf dem Podium stand eine impo-
0017sante Sänger- und Musikerschaar von 800 bis 1000 Köpfen.
0018Peter Benoit dirigirte. Eine herkulische Gestalt mit etwas
0019breitgezogenem, aber ausdrucksvollem Gesicht, das unter dem
0020langen, glatt herabfallenden Haar gar kühn dreinschaute. So
0021mochten wir uns einen streitbaren vlämischen Volkstribun,
0022etwa Jacob van Artevelde, vorstellen. Halb Antwerpen 
0023(der Hauptsitz der vlämischen Bewegung und Wohnort des
0024Componisten) war im Concertsaale mitwirkend oder zu-
0025hörend versammelt, der Beifall enthusiastisch, vom Patrio-
0026tismus förmlich erhitzt. Benoit’s „Oorlog“ schildert den
0027Krieg; nicht einen vlämischen, sondern einen ganz abstracten
0028Krieg, den Krieg an und für sich. Der Poet (van Beers)
0029hatte es leider verschmäht, seinem Gedicht irgend einen be-
0030stimmten localen oder historischen Hintergrund zu geben. Anstatt
0031ein so realistisches Ding wie der Krieg durch reale Kräfte vor uns
0032entstehen und bezwingen zu lassen, umgibt uns der Poet mit
0033Armeen von Erdgeistern, Lichtgeistern, Spottgeistern und 
0034dergleichen altmodischem Pack. Dieser geschmacklosen Chimären
0035bedarf es wahrlich nicht, um die Schrecken des Krieges noch
0036zu erhöhen. Der erste Theil des „Oorlog“ feiert den Früh-
0037ling; mit geschickter Tonmalerei, ohne rechte Frühlings-
0038stimmung. Im zweiten Theil bereitet sich der Krieg vor.
0039Der Spottgeist verhöhnt die Ueberhebung des sich mächtig
0040dünkenden Menschen; er entsendet gegen sie seine Dämone
0041Eifersucht und Mißtrauen. Der Friede entflieht. Nun
0042entfesselt der dritte Theil alle Gräuel des Krieges;
0043Schlachtenmalerei in großem Styl und grellsten
0044Farben. Vergebliche Hoffnung, es werde wenigstens der
0045vierte und letzte Theil uns von diesem Alp des Entsetzlichen
0046befreien. Neues Hohngelächter des Spottgeistes. Leichenraub
0047auf dem Schlachtfeld, Röcheln der Verwundeten und so fort,
0048bis endlich, ganz zuletzt, ein Engelchor mit der Verheißung
0049„ewigen Friedens“, dem Gräuel ein Ende macht. Der
0050Oorlog“, dauerte von 2 bis 6 Uhr und hat mich trotz
0051einzelner Schönheiten mit einem peinlichen Eindruck entlassen.
0052Es herrscht darin eine Maßlosigkeit und Uebertreibung, die
0053Einem jede Freude an dem unleugbaren Talente des Com-
0054ponisten verdirbt.


0055Das jetzt in Wien gehörte Oratorium „Lucifer“,
0056bereits vor 33 Jahren in Brüssel aufgeführt, ist trotzdem
0057außerhalb Belgiens so wenig wie der „Oorlog“ populär
0058geworden. In keiner Wiener Musikhandlung war meines
0059Wissens ein Exemplar des „Lucifer“ aufzutreiben. „Peter“
0060(nicht mehr Pierre) Benoit, der angesehenste Componist in
0061Belgien, Gründer und Director des Conservatoriums in
0062Antwerpen und musikalisches Haupt der vlämischen Bewegung,
0063ist in Deutschland kaum dem Namen nach bekannt. Hingegen
0064feiern ihn seine vlämischen Landsleute mit jenem Enthusias-
0065mus, welcher „interessanten Nationalitäten“, d. h. solchen,
0066die in der Culturwelt sich erst durchsetzen müssen, allüberall
0067eignet. In hochgesteigertem nationalen Selbstgefühl ver-
0068schmäht es Benoit, seinen Oratorien und Opern eine
0069deutsche, französische oder italienische Uebersetzung, sei es
0070auch nur auf dem Titelblatt, beizufügen, und so blieben
0071denn seine Werke bislang auf den engen Kreis der Lands-
0072mannschaft beschränkt. Wenn es dem Componisten recht ist,
0073der musikalischen Welt unbekannt zu bleiben, so hat er ja 
0074recht. Die Wogen des nationalen Enthusiasmus machen
0075aber merkwürdigerweise immer vor den Thüren der Ver-
0076leger Halt; diese fürchten, die großen Kosten nicht herein-
0077zubekommen von dem relativ kleinen „nationalen“ Publicum.
