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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 13033. Wien, Dienstag, den 4. December 1900

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Concerte.


0002Ed. H. Kein geringes Pensum für unsern Director
0003Mahler, acht Philharmonische Concerte mit fesselnden und
0004werthvollen Novitäten auszustatten. Die symphonische Pro-
0005duction wirft nur mehr schwache Wellen und zieht enge
0006Kreise. Deutschland, das früher fast allein die Orchester-
0007programme versorgt hat, steht seit etwa vierzig Jahren
0008darin zurück. Wir sind stark angewiesen auf russische,
0009czechische, skandinavische Hilfe. Die romanischen Länder, mit
0010ihrem Schwerpunkt in der Oper ruhend, zählen im Orchester-
0011concert fast gar nicht mit; für Italien ist sogar das „fast“
0012zu viel. Was das heutige junge Frankreich an symphonischen
0013Werken liefert, hat die Propaganda von Rabaud und
0014d’Olonne uns als ziemlich ungenießbar vorgestellt. Die fran-
0015zösische Orchester-Novität des letzten Philharmonischen Con-
0016certes von César Frank ist zwanzig Jahre alt, ebenso
0017Smetana’s Vorspiel zu der czechischen National-Oper
0018Libussa“.


0019Das imposante Vorspiel zur „Libussa“ läßt sich, abgetrennt
0020von der hier unbekannten Oper, kaum gebührend würdigen.
0021Es ist auf den drei Grundmotiven der Oper aufgebaut: dem
0022„Gerichtsruf“ und den Leitmotiven der Libussa und des
0023Premysl. Die ausgiebige Verwendung von Leitmotiven
0024das ganze „Musikdrama“ hindurch, sowie dessen ungewöhn-
0025liche Länge bezeugen den entscheidenden Einfluß Wagner’s
0026und damit die auffallende Abkehr Smetana’s von seinem
0027früheren Opernstyl. Der Componist selbst schätzte „Libussa“
0028als sein bestes Werk. Trotzdem hat dasselbe gar
0029keine Verbreitung gefunden, während die „Verkaufte Braut“
0030mit ihrer bezwingenden Natürlichkeit und nationalen Eigen-
0031art sich auf den meisten deutschen Bühnen eingebürgert hat.
0032Ob der Grund dafür in der viel schwereren, complicirteren
0033Musik liege oder in der die czechische Herrschaft glorificiren-
0034den Dichtung? Wol in Beidem. Im Gegensatz zur „Ver-
0035kauften Braut“ klebt in „Libussa“ die Musik sklavisch am
0036Worte; die musikalische Hauptmacht concentrirt sich im
0037Orchester. Nach dem Ausspruch eines Prager Kritikers ist
0038Libussa“ für die czechische Oper, was „Lohengrin“ für die deutsche.
0039Ohne Zweifel ging auch dahin Smetana’s Bestreben. „Libussa“
0040ist eine Frucht von Smetana’s allmälig überquellender
0041Neigung zur neudeutschen Musik, seiner Reisen nach Bayreuth,
0042seines Verkehrs mit dem ihn hilfreich schützenden Liszt. Auch
0043Smetana’s nachdrückliche Mahnung, „Libussa“ sei „keine
0044Repertoire-Oper, sondern ein Weihespiel für besondere na-
0045tionale Festtage“, klingt wie ein Echo aus dem „Ring“ und
0046Parsifal“. So hat sich denn Director Mahler weislich mit
0047der Ouvertüre begnügt, welche Liszt „ein glänzend heroisches
0048Vorspiel“ nennt. Schade nur, daß dieser heroische Glanz
0049sich zu einem betäubenden Lärm steigert, dem Stand zu
0050halten nur unverfälscht czechischem Patriotismus beschieden ist.