0078Benoit’s Oratorien „Lucifer“ und „Der Krieg“ mußten
0079eine gute Weile warten, ehe sie im Stiche erschienen.


0080Wahrscheinlich hätten wir auch jetzt, nach dreiunddreißig
0081Jahren, den „Lucifer“ in Wien nicht zu hören bekommen,
0082wäre nicht vor Kurzem der verdienstvolle Düsseldorfer
0083Musikdirector Julius Buths mit einer deutschen Ueber-
0084setzung dieses Oratoriums hervorgetreten. Nun erst kann,
0085allerdings etwas spät, der Componist Benoit zu unserer
0086Kenntniß gelangen. Nationale Engherzigkeit hat das bisher
0087verhindert. Wir haben ja ähnliche Beispiele in nächster
0088Nähe. Wer kennt außerhalb der Mauern Prags die zahl-
0089reichen czechischen Opern und Gesänge, die dort mit Beifall
0090gegeben und mit Verachtung jeder Uebersetzung gedruckt
0091worden sind? Wer kennt selbst von Dvořak — heute,
0092Dank seinem Berliner Verleger, eine europäische Berühmt-
0093heit — seine früheren, nur mit czechischem Text und Titel
0094in Prag erschienenen Werke, wie die reizenden „Duette aus
0095Mähren“? Noch schlimmer steht es um die russischen 
0096Opern, deren Text wir nicht verstehen, ja der cyrillischen
0097Lettern wegen nicht einmal buchstabiren können. Von
0098Glinka und Tschaikowsky sind nur jene Opern
0099über Rußland hinausgedrungen, die, wie „Das Leben für
0100den Czar“ und „Eugen Onegin“, eine deutsche oder fran-
0101zösische Uebersetzung aufweisen. Das Gleiche gilt von den
0102Opern Smetana’s und Dvořak’s.


0103Benoit’s „Lucifer“ ist ein bescheideneres Seitenstück
0104zum „Oorlog“; nicht so farbenreich und wechselvoll, weniger
0105lang und etwas weniger langweilig. Es schildert den „Kampf
0106des Lichtes mit der Finsterniß“. Vortreffliches Thema für
0107eine Predigt oder ein Erbauungsbuch, aber als bloße
0108Allegorie doch etwas dürftig für ein großes Concert. Ein
0109dreitheiliges Oratorium, in welchem gar keine Menschen auf-
0110treten, sondern nur Engel und Teufel, berührt uns moderne
0111Sterbliche gar fremdartig. In Haydn’s „Schöpfung“ und
0112Rubinstein’s „Paradies“ präsentiren sich wenigstens im
0113dritten Theil Adam und Eva als Verlobte. Was Rubin[2]-
0114stein in der einleitenden ersten Scene seines „Dämon“
0115schildert, ist bei Benoit zu einem ganzen Oratorium
0116ausgestreckt. Da bleibt von Anfang bis zu Ende der Satan 
0117die einzige handelnde Person; Alles um ihn her ist Chor,
0118nur von wenigen Solostellen unterbrochen. Das wirkt auf
0119die Länge ermüdend; der Text bietet keine Abwechslung,
0120sogar die Disposition der drei Theile bleibt die gleiche. Im
0121ersten Theile commandirt Lucifer die Elemente: „Auf, Geist
0122der Erde! Auf, Geist des Wassers! Auf, Geist des Feuers!“
0123Sie sollen die Menschen zur Empörung gegen Gott an-
0124treiben. Im zweiten ruft er abermals: „Erde, Feuer,
0125Wasser!“ Die Gerufenen erscheinen und melden, daß sie
0126nichts ausgerichtet haben. Den dritten Theil eröffnet Lucifer,
0127ohne die geringste Besorgniß, langweilig zu werden,
0128abermals mit dem Aufrufe: „Erde, thürm’ Berge!