0051Auf das Libussa-Vorspiel folgte eine symphonische Dich-
0052tung Smetana’s, welche der Anschlagszettel „Vltava“ be-
0053titelt. Bereits vor zehn Jahren erlaubte ich mir bescheiden
0054darauf aufmerksam zu machen, daß man in Wien noch
0055Deutsch spricht und hier Niemand zu wissen braucht, daß
0056Vltava“ den Moldaufluß bedeutet. Zum Verständniß
0057der Tondichtung trägt die czechische Aufschrift und deutsche
0058Rathlosigkeit gewiß nicht bei. Thatsächlich vermutheten einige
0059Norddeutsche in Vltava eine czechische Amazone. „Welches
0060Feuer strömt in dieser Vltava!“ rief Einer von ihnen. Im
0061Gegentheil, lauter Wasser, belehrte man ihn. Was würde
0062man dazu sagen, wenn deutsche Theater-Directoren ein aus
0063dem Ungarischen übersetztes Stück „Die Belagerung von 
0064Bécs“ nennen wollten, anstatt „von Wien“? Nach diesem
0065kurzen Abstecher in das Gebiet der Sprachenverordnungen
0066wenden wir uns mit Vergnügen vom Titel zur Composition selbst.
0067Smetana’s „Moldau“ ist das Werk eines echten und glänzen-
0068den Talents. In erster Linie Naturschilderung, gehört sie zu jenen
0069Programm-Musiken, welche kaum einer gedruckten Gebrauchs-
0070anweisung bedürfen und nirgends über die Grenzen des
0071musikalisch Verständlichen oder Zulässigen hinausgehen. Von
0072Liszt’s Symphonischen Dichtungen angeregt und beeinflußt,
0073ist Smetana’s „Moldau“ doch viel einheitlicher gedacht und
0074natürlicher entwickelt. Ein Hauptgedanke, eine Grundstimmung,
0075beinahe eine Begleitungsfigur beherrscht die ganze Dichtung,
0076die ein originelles Talent und in der Instrumentirung einen
0077eminenten Jünger Liszt’s und Berlioz’ verräth. Auf einen
0078tiefen Ideengehalt, auf contrapunktische Kunst macht es keinen
0079Anspruch; es wirkt durch liedmäßige (nicht „unendliche“)
0080Melodien, durch klare Form und reizvollen Klang. Ohne
0081Bedenken ziehe ich die „Moldau“ dem „Libussa“-Vorspiel
0082vor, so wenig der Componist dem beistimmen wollte. In
0083der großen Oper „Libussa“ (die ich vollständig in Prag ge-
0084hört) vermißte ich die frühere Natürlichkeit Smetana’s und
0085fand ihn, seiner besten Eigenart beraubt, als Adepten des
0086spätwagnerischen Styls. Wie alle Wagner-Nachbildungen
0087machte sie mir den Eindruck des Ungesunden, Ergrübelten
0088und Ermüdenden. Ein seltsames Verhängniß, daß Smetana 
0089nicht seine echt nationale „Verkaufte Braut“, sondern gerade
0090die „Libussa“ als die einzige wahrhafte czechische National-
0091oper schätzte. Und doch ist „Libussa“, abgesehen von dem
0092nationalen Stoff, musikalisch so wagnerdeutsch als möglich.


0093Hoffentlich wird in unserem Philharmonischen Cyklus
0094Smetana’s modernerer Landsmann Dvořak nicht unver-
0095treten bleiben. Er gehört heute zu den sehr wenigen hervor-
0096ragenden Orchester-Componisten, die man nicht vermissen
0097mag und nicht ignoriren darf. Manch reizendes Werk von
0098ihm blieb hier gänzlich unbekannt, wie die Ouvertüre „Mein
0099Heim“ und andere. Von Dvořak’s vier Symphonien ist
0100meines Erinnerns jede nur einmal aufgeführt worden. (Die
0101erste vor 17 Jahren!) Das genügt nicht zum Genuß und
0102Verständniß bedeutender symphonischer Werke. „Du mußt es [2]
0103zweimal sagen.“ Eine überaus anmuthige Zwischennummer
0104und dankbare Aufgabe für die trefflichen Bläser des Philharmo-
0105nischen Orchesters wäre Dvořak’s „Serenade für Blas-
0106instrumente“. Was die neuesten Werke Dvořak’s be-
0107trifft, so hat uns Director Mahler mit rühmens-
0108werther Schnelligkeit ihre Bekanntschaft vermittelt: „Der
0109Wassermann“, „Die Mittagshexe“, „Die Waldtaube“.
0110Mit lebhaftestem Interesse haben wir sie gehört und an
0111ihren poetischen Details, ihrer Farbenpracht uns ergötzt.
0112Dennoch möchten wir ihnen kein so langes Leben prophezeien
0113wie den anderen Orchesterwerken Dvořak’s. Eine geistreiche
0114und blühende Musik ist da gewaltsam, stückweise auf die ein-
0115zelnen Scenen theils unverständlicher, theils grausiger Local-
0116sagen aufgeklebt. Ist einmal der prickelnde Reiz abgenützt,
0117den das stete Vergleichen jedes musikalischen Absatzes mit
0118dem erzählenden Capitel bietet, so gewinnt das Unbehagen
0119an der sprunghaften, zersplitternden Form die Oberhand,
0120und wir haben von dem Programmzwang nicht mehr die
0121geistige Anregung, sondern nur den Aerger. Leider wider-
0122fährt dies Dvořak’s Symphonischen Dichtungen ebenso wie
0123jenen von Richard Strauß, so hoch auch Dvořak den
0124Zarathustramann an schöpferischer Kraft und melodischem
0125Zauber überragt.


0126Begeisterten Beifall entfesselte Beethoven’s zweite Leo-
0127noren-Ouvertüre, die, gleich einem riesigen Kaleidoskop, die
0128Hauptscenen der Oper mehr theatralisch als symphonisch an-
0129einanderfügt. Director Mahler hat im Orchester die
0130scenischen Vorgänge möglichst getreu interpretirt und scharf
0131nuancirt. Mit ihren unhörbaren Pianissimos und langen
0132Kunstpausen erschien uns diese Aufführung fast allzu künstlich.
0133Es folgten zwei Clavierwerke mit Orchesterbegleitung: das
0134bekannte D-moll-Concert von Sebastian Bach und „Sym-
0135phonische Variationen“ von César Frank. Dieser belgisch-
0136französische Meister ist bei uns erst nach seinem Tode bekannt
0137geworden durch sein Oratorium „Die Seligkeiten“. Es hätte
0138ihn wenig angefochten, daß man seine acht Seligkeiten bei uns
0139auf vier reducirt und auch diese vier nicht selig gepriesen hat.
0140Frank war in seiner Gleichgiltigkeit gegen äußere Erfolge
0141ein Gegenstück zu Berlioz, der auf dem Todtenbette aus-
0142rief: „Jetzt endlich wird man meine Compositionen auf-
0143führen!“ Es ist ein Irrthum, daß Berlioz „an seiner ver-
0144späteten Anerkennung“ gestorben sei; da mußte schon ein
0145Magenkrebs oder Aehnliches dazukommen. César Frank 
0146fühlte sich aber nicht einmal gekränkt, wenn seine Werke
0147ignorirt oder schlecht aufgenommen wurden. In seiner Be-
0148dürfnißlosigkeit und weltabgewendeten Religiosität erinnerte
0149er an alte fromme Mönche. Einer seiner Schüler erzählte
0150mir eines Tages, wie Frank, der bereits seine besten Werke
0151geschrieben hatte, bei der Vertheilung der Ehrenlegionskreuze
0152wieder übergangen ward. Seine Freunde äußerten im Saale
0153laut ihre Entrüstung; Frank aber meinte, bescheiden lächelnd:
0154„Vielleicht doch später einmal!“ Die „Symphonischen Varia-
0155tionen“ sind kein groß angelegtes, hochstrebendes Werk, wie die
0156Béatitudes“, berühren uns dafür viel sympathischer. Von
0157anspruchslos ruhiger Haltung, fein und vornehm in der
0158Ausführung, athmen sie etwas von dem Geiste der
0159Beethoven’schen Claviermusik, erinnern in manchem
0160harmonischen Zug auch an Schumann. Die Clavierpartie
0161stellt nicht die hochgesteigerten Anforderungen moderner
0162Virtuosität. Gefällig und brillant, mehr im Geschmacke einer
0163früheren Epoche, vergnügt sie sich mit Passagentechnik,
0164Scalen, Trillerketten und leichten Umspielungen des vom
0165Orchester geführten Themas. Herr Karl Friedberg,
0166Professor am Frankfurter Conservatorium, uns als fein-
0167gebildeter classischer Pianist bereits vortheilhaft bekannt, hatte
0168einen glänzenden und echten Erfolg. War sein maßvoller,
0169stylgerechter Vortrag des Bach’schen Concerts etwas beein-
0170trächtigt durch die viel zu starke Besetzung der Streich-
0171instrumente, so wirkte er um so reiner in den Frank’schen
0172Variationen. Solchen Wechsel von zartestem Geflüster und
0173orgelmäßiger Kraft ermöglicht nur ein ganz vollkommenes Instru-
0174ment. Es war einer der neuen Concertflügel von Ehrbar,
0175welche auf der diesjährigen Pariser Weltausstellung so großes
0176Aufsehen gemacht haben. Damit erledigen wir verschiedene
0177Anfragen bezüglich dieses Claviers. Das „Programmbuch“
0178der Philharmonischen Concerte, welches nie vergißt und nie
0179ermüdet, den Namen Bösendorfer zu nennen, hat nämlich
0180seltsamerweise den Namen Ehrbar — verschwiegen.