0129Wasser, spei’ Ströme! Feuer, dem Schlund entsteig’!“
0130Statt des anbefohlenen Vernichtungsspectakels ertönt aber
0131ein frommer Chor: „Hosianna! Gott dem Herrn die Ehre!“
0132Der Satan ist besiegt, wie jeder gläubige Christ von allem
0133Anfang gewußt hat, also jetzt ohne besondere Ueberraschung
0134von den jubilirenden Engeln erfährt. Das ist der vollstän-
0135dige Inhalt des Gedichtes, das sich durch eine bewunde-
0136rungswürdige Dunkelheit der Diction bei allereinfachstem
0137Inhalt hervorthut. Keine Frage, daß diese traurige Eintönig-
0138keit des Poëms auf die Phantasie des Componisten drücken
0139mußte. Ueberraschende Contraste, leuchtende Farben, sinn-
0140licher Reiz waren hier fast ausgeschlossen. Zu der gewissen-
0141haftesten Treue gegen diese undankbare Dichtung gesellt sich
0142bei Benoit auch noch die Neigung häufiger Wiederholungen
0143bei übermäßiger Ausdehnung der einzelnen Musikstücke.
0144Trotzdem erfüllt uns Benoit’s strenge künstlerische Ueber-
0145zeugung und bedeutendes Können mit aufrichtiger Hoch-
0146achtung. Als Meister beherrscht er die musikalische Form,
0147das Orchester und den Gesang. Als besten Vorzug seines
0148Werkes empfinden wir den Wohlklang und Vollklang seiner
0149Chöre. Da ist Alles stimmgemäß und chorgemäß gedacht.
0150Ebenso schön klingen die Solo-Quartette. Mit melodischen
0151Blüthen wirthschaftet Lucifer sehr sparsam, und die wenigen
0152hervorstechenden wird man schwerlich originell finden. Am an-
0153sprechendsten wirkte das zarte Tenor-Solo in A-dur und das 
0154Frauenduett in H-moll. Beides in der zweiten Abtheilung,
0155die überhaupt am meisten Frische athmet. Was wir an Be-
0156noit vermissen, ist das scharfe Gepräge der Persönlichkeit,
0157die Ursprünglichkeit der Erfindung. Er mahnt oft nach-
0158drücklich an Schumann und Mendelssohn, mitunter auch an
0159Weber und Marschner, deren stärkster Einfluß ja in die
0160empfänglichsten Jugendjahre des jetzt 66jährigen Componisten
0161fällt. Was die Zuhörer wol am begierigsten erwarten mochten,
0162der national-vlämische Charakter zeigt sich am allerwenigsten.
0163Ich konnte davon im „Lucifer“ ebenso wenig entdecken, als
0164früher im „Oorlog“. Einzelne Chöre von anderen belgischen
0165Componisten schienen mir die eigenthümliche Topographie
0166Brüssels widerzuspiegeln: die aristokratische Obere Stadt
0167französisch, die bürgerliche Untere vlämisch. In Benoit’s
0168Musik hört man weder Französisch noch Vlämisch; sie ist
0169oben und unten Deutsch.


0170In unserem Gesellschaftsconcert wurde „Lucifer“ mit
0171großer Aufmerksamkeit gehört und achtungsvoll, ohne beson-
0172deren Enthusiasmus, aufgenommen. Aufrichtigen, warmen
0173Beifall fand das von Herrn Naval reizend vorgetragene
0174Tenor-Solo und das Duett der harmonisch zusammenstim-
0175menden Sängerinnen Fräulein Katzmayer und Frau
0176Körner. Um die Baß- und Bariton-Soli haben die
0177Herren Hermann Gura und Karl Musch sich ver-
0178dient gemacht. Die Chöre waren exact studirt und
0179klangen prachtvoll. Obgleich das Oratorium einen glän-
0180zenden Erfolg nicht erzielte, sind wir doch für
0181dessen Bekanntschaft dankbar. Die Auswahl von
0182neuer Oratorien-Musik, die ein großer Chorverein neben
0183den classischen Werken doch nicht entbehren kann, wird seit
0184Decennien immer geringer. Director Perger hat uns all-
0185mälig mit dem Besten oder wenigstens Renommirtesten
0186bekannt gemacht, was moderne Componisten in diesem Fach
0187geleistet: „Die Seligkeiten“ von Cesar Franck, „Franciscus“
0188von E. Tinel, „Eva“ von Massenet, „Die heilige Ludmilla“
0189von Dvořak und jetzt „Lucifer“. Der alte Peter Benoit ist
0190ein interessanter Charakterkopf, die erste Notabilität in seinem
0191Vaterland, ja bereits eine musikhistorische Persönlichkeit, von
0192der es sich geziemte, endlich auch in Oesterreich einmal Notiz
0193zu nehmen.